Eine von 7 Millionen – Geschichte(n) erleben im Deutschen Auswandererhaus
,

Eine von 7 Millionen – Geschichte(n) erleben im Deutschen Auswandererhaus

Am 31. März bin ich in Bremerhaven angekommen und habe vorerst ein WG-Zimmer bezogen. Meine Erkundung der Stadt beginne ich am darauffolgenden Tag bei meinem […]

Außenfassade Deutsches Auswanderhaus.
14. Apr. 2022
7 min Lesezeit
Eine Frau steht vor einer Wand mit einem leuchtenden Schriftzug, mit den Fragen who were they? why did they leave?

Am 31. März bin ich in Bremerhaven angekommen und habe vorerst ein WG-Zimmer bezogen. Meine Erkundung der Stadt beginne ich am darauffolgenden Tag bei meinem neuen Arbeitgeber – dem Deutschen Auswandererhaus. Ich freue mich wie ein kleines Kind darauf, denn das Deutsche Auswandererhaus ist nicht nur ein kulturelles Highlight in Bremerhaven, sondern auch eines der bekanntesten Museen für gesamteuropäische Migrationsgeschichte.

Eine junge Frau sitzt auf einer Bank in einem geschlossenen Raum. Hinter ihr hängt eine verglaste Landkarte. Der Blick der Frau ist auf diese gerichtet.
In einer Wartehalle warteten Auswander*innen viele Stunden oder sogar Tage auf ihre Einschiffung. Im Nachbau dieser Halle im Deutschen Auswandererhaus starten Besucher*innen ihre Tour durch das Museum. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien

Der eigenen Geschichte bewusstwerden

Meine Tour durch das Deutsche Auswandererhaus starte ich wie alle Besucher*innen des Museums in der nachgebauten Wartehalle für Passagier*innen der dritten Klasse. Von den Stimmen aus den Lautsprechern werde ich schon mal mit ersten Informationen versorgt und auf den Rundgang eingestimmt. Dabei steigt nicht nur meine Vorfreude, sondern auch meine Bereitschaft, mich gedanklich und emotional auf die eigene Geschichte einzulassen. Auf jenen Teil der Selbstidentität, den man tagtäglich mit sich trägt – in den Erinnerungen ebenso wie in den Genen –, über den man aber oft vergleichsweise wenig weiß. Wie oft schon habe ich mir die Internetadressen von diversen Ahnenforschungsanbietern notiert und sie doch nie aufgerufen. Meinen Stammbaum kann ich mit ein paar Lücken gerade noch bis zu meinen Urgroßeltern rekonstruieren.

Neonlichter zu Worten geformt: Who were they? Why did they leave?
Wer waren die Auswander*innen bzw. Einwander*innen und was bewegte sie zu ihrer Flucht? Im Deutschen Auswandererhaus können Besucher*innen einzelne bewegende Schicksale kennenlernen. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien

Fragen über Fragen

Von meiner Oma, einer Russlanddeutschen, die in Saratow geboren ist, weiß ich, dass ein Teil ihrer Familie Anfang des 20. Jahrhunderts aus Russland nach Amerika ausgewandert ist. Hier in der Wartehalle des Deutschen Auswandererhauses werde ich daran erinnert und die noch immer unbeantworteten Fragen tauchen wieder in meinem Kopf auf: Wer waren diese Menschen, die zu meinem Familienstammbaum gehören, deren Gesichter ich jedoch nicht kenne? Haben sie Amerika wirklich jemals erreicht und wenn ja, was ist dort aus ihnen geworden? Haben sie womöglich sogar von hier, von Bremerhaven aus, ihre Reise nach Übersee angetreten? Möglich wäre es ja. Schließlich war Bremerhaven Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts der größte Auswanderungshafen Europas. Und der Bremer Lloyd-Generalvertreter Franz Missler hatte ab den 1870er Jahren im östlichen Europa ein beachtliches Agenturennetz aufgebaut, um bei auswanderungswilligen Osteuropäer*innen Werbung für die Schiffe der Reederei Lloyd zu machen.

Eine Menschengruppe steht an der Kaje und wartet auf die Einschiffung. Sie blicken auf eine hohe Schiffswand.
Die Zukunft der Auswander*innen ist genauso ungewiss wie die Aussicht darauf, jemals wieder in ihre Heimat zurückzukehren. An der Kaje hieß es meistens „Lebe wohl“. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien

