Früher war mehr Lametta? Weihnachten, Auswandern und andere Ausnahmezustände
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Früher war mehr Lametta? Weihnachten, Auswandern und andere Ausnahmezustände

Seit ich dort arbeite, habe ich oft Besucher*innen des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven nach der Ausstellung beeindruckt seufzen gehört: „Auswandern, das könnte ich nicht. Du lässt […]

Frau mit Brille lächelt in die Kamera
17. Dez. 2020
9 min Lesezeit
Schwarz-weiß Bild, eine Frau sitzt auf dem Schoß eines Mannes auf dem Sofa, rechts ein Weihnachtsbaum mit Lametta

Seit ich dort arbeite, habe ich oft Besucher*innen des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven nach der Ausstellung beeindruckt seufzen gehört: „Auswandern, das könnte ich nicht. Du lässt ja alles Vertraute hinter dir. Alles ist anders. Schrecklich.“ Jetzt, nahe am Weihnachtsfest 2020, muss ich wieder daran denken. Daran, dass das viele Gewohnte wohl nicht so gehen wird. Und dass es sehr unterschiedliche Wege gibt mit neuen Situationen umzugehen.

Weihnachten in einer anderen Welt

Ja, die Besucher*innen des Erlebnismuseums haben recht, es sind oft ungewohnte oder „merkwürdige“ Bedingungen, die den Migrierenden im neuen Land begegnen. Kleine und große persönliche Ausnahmezustände. Gerade Weihnachten, das kulturell und oft persönlich so eindrücklich ist, wie kaum ein anderes Fest in christlich geprägten Ländern, macht das deutlich: hat es sich doch tief in Kindheitserinnerungen und Sehnsuchtsbilder, Familientraditionen und Jahrespläne eingeschrieben. Umso mehr wird es zu einem sonderbaren Novum, wenn man es selbst vielleicht nie zuvor begangen hat – oder eben ganz anders.

Aus der manchmal geliebten, manchmal drohenden Routine wird eine emotionale, logistische oder kreative Herausforderung, der Menschen auf unterschiedlichste Art begegnen. Manchmal einfach, um das traditionelle Weihnachtsessen wie gewohnt zuzubereiten oder die Zimmer festlich zu schmücken. Spuren davon kann ich das ganze Jahr in der Ausstellung und der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses, in den unterschiedlichsten Biografien und durch persönliche Erinnerungsstücke, Briefe und Fotos finden. Und vielleicht ein bisschen Ideen, Trost und Hoffnung.


Das Cover der 1955er Weihnachtsausgabe der „Skaubryn News“. Jazzige Engel bringen weihnachtliche Gefühle für die auf Australien zufahrenden Auswander*innen.
© Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Meller

Kommt das Christkind an Bord?

Manche kennen – aufgrund etwa ihres Berufes – Weihnachten fern von den Lieben und der vertrauten Umgebung nur allzu gut und sind deshalb oft besser als andere drauf vorbereitet. Bei einem Blick in die Sammlung des Museums begegnet mir, in Form eines gefalteten Din-A4-Heftes, die Crew des Passagierschiffs „MS Skaubryn“, die zwischen Bremerhaven und Melbourne fuhr. Die Ausgabe der Schiffszeitung hat Lieselotte Meller, eine der Schiffs-Krankenschwestern des norwegischen Liners, aufbewahrt und dem Deutschen Auswandererhaus geschenkt. Schiffszeitungen wie diese sind auch im Museum ausgestellt. Sie dienten dazu, über wichtige Ereignisse zu informieren, die Reisenden über das Zielland aufzuklären – und eine gewisse Normalität zu ermöglichen.

