Blind: Orientierungslos und abhängig – eine Horrorvorstellung! Aber genau in eine solche Situation habe ich mich freiwillig begeben. Jährlich findet bundesweit am zweiten Donnerstag im Oktober der „Welttag des Sehens“ statt. Oliver Simon ist Rehabilitationslehrer für blinde und seheingeschränkte Menschen. Gemeinsam mit dem Klimahaus Bremerhaven lädt er im Rahmen der „Woche des Sehens“ ein. Sehende Menschen können sich für die Dauer einer Führung in die Welt der blinden Menschen begeben. Ich darf mit dabei sein und erzähle Euch, wie es mir, plötzlich blind, ergangen ist.
Er weiß, wo es langgeht
Hoch aufgewachsen empfängt uns Oliver am Eingang zum Klimahaus. Wie ich ihn wohl gefunden hätte, wenn ich tatsächlich blind wäre, frage ich mich. Aber darüber kann ich mir später Gedanken machen. Jetzt bekommen zehn Teilnehmer und ich erst einmal eine kurze Einführung. Gemäß den derzeitigen Hygienevorschriften tragen wir sowieso schon alle einen Mund-Nasen-Schutz. Nun kommt noch eine schwarze Brille hinzu. Sie lässt nicht den kleinsten Lichtstrahl durch und uns „blind“ werden. Ergänzend erhalten wir einen Langstock. Das ist ein langer Stock mit einer Handschlaufe an der einen Seite und einer rollenden Kugel auf der anderen. Der Stock wird über den Weg vor einem von links nach rechts geführt, um Hindernisse zu erspüren.
Blind, aber selbstbestimmt
Wir teilen uns in Zweiergruppen auf. Holger Bockholt, Pressesprecher des Klimahaus, stattet uns noch mit Einweghandschuhen aus. Voll vermummt begeben wir uns in die Ausstellung. Wer sich vorstellt, dass das Führen eines Blinden einfach ist, wird schnell eines Besseren belehrt. Ich reiche meinem „Blinden“, Andreas, meinen Arm. Das ist wichtig, denn der Blinde bestimmt selbst, wann er geführt werden möchte und wann nicht. Nichts ist unhöflicher, als wenn ein Sehender übergriffig wird und den Blinden dorthin manövriert, wohin er will und nicht der Blinde. Ich möchte ja auch nicht von irgendjemand am Arm gepackt und beispielsweise über die Straße gezerrt werden.
Meine Augen sind Deine Augen
Andreas nimmt meinem Arm und schwenkt mit der rechten Hand seinen Langstock immer von links nach rechts über den Boden vor sich her. Aber auch das will gelernt sein, denn er bewegt den Stock am Anfang weit nach links, so dass ich aufpassen muss, nicht darauf zu treten. Meine Augen sind überall. Ich schaue den einzuschlagenden Weg voraus, blicke aber gleichzeitig auch nach links und rechts und natürlich auch nach oben. Denn ich muss nicht nur auf Stufen, Erhöhungen oder Gefälle achten, sondern auch darauf, ob irgendetwas in unseren Weg ragt.
Wo bist Du?
Wenn wir vor einem Exponat stehen bleiben, das es zu ertasten gilt, vermeide ich, seine Hand zu nehmen und einfach darauf zu legen. Stattdessen versuche ich zu erklären, wo es sich befindet, wie beispielsweise 30 Zentimeter vor ihm in Brusthöhe. Aber wir haben offensichtlich verschiedene Maßeinheiten im Kopf. Denn Andreas muss immer etwas in der Luft herumtasten, bevor er das Objekt berührt.
