Barrierefrei im Deutschen Schifffahrtsmuseum
Die Mischung macht’s
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Barrierefrei im Deutschen Schifffahrtsmuseum

Museumsführung! Als Pflichtveranstaltung von einigen Schülern verabscheut, für andere Menschen ein Traum, aber nicht möglich. Gemeint sind blinde, seh- oder mobilitätseingeschränkte Personen. Das Deutsche Schifffahrtsmuseum […]

Frau blickt durch Fernglas auf den Hafen
31. Aug. 2023
7 min Lesezeit
Mann mit Telefonhörer am Ohr

Museumsführung! Als Pflichtveranstaltung von einigen Schülern verabscheut, für andere Menschen ein Traum, aber nicht möglich. Gemeint sind blinde, seh- oder mobilitätseingeschränkte Personen. Das Deutsche Schifffahrtsmuseum (DSM) ermöglicht diesen Gästen aber trotzdem eine Teilnahme. Und diese Telefon-Führung ist barrierefrei und außerdem ziemlich exklusiv.

Barrierefrei für Menschen mit Behinderung

Das Deutsche Schifffahrtsmuseum in Bremerhaven erweitert sein Vermittlungsangebot. Mit der „Führung am Telefon“ gibt es ein weiteres Angebot zum Thema Barrierefreiheit. Neben Blinden und Seheingeschränkten können so auch Menschen mit Mobilitätseinschränkung endlich an einer Führung teilnehmen. Und auch ich durfte teilnehmen und bin begeisert!

Zugang barrierefrei

Kurz vor Beginn erhalte ich per E-mail eine Telefonnummer und den Zugangscode. Ich wähle mich in den sogenannten Konferenzraum ein und befinde mich in guter Gesellschaft mit weiteren Teilnehmenden. Bernd Wecker, DSM-Vermittler, und Anette Fischer aus dem Bereich Bildung und Vermittlung, die sich heute um die Technik kümmert, begrüßen uns.

Blick auf die Bremer Kogge von 1380 im Deutschen Schifffahrtsmuseum: Foto: DSM / Thomas Joppig
Blick auf die Bremer Kogge (c) Deutsches Schifffahrtsmuseum

Barrierefrei mit bunt gemischtem Publikum

Die Teilnehmenden stellen sich kurz vor und sagen woher sie kommen. Mit dabei sind Hörer*innen aus Braunschweig, Aurich, Osnabrück, Lüneburg, Kreis Celle, Hannover, Bamberg, Hannover und Berlin, die sich auf die barrierefreie Führung freuen. Gespannt lausche ich, ob die anderen schon Erfahrung mit solch einem Format haben und was der Grund sein mag, nicht persönlich das Museum aufzusuchen.

Barrierefrei – es gibt gute Gründe dafür

Die Gründe sind für eine barrierefreie Führung zu entscheiden sind einleuchtend und vielfältig. Einige kennen solche barrierefreien Angebote aus der Corona-Lockdown-Zeit. Manchen ist die An- und Abreise zu aufwändig oder kostspielig. Oft fehlt eine Begleitperson oder ein angebotener Führungstermin passt zeitlich nicht. Aber, und daran habe ich gar nicht gedacht, für einige Menschen stellen Menschenansammlungen und Geräuschkulisse ein Problem dar. Und, das haben wir sicher alle schon einmal erlebt, ist es zu Stoßzeiten voll und man kommt nicht gut an Exponate heran. Das ist ja gerade für Seh- und Mobilitätseingeschränkte unabdingbar.

Bernd erklärt noch kurz den Ablauf. Heute ist das Thema die Bremer Kogge aus dem Jahr 1380. Er nimmt uns mit auf seinen Weg durch die Kogge-Halle. Während der einstündigen Führung werden wir Teilnehmenden von Annette „stummgeschaltet“. Das hat den Vorteil, dass wir uns zu Hause, oder wo auch immer wir der barrierefreien Führung lauschen, frei bewegen und andere nicht durch Umgebungsgeräusche stören. Es gibt zwei Pausen. In diesen sind wir wieder „zugeschaltet“ und können Bernd nach Herzenslust mit Fragen löchern. Los geht’s!