Diese Sonderausgabe der „Skaubryn News“ ist charmant: Der Header ist gedruckt, der Rest mit einer Schreibmaschine geschrieben und liebevoll, wenn auch nicht unbedingt professionell, mit Hand illustriert. Tannenzapfen und Schneelandschaften auf dem Weg nach Australien. Besonders freut mich der posaunenden Engel, der für mich – auch dank der Datierung „Weihnachten 1955“ – das Flair eines ambitionierten Saxophonisten hat. Innen verspricht Kapitän Ellef Knudsen: „[D]a Weihnachten unser größtes Fest ist, ist es natürlich, dass all unsere Gedanken zu Hause bei unserer Familie und unseren Lieben weilen. Wir wollen uns daher bemühen, dieses Fest, vor allem für die Kinder, zu einem unvergesslichen Erlebnis und so schön und heimatlich wie nur möglich zu gestalten.“

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Das Deutschen Auswandererhauses zeigt auch Filme. In diesem Ausschnitt aus „Down Under“, berichten Australienauswander*innen von ihrem „merkwürdigen“ australischen Weihnachten.

Und das bei der Hitze…!

Doch angekommen sind oft schon dezemberliches Klima, Fauna und Flora andere als „daheim“. Es macht wenig Sinn im hochsommerlichen Australien nach dem schneebedeckten Glanz der Tannen zu suchen und die europäischen Neu-Eingewanderten müssen notwendig andere Formen der Festlichkeit entdecken und erdenken. So wandelten sich traditionelle Schweinebraten bald in große Familienbarbecues. Im Deutschen Auswandererhaus finde ich auch viele Geschichten von Menschen, die von Bremerhaven nach Brasilien oder Argentinien gingen. Bei über 30 Grad füllt sich der weihnachtliche Himmel über Buenos Aires mit Feuerwerk und Laternen. Und gegrilltes Fleisch, Sekt und Obstsalat füllen die Mägen nach dem Gottesdienst in dem katholisch geprägten Land. Durch die große Zahl italienischer Einwander*innen im 19. und 20. Jahrhundert (fast drei Millionen kamen zwischen 1880 und 1930) hält das traditionelle Weihnachtsmahl dann doch etwas – auch mir – Vertrautes bereit: Panettone, italienischer Früchtekuchen. Anders als eine Nordmanntanne passte diese Leckerei zu den Temperaturen des Landes.

Manchmal sind es auch Tannen und Schnee, die das Novum bedeuten: Aurellie Ballajee wird 1993 auf Mauritius geboren und zieht 2003 mit ihrer Mutter nach Nordenham. Dieses Foto des Familienweihnachtsbaums entstand 2001 oder 2002 in der Weihnachtsstube auf dem Inselstaat im Indischen Ozean.
©Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Ballajee

Zuhause geht durch den Magen – auch an Weihnachten

Gutes Essen, sofern es sich vor Ort herstellen lässt, kann schnell gegen das Heimweh helfen. Auch wenn man es manchmal ein wenig dem neuen Zuhause anpassen muss. Als ich das Foto von den Schokoladenfiguren aus der Museumssammlung sehe, bekomme ich erst einmal einen Schreck. „Warum gucken die so verrückt?“ Als 1979 Albert Kirchmayr aus Schwaben in die USA auswanderte,  nahm er diese liebgewonnene deutsche Tradition mit: den Schokoladennikolaus. Der gelernte Koch und Gründer von „Kirchmayr Chocolatier“ beglückte in Baltimore jedoch zunächst nur seine deutschstämmigen Kund*innen mit den Milschschokoladenmännchen. Den meisten anderen Kund*innen guckten die kleinen Kerle zu „zornig“. So bekam Sankt Nikolaus von ihm ein neues Gesicht und seitdem erfreute „Happy Santa“ auch viele andere adventliche Naschkatzen.

Ein Mann mit Schürze und Schnauzbart. Er fasst sich ans Kinn. Vor ihm sind viele Schokoladennikoläuse aufgereiht.
Albert Kichmayr und seine „Happy Santa“s  in der Küche seiner Chocolaterie. Die leckere Milchschokolade und das neue Design nach dem Geschmack der US-Kund*innen ließ auch skeptische Nikolaus-Neulinge in Baltimore bald schmelzen.
© Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Kirchmayr