Hürden, die ich vorher nicht wahrgenommen habe
Es gilt, die nächste Hürde zu erklimmen. Eine Treppe. Etwas, dem ich im Alltag kaum Bedeutung schenke, ist heute eine Herausforderung. Ich führe Andreas vorsichtig heran und erkläre, dass wir vor einer Treppe stehen. Dabei vergesse ich erst einmal zu sagen, ob sie nach oben oder unten führt. Wie gedankenlos von mir! Er reicht mir seinen Langstock und nimmt stattdessen meinen ihm angebotenen Arm. Auf der anderen Seite greift er das Treppengeländer. Los geht’s! Ich bin erstaunt, wie sehr er mir offensichtlich vertraut, denn er erklimmt die Treppe ziemlich zügig. Doch da lauert schon der nächste Fauxpas. Oben angekommen weise ich ihn nicht darauf hin, dass die letzte Stufe erreicht ist. Daher muss Andreas noch eine Stufe vermuten. Aber zum Glück passiert ihm nichts. Ich präge mir von nun an ein, den Anfang und das Ende der Treppe anzusagen.
Wir stehen vor dem ersten Exponat, der hinteren Hälfte einer Kunststoff-Kuh. Andreas tastet drauflos. Gar nicht so einfach. Er weiß ja überhaupt nicht, was ihn erwartet. Daher hat er auch keine Vorstellung, ob es sich um ein kleines oder ein großes Objekt handelt. Reicht es bis zum Boden und wo befindet sich das obere Ende? Wenn all das unbekannt ist, ist es schwer zu ertasten, um was es sich dabei handeln könnte. Der erste Versuch misslingt, aber beim zweiten liegt Andreas richtig.
Bekanntes wird zum Unbekannten
Ein weiteres Exponat bleibt ungeklärt. Kein Wunder, denn es handelt sich um eine zigfach vergrößerte Heuschrecke. Wer soll darauf auch kommen. Bei der nächsten Station bin ich allerdings baff. Andreas ertastet Lüftungsschlitze einer Kofferraumhaube. Seine Hand gleitet herunter zum Scheinwerfer und prompt sagt er: „Fiat, das ist ein Fiat 500.“ Toll! Wenn ich es hätte ertasten müssen, hätte ich sicher nach einiger Zeit erkannt, dass es sich um ein Auto handelt. Es wäre mir aber wohl nicht gelungen, nur anhand der Lüftungsschlitze und den Scheinwerfers den Autotyp zu erkennen.
Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser
Wir wechseln. Von nun an führt Andreas mich und ich begebe mich in die Rolle der Blinden. Mir ist etwas mulmig als ich die Brille aufsetze. Ich bin mir nicht sicher, ob ich in Panik gerate. Aber alles geht gut. Ich bin erstaunt, dass ich mich nicht panisch an Andreas Arm klammere. Es genügt mir, ihn ganz sacht anzufassen. Der Langstock in meiner anderen Hand gibt mir Sicherheit. Obwohl ich sofort jede Orientierung verliere, vermittelt er mir das Ausmaß des Weges oder der Begrenzungen. Das ist wirklich sehr hilfreich. Ich glaube, wenn ich auf einer freien Fläche stehen würde, auf der es keine Begrenzungen gäbe, würde ich mich schlagartig total hilflos und ausgeliefert fühlen. Nicht aber hier. Denn hier stoße ich ständig an seitliche Begrenzungen und registriere wechselnde Untergründe.
Wo bin ich?
Ich war schon öfter im Klimahaus 8° Ost. Trotzdem weiß ich jetzt meist nicht, in welchem Ausstellungsraum ich mich gerade befinde. Die Antarktis zu erraten ist allerdings leicht. Hier ist es angenehm kühl. Als ich die Eiswände berühre, besteht kein Zweifel mehr. Wir erreichen Kamerun. Ich weiß, dass es hier eine wackelige Hängebrücke gibt und Steine im Wasser, über die man den Weg zurück findet. Aber darüber werden sie uns doch nicht führen, denke ich, oder? Doch, genau dahin führt unsere Route.
Blindes Vertrauen
Schon als Sehende war die schmale Hängebrücke eine kleine Herausforderung für mich. Sie wackelt und die Führseile links und rechts liegen ziemlich weit auseinander. Aber es nützt nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes verlasse ich mich blind auf Andreas. Er geht rückwärts vor mir und gibt mir Anweisungen. „Achtung, vor Dir führt die schmale Planke jetzt etwas aufwärts. Gut so! Jetzt kannst Du links und rechts nach den Seilen greifen. Prima! Du musst die Füße eng und direkt voreinander setzen. Die Planke unter Deinen Füßen ist nur schmal. Gut, weiter so!“ Mit diesen Anweisungen lotst er mich sicher über die Brücke. Ich bin erstaunt, wie entspannt ich ihm folge, ohne in Panik zu geraten.
