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„Maikäfer flieg“

Man spürt es sofort: Im Deutschen Auswandererhaus erwartet die Besucher:innen etwas Besonderes. Die Räume des Museums sind in eine atmosphärische Dunkelheit getaucht, aber die Ausstellungsobjekte […]

ArchitekTour - Die weiße Außenfassade des Deutschen Auswandererhauses zieren Porträts
20. Juni 2022
6 min Lesezeit
Ein cremefarbener Kinderwagen aus den 1930er oder 1940er Jahren in einer Ausstellungsvitrine

Man spürt es sofort: Im Deutschen Auswandererhaus erwartet die Besucher:innen etwas Besonderes. Die Räume des Museums sind in eine atmosphärische Dunkelheit getaucht, aber die Ausstellungsobjekte perfekt inszeniert und ausgeleuchtet. Sie verharren auf ihren Plätzen, sind still, aber sehr präsent. Sie warten geduldig auf neugierige Entdecker:innen. Und wenn man sich auf ihre Geschichten einlässt, dann kann man überrascht, inspiriert, aber auch mal bis ins Mark erschüttert werden…

Das Museum als Arbeitsort…

Meine Studienzeit ist längst vorbei, doch ich muss mal wieder pauken. Und zwar für meine Führungsabnahme, damit ich bald auch selbst Führungen durch unsere Ausstellung geben kann. Als ich an einer bestimmten Stelle im Führungstext nicht weiter weiß, gibt mir ein Kollege den entscheidenden Tipp. Ich solle doch einfach eine Sache bedenken: Alle Auswander:innen werden über kurz oder lang zu Einwander:innen, ebenso wie alle Einwander:innen zwangsläufig Auswander:innen gewesen sein müssen, bevor sie irgendwo zu Einwander:innen wurden. Ich weiß noch sehr genau, dass diese Unterhaltung auf „Ellis Island“ stattfindet. Ich weiß es deshalb noch so genau, weil dies einer jener berühmten Aha-Momente war, die so nachhaltig in uns wirken können. Als mein Kollege und ich den nächsten Punkt meiner Übungstour erreichen, den „Grand Central Terminal“, bin ich schon entsprechend „schlauer“: Ich ziehe keine klare Linie mehr zwischen den Auswander:innen auf der einen und den Einwander:innen auf der anderen Seite. Stattdessen versuche ich den Migrationsprozess als einen Wandlungsprozess zu begreifen und auch begreiflich zu machen.

Hinter jedem Objekt steckt nicht nur eine Geschichte, sondern ein ganzes Leben. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Hanna Lippitz

… und als Begegnungsstätte

Noch unter dem Eindruck meiner neuesten Erkenntnis (wenn auch nun nicht mehr in Begleitung meines werten Kollegen) schreite ich wenige Tage später durch den „Salon der Biographien II“. Hier bekomme ich viele teilweise sehr persönliche Gegenstände zu sehen, die Menschen aus verschiedensten Zeitepochen und Erdwinkeln bei ihrer Einwanderung nach Deutschland mitbrachten. Jeder für sich erzählen sie verschiedene Aufbruchs- und Ankunftsgeschichten, um sich am Ende zu einer gemeinsamen Geschichte Deutschlands als Einwanderungsland zusammenzusetzen, die viele von uns so wohl noch nie gehört haben.

Mir sticht etwa die Quena ins Auge, eine Andenflöte, die ein sozialistisch engagierter Student 1984 mit einpackte, als er das militär-diktatorisch regierte Chile verließ, um in der DDR zu studieren. Heute lebt er mit seiner Familie in Deutschland und engagiert sich in einem Kulturkreis gegen Rechts sowie für Geflüchtete aus Syrien und Afghanistan. Das alles erfahre ich, während ich an der Audiostation eine Art Telefonhörer an mein Ohr halte.  

Ein Student brachte sie Anfang der 1980er Jahre in die DDR: Quena, eine Andenflöte. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Anastasia Pastuchov

Auch zu einem verwitterten handgeschriebenen Zettel in einer der vielen Vitrinen gibt es in der Audiostation einen Hörtext. Diesen Papierschnipsel, heißt es darin, bewahrte eine Spätaussiedlerfamilie über Generationen in ihrem Besitz auf, bis er seinen Weg in die Sammlung des Deutschen Auswandererhauses fand. Für die Familie war mit diesem Zettel lange Zeit die Hoffnung auf Gerechtigkeit verbunden. Doch diese hat sich nie erfüllt. Heute ist der lang gehütete Zettel bloß noch eine Erinnerung an die Willkür des Sowjetregimes, unter dem der Familienbesitz – eine Kuh und ein Ferkel – konfisziert und die Familie selbst nach Kasachstan deportiert wurde.     

In der Hoffnung auf Gerechtigkeit wanderte der handgeschriebene Zettel – eine Auflistung konfiszierter Familiengüter – von Generation zu Generation. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Anastasia Pastuchov

Meine Aufmerksamkeit erregt auch ein grauer Kinderbuggy, dessen Geschichte sich wie eine moderne, etwas verstrickte Fernsehserie anhört: Dieser Buggy war nämlich eine Zeit lang der tägliche Begleiter einer jungen und in wahrsten Sinne des Wortes internationalen Familie, die ihr Leben geografisch wie kulturell zwischen Deutschland, Irland und Malaysia aufteilt. (Sich auf den großen internationalen Flughäfen zurechtzufinden, beladen mit kleinen Kindern und Gepäck, gehört(e) hier wohl noch zu den einfacheren Aufgaben.)