(Fast) allein Erwachsenwerden im winterlichen New York

Leider ist nicht alles so leicht zu ersetzen: Liebe Menschen, die man gerne bei sich hätte, sind viele tausend Kilometer weit entfernt und vielleicht schlecht zu erreichen. Eine Momentaufnahme aus einer der vielen Biografien, die ich im Deutschen Auswandererhaus verfolgen kann, erinnert mich daran: Am 30. November 1923 winkte die junge Martha Hüner vom Überseedampfer aus, durch das Schneegestöber, ihrer Familie an der Bremerhavener Kaje zu. Sie will, gerade mal 17 Jahre alt, in den USA etwas Geld verdienen. Zehn Tage später geht sie alleine im ebenso eisigen New York von Bord. Im Gepäck hat sie Kostbares, das sie an zu Hause erinnern soll: Die Pferdebürste vom ehemaligen Familienhof kommt umgehend auf den Kommoden-Ehrenplatz bei der New Yorker Tante. Deren Haus füllt sich an jenem Advent mit Auswander*innen, die –  schon länger in den USA – auf Grüße, Mitbringsel und Geschichten „aus der Heimat“ hoffen. Doch für die an Heimweh leidende Martha ist es wie ein Rausch. Ihr erster Brief schafft es noch vor Silvester zu den Eltern in Geestemünde. Martha findet langsam ihren Platz in den USA. An der Bürste auf der Kommode hängt sie ihr ganzes Leben. Heute liegt diese vor mir in einer Vitrine im Deutschen Auswandererhaus.

Studioaufnahme einer jungen Frau mit Hut. Selbstbewusst lehnt sie den Arm auf einen Stuhl.
Martha Hüner am 26. November 1923, kurz vor ihrem Aufbruch: So beeindruckend die Millionenstadt zur Adventszeit war, an ihrem ersten New Yorker Weihnachten vermisste die mutige junge Frau ihre Familie sehr.
©Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Wolff

Küsse und liebe Grüße von Berlin nach Ohio

Schöner ist da Weihnachten mit ein paar mehr vertrauten, lieben Gesichtern: Glücklich sehen Erwin Hobuß und „seine“ Martha für mich aus, wie sie 1929 in Dayton/Ohio Weihnachten feiern. Dabei entstanden ein paar Festtagsfotos, die, reich beschriftet, ihren Weg in die Sammlung des Deutschen Auswandererhauses fanden und nun vor mir liegen. Nachdem der Buchhalter 1927 wegen des Verlusts seiner Arbeit aus Berlin in die USA ging, hatte er seine Verlobte lange nicht gesehen. Wenigstens ist sein Bruder Georg schon vor ihm in den Mittleren Westen gegangen und empfängt ihn herzlich. Doch seit Anfang des Jahres 1929 sind Erwin und „Martchen“ wieder vereint – und verheiratet.  Für Martha ist das Land noch neu. So steht die Verbindung über den Atlantik gleich neben den beiden. Das kleine Tannenbäumchen auf dem Beistelltisch – voller Stanniol und mit zu großen Kerzen – kam von Marthas Freundin aus Spandau nach Ohio. Auch Buch, Schürze, Schokolade, die kleinen Glückspilz-Kerzen. Das Foto geht an die In-Europa-Gebliebenen. Nicht ohne entschuldigende Erläuterung, warum und wie sich neben den deutschen Hausschuhen die amerikanische Hausmode ins Bild geschlichen hat. 

Ein junges Paar. Sie sitzt auf der Lehne, er im Sessel. Sie sehen sich an. Daneben steht eien Miniaturtanne und ein paar Postkarten.
Erwin und Martha Hobuß 1929: An ihrem ersten gemeinsamen Weihnachten in Dayton/Ohio sind viele Familienmitglieder und Freund*innen nur in Form von Geschenken und Briefen anwesend. So finden sie zumindest symbolisch einen Platz auf dem Foto neben dem jungen Paar. ©Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Hobuß

Der Weihnachtsbaum, angeblich eine Erfindung Martin Luthers, war in Nordamerika erst durch hessische Soldaten um 1781 bekannt geworden und wurde im 19. Jahrhundert nicht zuletzt durch viele deutschstämmige Migrant*innen populärer. Dieser Teil des Fotos mag auch den Berliner Freund*innen und Verwandten eher heimelig erschienen haben.