Blick auf die Bremer Kogge aus dem Jahr 1380 im Deutschen Schifffahrtsmuseum. Das Schiff ist nicht vollständig, sondern aus vielen Holzplanen zusammengesetzt und mit durch Stützen im Museumsraum wiederaufgebaut.
Bremer Kogge im Deutschen Schifffahrtsmseum (c) DSM_Nils Hollmeier

Barrierefrei im Forschungsmuseum

Bernd erklärt, dass das DSM zu den acht Forschungsmuseen der Leibniz-Gesellschaft gehört. Damit befindet sich das Museum in angesehener Gesellschaft von: Deutsches Museum München, Senckenberg-Museum Frankfurt, Dt. Bergbau-Museum Bochum, Germanisches Nationalmuseum Nürnberg, Leibniz-Institut zur Analyse des Biodiversitätswandels Hamburg, Leibniz-Zentrum für Archäologie Mainz und Museum für Naturkunde Berlin.

Anschließend erzählt Bernd, dass das Museum eng mit dem Fund der Kogge verbunden ist und beschreibt uns die Kogge-Halle. Zwar kenne ich das Museum, aber trotzdem entsteht gemäß seinen Ausführungen ein genaues Bild von der Halle vor meinem inneren Auge. Die Kogge wird 1962 bei Baggerarbeiten in Bremen entdeckt. Nachdem die Hafenbehörde den Fund nicht recht deuten konnte, wird ein Sachverständiger vom Focke Museum in Bremen hinzugezogen. Schnell steht fest, dass es sich um einen kostbaren Schatz handelt.

Zuerst untersuchen zwei Helmtaucher den Fundort. Später ist ein Tauchglockenschiff im Einsatz. In der Glocke wird der Flussboden mit Schaufeln, Stangen und Minensuchgerät für Metallfunde abgesucht.

Wieviele Menschen können in solch einer Glocke arbeiten?

fragt eine Teilnehmerin

Zwei bis drei Personen können unter der Glocke auf dem Meeresboden arbeiten, erklärt Bernd.

Bremerhaven bekommt ein neues Museum

Im Sommer 1965 werden die Fundstücke geborgen. 45 Tonnen Holz und etwa 11.000 Nägel werden von einer Fläche von 1.400 Quadratmetern gehoben und erst einmal eingeschweißt in Bremen gelagert. Klar ist, dass es für solch einen einmaligen Fund ein eigenes Museum geben muss. Da die Fundstelle in Bremen zu weit außerhalb des Zentrums und damit ungünstig für Besuchende ist, fällt die Wahl auf Bremerhaven. 1971 wird die Museumsstiftung gegründet und das Museum am 5. September 1975 eröffnet.

Barrierefreies Tastmodell vom Wrack der Bremer Kogge von 1380 im Deutschen Schifffahrtsmuseum. Foto: DSM / Thomas Joppig
Tastmodell vom Wrack der Bremer Kogge (c) Thomas Joppig_DSM

Eine kniffelige Aufgabe

Zwischenzeitlich ist auch das Alter der Kogge bekannt. Aber wie bestimmt man das überhaupt? Bernd erklärt, dass die Radiokarbonmethode dazu zu ungenau ist. Also machen sich Dendochronologen ans Werk. Sie können hartes Holz, wie beispielsweise Buche oder Eiche bestimmen. Dazu werden die Jahresringe des Funkstücks mit einem anderen Exponat verglichen, von dem das Alter bereits bekannt ist. Wichtig ist auch noch zu wissen, woher das Holz stammt. Kaum zu glauben, aber die Spezialisten stellen so fest, dass das Holz 1378 im Weserbergland geschlagen wird. Anschließend wird es nach Bremen geflößt. Dort lagert es zwei Jahre, bevor es in der Kogge verbaut wird.

Kann man die Kogge auch anfassen?

Teilnehmerfrage

Nein, die Kogge darf man nicht anfassen, erklärt Bernd. Dafür aber Tastmodelle im Museum. Eins ist die genaue Rekonstruktion des Ist-Zustand der Kogge und das andere zeigt, wie sie vollständig aussehen würde. In Bremerhaven gibt es einen Nachbar der Bremer Kogge, die „Ubena von Bremen“. Mit dieser können sogar Törns unternommen werden, weiß Bernd.

Kielschwein stammt nicht aus Kiel

Tastmodell einer Kogge im mittelalterlichen Originalzustand. Foto: DSM / Thomas Joppig
Tastmodell der Kogge (c) Thomas Joppig_DSM

Die Bremer Kogge misst 23 Meter Länge und sieben Meter Breite. Allerdings sinkt sie noch vor dem Stapellauf. Nichts Ungewöhnliches zu der Zeit, erläutert Bernd. Grund dafür können Unwetter oder ein Unglück auf der Baustelle sein. Aber wieso kommen die Wissenschaftler zu dem Entschluss, dass die Bremer Kogge nicht fertig gestellt wird? Es gibt im Kielschwein eine Aussparung für den Mast, der aber nie errichtet wird. Ein Kielschwein ist übrigens kein Tier, sondern ein im Inneren des Schiffes waagerecht liegender Verstärkungsbalken.