„Maikäfer flieg“

Und genau hier, inmitten all dieser einzigartigen Geschichten, erlebe ich ihn. Diesen kurzen aber intensiven, leicht unheimlichen Moment. Als ich meinen Kopf etwas zur Seite drehe, sehe ich einen weiteren Kinderwagen. Diesmal ein schönes cremefarbenes Modell aus den 30er oder 40er Jahren – von so einem träumen sicher nicht wenige Eltern in den angesagten Vierteln von Bremen, Hamburg oder Berlin. Er trägt unübersehbare Spuren der Zeit, aber das ist bei seinem hohen Alter zu verzeihen. Ich lächle leise, während meine Augen das schicke Teil abtasten. Doch plötzlich sackt mein Lächeln in sich zusammen und mein Herz macht einen Sprung. Im Inneren des Kinderwagens entdecke ich einen zu einer Matratze umfunktionierten Jutesack, in dessen Zentrum ein Hakenkreuz zu sehen ist. Aus dem Hörer an meinem Ohr ertönt derweil eine Frauenstimme, die zur bekannten Wiegenlied-Melodie von „Schlaf Kindlein, schlaf“ einen mir bislang unbekannten Reim vorträgt: „Maikäfer flieg. Der Vater ist im Krieg. Die Mutter ist in Pommerland. Pommerland ist abgebrannt.“ Genau lässt sich die Geschichte dieses Kinderwagens nicht mehr rekonstruieren. Es ist anzunehmen, dass eine Mutter mit ihrem Kind in eben diesem Kinderwagen 1945 vor der Roten Armee aus dem Osten in den Westen floh. Das Schicksal der beiden: unbekannt.

So harmlos und so erschreckend zugleich: Ein Kinderwagen mit dem Symbol nationalsozialistischer Gewaltherrschaft. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Anastasia Pastuchov

Ich bin erschüttert. Anfangs glaube ich noch, dass einzig das Symbol nationalsozialistischer Gewaltherrschaft der Grund für meine Aufregung ist, dieses angstbesetzte, verbotene und verpönte Zeichen, merke jedoch schnell, dass mehr dahintersteckt. Vielleicht die aktuell nochmal sehr konkret gewordene Vorstellung von Krieg, Flucht und Vertreibung. Die Fassungslosigkeit darüber, wie wenig Menschen offenbar aus den Lektionen der Vergangenheit gelernt haben. Oder der Gedanke an Kinder, die die Traumata ihrer flüchtenden Eltern (und Großeltern) „vererbt“ bekommen haben und noch werden. Womöglich aber auch eine vage Vorahnung dessen, welche Identitätskonflikte auf diese Kinder zukommen, die außerhalb des Landes aufwachsen, in dem sie geboren wurden und dessen Staatsangehörigkeit sie besitzen.

Eine bewusste Entscheidung?

Die Gedanken jagen sich in meinem Kopf. Den Fixpunkt, um den sie kreisen, bekomme ich dennoch nicht zu fassen, bis ich im nächsten Raum – im „Forum Migration“ – zumindest auf einen Teil der Antwort stoße. In weißen Buchstaben steht sie dort an einer Wand geschrieben: „Ein Flüchtling ist jemand, der gezwungenermaßen aus seinem Land vor Verfolgung, Krieg, Gewalt oder einer Naturkatastrophe fliehen muss. Ein Flüchtling hat eine wohlbegründete Angst vor Verfolgung aufgrund seiner ethnischen Herkunft, Nationalität, politischer Meinung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.“  

Was aber ist mit Kindern, frage ich mich, die weder eine bewusste Entscheidung für oder gegen die Flucht treffen können, noch etwas mit ihrem Status als Flüchtling anzufangen wissen? Das Kind, das 1945 auf dem mit einem Hakenkreuz bedruckten Jutesack lag, während seine Mutter den cremefarbenen Kinderwagen Richtung Westen schob, hat möglicherweise erst viel später und sozusagen aus zweiter Hand über die Ereignisse jener Tage erfahren. Die physische Erfahrung der Flucht und ihre geistige sowie emotionale Verarbeitung sind bei Kindern wohl grundsätzlich oft entkoppelt. Fast könnte man sagen, dass geflüchtete Kinder diese traumatische Erfahrung zweimal machen müssen. Umso wichtiger ist es, ihnen dafür genug Kraft und Widerstandsfähigkeit mit auf den Weg zu geben.

Diese erschreckend hohe Zahl muss in diesem Jahr leider nach oben korrigiert werden: Laut UNO ist sie seit dem russischen Angriff auf die Ukraine auf über 100 Millionen Geflüchtete und Vertriebene angewachsen. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Anastasia Pastuchov

Als ich die Ausstellung schließlich verlasse, fühle ich mich noch immer ein wenig aufgewühlt. Überraschungsmomente, Aha-Erlebnisse und auch „Schockerkenntnisse“ reihen sich in meiner Rekapitulation aneinander – liefern mir viel Stoff zum Nachdenken und auch zum Schreiben. Das Deutsche Auswandererhaus hält eben das, was es verspricht: Eine inspirierende und emotionale (Zeit)Reise. 

Anastasia Pastuchov, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven

[bre_box title=“Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven“ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ title_color=“#FFFFFF“ radius=“5″]Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr zum Museum, aktuellen Ausstellungen, Tickets und Öffnungszeiten:
www.dah-bremerhaven.de
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