Vor einer hohen schwarzen Schiffswand mit vielen kleinen Bullaugen stehe ich an der Kaje, dem nächsten Raum des Museums. Langsam, fast ehrfürchtig schreite ich auf die Puppen zu, die dort reglos auf ihre Einschiffung warten. Ich sehe ihre verängstigten, aber auch zögernd hoffnungsvollen Gesichter und darf einen Blick auf die dürftigen Inhalte ihrer Koffer werfen. Wenn ich meine iCard an die entsprechende Station lege, kann ich den Stimmen von Schauspieler*innen lauschen, die in verschiedenen Sprachen aus den Briefen der Auswander*innen vorlesen. Eine männliche Stimme bleibt mir besonders im Ohr, denn sie erzählt in meiner Muttersprache eine eher tragische Geschichte: „Endlich haben wir die Entscheidung getroffen, jenes Land zu verlassen, in dem ein würdiges und sicheres Leben unmöglich geworden ist.“ Ein Satz, der auch heute sicher vielen Menschen aus der Seele spricht. Doch bevor ich mich gedanklich in die aktuelle Weltpolitik vertiefen kann, betrete ich die Galerie der 7 Millionen und lande plötzlich im 18. Jahrhundert.

Eine junge Frau steht in einem Raum voller Schränke mit ausziehbaren Schubladen. Vor der jungen Frau steht ein Schild mit der Aufschrift: Galerie der sieben Millionen.
In der Galerie der 7 Millionen warten über 300 Jahre Geschichte und viele spannende Lebensgeschichten darauf, entdeckt zu werden. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien

Wie alles begann

Als Erstes fällt mir das Bild von Katharina der Großen auf, der berühmten russischen Zarin. Ihr Leben und Wirken sind nicht nur der Schulstoff, aus dem die Albträume vieler russischer Schüler*innen sind, sondern sie war auch gewissermaßen an meiner ganz persönlichen Existenz beteiligt. Im Jahr 1763 lud Katharina westeuropäische Handwerker und Bauern dazu ein, nach Russland zu kommen, um dort vor allem die Gebiete an der Wolga landwirtschaftlich zu erschließen. Viele Menschen aus deutschen Gebieten – Vorfahren der heute sowohl in Deutschland als auch in Russland lebenden Russlanddeutschen – folgten dieser Einladung und fanden im damaligen Russländischen Reich eine neue Heimat.

Hinter einer Glasvitrine ist das Bild der russischen Zarin, Katharina der Großen zu sehen.
Aus der preußischen Prinzessin Sophie Auguste Friederike von Anhalt-Zerbst, die am 2. Mai 1729 in Stettin zur Welt kam und bei ihrer Konvertierung zum russisch-orthodoxen Glauben den Namen Jekaterina Alexejewna bekam, wurde am 9. Juli 1762 die Kaiserin von Russland. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien

Heimat finden… und wieder verlieren

Meine Vorfahren sind vermutlich, wie die meisten damals, aus dem Südwesten Deutschlands nach Russland gekommen und haben sich in der Gegend um Saratow auf dem Hügelland der Wolgaplatte niedergelassen. Mit viel Fleiß hatten sie sich dort ein neues Leben aufgebaut und es sogar zu einigem Wohlstand gebracht: Aus den Erzählungen meiner Großmutter weiß ich zum Beispiel, dass meine Urgroßmutter ein eigenes Dienstmädchen hatte. Dass sie sehr behütet aufgewachsen war, inmitten einer aufstrebenden deutschen Gemeinde, in der jeden Sonntag evangelische Gottesdienste abgehalten wurden und fast ausschließlich Deutsch gesprochen wurde. Kaum verwunderlich also, dass meine Urgroßmutter zeit ihres Lebens kein Russisch sprach, obwohl sie dort geboren wurde. Meine Großmutter selbst hatte Russisch erst in der Schule gelernt. Nachdem mein Urgroßvater während des Zweiten Weltkrieges in den Gulag verschleppt und der Rest seiner Familie nach Sibirien deportiert wurde, musste sie oft als Übersetzerin für ihre gesamte Familie auftreten. Etwa dann, wenn nach und nach die teuren Kleider ihrer Mutter verkauft werden mussten, um davon Essen kaufen zu können.

Um der drohenden Hungersnot des Ersten Weltkrieges und dem totalitären Sowjetregime zu entkommen, hatten die Brüder meines Urgroßvaters bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Entschluss gefasst, Russland Richtung Amerika zu verlassen. Weil er jedoch schwer krank geworden war, musste mein Urgroßvater selbst, damals keine 20 Jahre alt, in Russland bleiben, während seine Brüder die lange beschwerliche Reise antraten. Welche Route sie damals von Saratow aus nahmen? Darüber kann ich heute nur spekulieren. Ich stelle mir jedoch vor, wie sie völlig erschöpft und abgemagert, mit abgetragenen Klamotten und spärlichem Gepäck, vielleicht hier in Bremerhaven eintrafen. Wie sie mit der Menge der anderen Auswander*innen verschmolzen, die ich im Deutschen Auswandererhaus auf den zahlreichen Zeichnungen, Postkarten und auch Fotos erkennen kann, wenn ich die Galerie der 7 Millionen weiter entlangschreite und mir einzelne Biografien anhöre oder durchlese. Mit romantischen Abenteuern hatte das kaum etwas zu tun.