Ohne Geduld geht es nicht
Der Rückweg führt über eine Wasserfläche. In der liegen mit einigem Abstand Steine, über die man zum anderen Ufer gelangt. Etwas ungestühm will ich schon lospreschen, bevor ich Andreas Anweisungen zu Ende gehört habe. Und patsch! Schon tippe ich mit dem Fuß ins Wasser. Das ist mir eine Lehre. Schwerist es für mich, bis zum Ende zuhören zu müssen, denn ich bin ein ungeduldiger Mensch. Aber die Geduld macht sich bezahlt. Sicher und trockenen Fußes erreiche ich das andere Ufer. Geschafft! Wir dürfen die Brillen abnehmen und uns umschauen. Alle sind irgendwie stolz, es geschafft zu haben und gleichzeit froh, wieder sehen zu können.
Blind macht sensibel
In der abschließenden Feedback-Runde wird schnell klar, dass bei allen das Erlebte noch nachwirkt. Es wird deutlich, wie schnell wir uns hilflos fühlen, sobald einer unserer Sinne ausfällt. Gleichzeitig schärfen sich die anderen Sinne. Das stellt aber oft die nächste Herausforderung dar. Denn als ich „blind“ war, hat sich automatisch mein Gehör extrem verschärft. Allerdings habe ich dann so viel um mich herum wahrgenommen, dass es teilweise eher eine Reizüberflutung statt einer Hilfe war. Ganz klar traten auch vermeidbare Barrieren zu Tage, die einem Sehenden nicht unbedingt auffallen. Wenn beispielsweise ein Treppengeländer erst nach der ersten Treppenstufe oder vor Ende der letzten Treppnestufe beginnt, muss sich der Blinde ohne Führung bewegen. Das macht nicht nur unsicher, sondern stellt auch noch eine vermeidbare Gefahrenstelle dar.
Mein persönlicher Dank richtet sich zum einen an Oliver. Ihm als Rehabilitationstrainer für Menschen mit Sehbehinderung ist es gelungen, uns für eine kurze Zeit in die Welt der Blinden zu entführen. Das bewirkt, dass jeder von uns nochmals dankbarer für sein Augenlicht ist und dass wir ab jetzt achtsamer durchs Leben gehen. Ich werde in Zukunft noch mehr darauf achten, dass ich beispielsweise nichts in Laufwegen stehen lasse, die eine Stolperfalle für Menschen mit Sehbehinderung darstellen. Ein herzliches Dankeschön auch dem Klimahaus 8° Ost, das sich ebenfalls „blind“ auf solch eine spannende Expedition eingelassen hat und uns die Teilnahme ermöglichte. Wer mehr zu dem Thema wissen möchte, kann hier nachlesen, wie es einem Menschen mit einer realen Sehbehinderung ergeht. Und der Satz, der uns alle sicher schon oft begleitet hat und den wir nebenbei aufgesagt haben, hat ab heute eine viel größere Bedeutung für mich: „Bis dann, man sieht sich!“
Antje
Vielen Dank für den tollen Blogbeitrag, Tanja. Ich war bei der Veranstaltung ebenfalls dabei und habe vieles genauso empfunden wie Du.
An dieser Stelle auch noch einmal ein großes Dankeschön an Holger Bockholt vom Klimahaus, und an Oliver Simon, dass Sie uns dieses unglaublich beeindruckende Erlebnis ermöglicht haben. Es war eine tolle Erfahrung.
Tanja Albert
Liebe Antje,
vielen Dank für Dein Feedback! Ich kann Dir nur zustimmen. Eine tolle Veranstaltung, die uns Sehenden hoffentlich „die Augen öffnet“.
Herzliche Grüße
Tanja