Wie wurde das Holz bearbeitet, damit es nicht völlig zerfällt?

Frage eines Teilnehmers

Das ist eine gute Frage, findet Bernd. Trocknet das Holz einfach an der Luft, zerfällt es. Über Jahre hinweg werden die Funkstücke mit Spezialmitteln behandelt. PEG2 verdrängt das Wasser aus dem Holz und PEG3000 ersetzt das Wasser im Inneren. So behandelt, wird das Schiff wieder aufgebaut.

Bei der Kogge werden die Planken übereinanderlappend vernagelt. Um sie wasserdicht zu bekommen, werden die Ritzen dazwischen kalfatert. Dazu wird aus Birken gewonnener Baumteer mit Moos und Tierhaaren vermischt. Eine auch heute noch gängige Methode, erklärt uns Bernd. Die Schiffe werden im Mittelalter mit einem Teeranstrich versehen. Auch das fehlt bei der Bremer Kogge und ist ein Indiz dafür, dass sie nicht fertiggestellt worden ist.

Welche Waren wurden mit der Kogge transportiert?

frage ich

„Die Koggen der Hansezeit befördern Getreide, Bier, Wein, Geweihe zur Werkzeuggriffherstellung, Gärfalken aus Island, die beim Adel begehrt sind, Schwefel für die Konservierung von Speisen und zur Schießpulverherstellung, Bacalhau (gesalzener, getrockneter Fisch) und vieles mehr“, erzählt uns Bernd.

Gefährliche Tiere reisen mit

Zum Schluss erzählt uns Bernd noch von den gefürchteten und gefährlichen Tieren an Bord. Wer jetzt an Wölfe oder Seeungeheuer denkt, befindet sich auf dem Holzweg. So klein sie sind, so gefährlich sind sie aber. Es handelt sich um Ratten. Sie sind die Krankheitsüberträger für die Pest. Der kleine Kornkäfer kann die gesamte Fracht zu nichte machen. Und Muscheln, die sich am Schiffsrumpf ansiedeln, verringern die Manövriermöglichkeit.

Präparierte Ratte in der Kogge-Halle des Deutschen Schifffahrtsmuseums Foto: DSM / Thomas Joppig
Klein, aber eine Gefahr an Bord (c) Thomas Joppig_DSM

Spannend und barrierefrei

Erstaunt blicke ich auf die Uhr. Die Führung neigt sich dem Ende entgegen und verging wie im Flug. Zu guter Letzt berichtet Bernd uns noch, dass die Kogge wahrscheinlich die älteste Toilette der Welt besaß. Sie befand sich auf dem Achterdeck und war ein Plumpsklo unter freiem Himmel. Diese Toilette dürfen aber nur der Kapitän und der Steuermann benutzen. Und die anderen, frage ich mich? Die müssen sich über die Reeling hocken, um ihre Notdurft zu verrichten. Eine kuriose Vorstellung für uns Teilnehmenden.

Barrierefrei – bitte mehr davon!

Wir sind begeistert! Durch Bernds anschaulichen Beschreibungen und ausführlichen Erklärungen hatten wir das Gefühl alles vor uns „zu sehen“ bzw. vor Ort im Deutschen Schifffahrtsmuseum zu sein. Klar ist, dass wir alle bei der nächsten barrierefreien Telefon-Führung wieder mit dabei sein wollen. Und wer weiß, vielleicht kommen die anderen Teilnehmenden ja doch einmal nach Bremerhaven ins Museum. Neben den Tastmodellen der Kogge ist auch ein taktiles Leitsystem vorhanden, das auch flexibel an Sonderausstellungen angepasst werden kann. Ein Besuch lohnt sich!

Die nächste Telefonführung „Lauschflut“ widmet sich dem Walfänger „Rau IX“ und findet am 28. September 2023 um 18 Uhr statt. Die Teilnahme ist auf 15 Personen begrenzt. Anmeldungen sind bis zum 27.09.23 um 13 Uhr unter Tel. 0471 48207844 oder besucherservicedsm.museum möglich.

Frau blickt durch Fernglas auf den Hafen
Tanja Albert

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