Eine junge Frau steht vor einer Wand mit vielen Schubladen.
Ende des 18. Jahrhunderts gab es eine große Auswanderungswelle aus dem Westen in den Osten. Etwa hundert Jahre später lässt sich eine umgekehrte Bewegung beobachten. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien

Hoffnung bewahren

Wie um meine Gedanken zu bestätigen, tauchen in den Vitrinen am Ende der Galerie plötzlich zwei Tafeln mit Zitaten von Nestor Dmytrow, einem ukrainischen griechisch-katholischen Priester, Autor und Übersetzer, vor meinen Augen auf: „Die Menschen stiegen in Waggons, die für Schweine und galizische Emigranten geschaffen worden waren“, schrieb der 1895 in die USA emigrierte Dmytrow. „Die lange Schlange mit Emigranten (…)“, fuhr er fort, „zog die Aufmerksamkeit der faszinierten Deutschen auf sich (…). Sie beobachteten von der Straße und aus den Fenstern diese unglücklichen Opfer, die ihr Land hatten verlassen müssen.“ Meine Vorfahren hatten ihre Heimat sogar mehrmals verlassen (müssen) – zuerst Deutschland, dann Russland – fasse ich entgeistert für mich selbst zusammen. Heimat ist nichts Gegebenes oder Selbstverständliches; Heimat zu finden, erfordert manchmal sogar richtig viel Mut und vor allem Hoffnung in die Zukunft, denke ich mir, während ich zurück zu meinem Büro im historischen Seeamt laufe.

Noch viiiiel zu entdecken

Zurück an meinem Schreibtisch lasse ich das bisher Gesehene und Erlebte Revue passieren. Dabei stelle ich eine scheinbare Banalität fest: Die Welt wird – aus guten wie auch aus schlechten Gründen – immer in Bewegung bleiben. Und Migration wird wohl immer ein Motor der gesellschaftlichen Entwicklung sein. Im Deutschen Auswandererhaus werden die einzelnen Schicksale zum Leben erweckt, die oft so schnell anonym unter dem Begriff Migrant*innen zusammengefasst werden. Hier finden ferner die Stimmen jener Gehör, die auch heute noch (oft gezwungenermaßen) den Schritt zur Auswanderung wagen. Ohne diese Stimmen blieben unsere Geschichtsschreibung und das Bild unserer (globalen) Gesellschaft unvollständig.

Um 17:30 ist mein erster Arbeitstag zu Ende. Ich freue mich schon auf den nächsten sowie auf die Fortsetzung meiner Tour durch die Dauerausstellung des Deutschen Auswandererhauses, in der ich sicher noch viele weitere spannende Aus- und Einwanderungsgeschichten und vermutlich auch viel Neues über mich selbst entdecken werde.

Anastasia Pastuchov, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven

[bre_box title=“Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven“ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ title_color=“#FFFFFF“ radius=“5″]Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr zum Museum, aktuellen Ausstellungen, Tickets und Öffnungszeiten:
www.dah-bremerhaven.de
[/bre_box]

Außenfassade Deutsches Auswanderhaus.
Auswandererhaus Gastautor*in

Bremerhaven im Blick

Mehr aus und über Bremerhaven und Umzu …

A mehr
Detail: Sebastian Dannenberg, "EASY" edition in der Kunsthalle Bremerhaven (c) Cecilia Uckert

4 min Lesezeit21. März 2019

„Art from the Block“ – Dannenberg in der Kunsthalle Bremerhaven

Der Künstler: Sebastian Dannenberg. Seine Ausstellung 2019 in Bremerhaven: „EASY as far as we can see“: minimalistische, architekturbezogene Kunst.

M mehr
Ein cremefarbener Kinderwagen aus den 1930er oder 1940er Jahren in einer Ausstellungsvitrine

7 min Lesezeit20. Juni 2022

„Maikäfer flieg“

Man spürt es sofort: Im Deutschen Auswandererhaus erwartet die Besucher:innen etwas Besonderes. Die Räume des Museums sind in eine atmosphärische Dunkelheit getaucht, aber die Ausstellungsobjekte […]

M mehr
Moin in Bremerhaven

6 min Lesezeit6. Feb. 2020

„Moin“ sagt man in Bremerhaven

Moin! Ihr wollt zu uns an die Küste in den hohen Norden kommen, habt aber Sorgen wegen der Sprachbarriere, Sitten und Gebräuche? Heute bekommt Ihr einen Schnellkurs

N mehr
Titelbild Blogbeitrag "neue Normalität" im Zoo am Meer

7 min Lesezeit1. Juni 2020

„Neue Normalität“ im Zoo am Meer

Eine neue Normalität herrscht seit dem 8. Mai bei uns im Zoo. Nach über siebenwöchiger Schließung haben wir alle die Eröffnung herbeigesehnt. Ein Stück Normalität […]