Weihnachten ist befremdlich, fast überall

Und zugleich kann es auch schön sein an seinem Weihnachtsfest Neues zu entdecken oder durch die Traditionen seiner Mitmenschen diesen etwas näher zu kommen. Wächst man mit dem deutschen Weihnachtsfest auf, sind das vielleicht die britische Papierkrone und der Mistelzweig, der russische romantische Weihnachtsfilm, das skandinavische Hefegebäck oder die fröhliche Weihnachtsbeleuchtung der USA. Für Menschen, die nach Deutschland kommen, sind es vielleicht Dinge, wie der Weihnachtsbaum in der Stube der Nachbarn, der Glühweinausflug mit den Kolleg*innen, dieser ziemlich alberne, aber auch irgendwie lustige Schwarz/Weiß- Film in Endlosschleife an Silvester bei neuen Freund*innen oder die geputzten Kinderschuhe am 6. Dezember vor den anderen Türen im Mietshaus.

Eine Gruppe von sieben Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlecht. Sie heben altmodische Sektgläser. Salih Ucar, vorne, sitzt mit angezogenem Arm, lächelt, wirkt zurückhaltend.
Ungewohnter Weihnachtsumtrunk in Sindelfingen: Bevor Salih Ucar (sitzend, rechts) 1957 sein Ingenieurstudium in Deutschland beginnt, absolviert er ein kurzes Praktikum am Bau. Bei der Familie Rothacker hat er dafür ein Zimmer gemietet. Er weiß noch nicht, dass er sich bald verlieben und – nach wenigen Jahren nach dem Studium in der Türkei – mit seiner deutschen Frau noch viele Weihnachten in Stuttgart und Tübingen verbringen wird.
© Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Ucar

Das schönste Weihnachten ist eh selbst gemacht

Zum Ankommen hilft oft das Ertesten der noch fremden, neuen Bräuche und Ideen. Egal ob neues Fest oder „nur“ ein anderes:  Bestenfalls können wir Weihnachten zu unserem ganz eigenem Fest machen, vielleicht zu einem, das besser zu uns passt, uns sogar einfacher erfreut als das bekannte oder uns über Verlorenes tröstet. Und ein Fest, das wir mit Dingen verbinden können, die uns weiterhin wichtig sind. Ob aufgehobene, gefundene oder selbst erfundene Tradition, Weihnachten am Ende selbst zu gestalten, mit seiner Geschichte und doch im Austausch mit der Welt um einen herum, ist es, was ein ganz neues Zuhause ermöglicht.

Eine ältere Dame im Karokleid mit Brille. Ihre Beine liegen auf der Couch, neben ihr steht ein Weihnachtsbaum. Sie lächelt.
Nach 20 Jahren in den USA eine reichgeschmückte Postkartenwand: Hermine Levine in New Jersey vor den lieben Grüßen von Freund*innen und Verwandten.
© Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Schmidt

Wie für Hermine Levien. Fröhlich schmunzelnd sitzt sie auf ihrer Couch in New Jersey, das Foto schießt ihr Mann Friedrich, mit dem sie 1928 zusammen ausgewandert ist. Neben ihr ein liebevoll geschmückter Tannenbaum und hinter ihr – eine Girlande? Seitdem der preußische Auswanderer Louis Prang 1875 erschwingliche Postkarten in den USA produzierte, wurde es ein Muss, den Lieben zum Fest eine Karte zu senden. Ab den 1920ern, der Zeit in der Hermine und Friedrich dort ankommen, wird es jedoch zunehmend schick, die Karte selbst zu basteln und zu gestalten, seine eigenen Bilder zu finden und zu verschenken.

Entsprechend kostbar war jede einzelne von ihnen und verdiente es sich in der Wohnung ausgestellt zu werden. Denn jede einzelne steht für ein Freund oder eine Freundin, eine Nichte oder ein Neffe, ein Bruder oder eine Schwester – und einen liebevoller Gedanke aus dem alten oder dem neuen Zuhause. Und jetzt ein Stück neues, weihnachtliches Daheim.

Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven

[bre_box title=“Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven“ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ title_color=“#FFFFFF“ radius=“5″]Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr zum Museum, aktuellen Ausstellungen und Öffnungszeiten:
www.dah-bremerhaven.de
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Frau mit Brille lächelt in die Kamera
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