Am 31. März bin ich in Bremerhaven angekommen und habe vorerst ein WG-Zimmer bezogen. Meine Erkundung der Stadt beginne ich am darauffolgenden Tag bei meinem neuen Arbeitgeber – dem Deutschen Auswandererhaus. Ich freue mich wie ein kleines Kind darauf, denn das Deutsche Auswandererhaus ist nicht nur ein kulturelles Highlight in Bremerhaven, sondern auch eines der bekanntesten Museen für gesamteuropäische Migrationsgeschichte.
Der eigenen Geschichte bewusstwerden
Meine Tour durch das Deutsche Auswandererhaus starte ich wie alle Besucher*innen des Museums in der nachgebauten Wartehalle für Passagier*innen der dritten Klasse. Von den Stimmen aus den Lautsprechern werde ich schon mal mit ersten Informationen versorgt und auf den Rundgang eingestimmt. Dabei steigt nicht nur meine Vorfreude, sondern auch meine Bereitschaft, mich gedanklich und emotional auf die eigene Geschichte einzulassen. Auf jenen Teil der Selbstidentität, den man tagtäglich mit sich trägt – in den Erinnerungen ebenso wie in den Genen –, über den man aber oft vergleichsweise wenig weiß. Wie oft schon habe ich mir die Internetadressen von diversen Ahnenforschungsanbietern notiert und sie doch nie aufgerufen. Meinen Stammbaum kann ich mit ein paar Lücken gerade noch bis zu meinen Urgroßeltern rekonstruieren.
Fragen über Fragen
Von meiner Oma, einer Russlanddeutschen, die in Saratow geboren ist, weiß ich, dass ein Teil ihrer Familie Anfang des 20. Jahrhunderts aus Russland nach Amerika ausgewandert ist. Hier in der Wartehalle des Deutschen Auswandererhauses werde ich daran erinnert und die noch immer unbeantworteten Fragen tauchen wieder in meinem Kopf auf: Wer waren diese Menschen, die zu meinem Familienstammbaum gehören, deren Gesichter ich jedoch nicht kenne? Haben sie Amerika wirklich jemals erreicht und wenn ja, was ist dort aus ihnen geworden? Haben sie womöglich sogar von hier, von Bremerhaven aus, ihre Reise nach Übersee angetreten? Möglich wäre es ja. Schließlich war Bremerhaven Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts der größte Auswanderungshafen Europas. Und der Bremer Lloyd-Generalvertreter Franz Missler hatte ab den 1870er Jahren im östlichen Europa ein beachtliches Agenturennetz aufgebaut, um bei auswanderungswilligen Osteuropäer*innen Werbung für die Schiffe der Reederei Lloyd zu machen.
Vor einer hohen schwarzen Schiffswand mit vielen kleinen Bullaugen stehe ich an der Kaje, dem nächsten Raum des Museums. Langsam, fast ehrfürchtig schreite ich auf die Puppen zu, die dort reglos auf ihre Einschiffung warten. Ich sehe ihre verängstigten, aber auch zögernd hoffnungsvollen Gesichter und darf einen Blick auf die dürftigen Inhalte ihrer Koffer werfen. Wenn ich meine iCard an die entsprechende Station lege, kann ich den Stimmen von Schauspieler*innen lauschen, die in verschiedenen Sprachen aus den Briefen der Auswander*innen vorlesen. Eine männliche Stimme bleibt mir besonders im Ohr, denn sie erzählt in meiner Muttersprache eine eher tragische Geschichte: „Endlich haben wir die Entscheidung getroffen, jenes Land zu verlassen, in dem ein würdiges und sicheres Leben unmöglich geworden ist.“ Ein Satz, der auch heute sicher vielen Menschen aus der Seele spricht. Doch bevor ich mich gedanklich in die aktuelle Weltpolitik vertiefen kann, betrete ich die Galerie der 7 Millionen und lande plötzlich im 18. Jahrhundert.
Wie alles begann
Als Erstes fällt mir das Bild von Katharina der Großen auf, der berühmten russischen Zarin. Ihr Leben und Wirken sind nicht nur der Schulstoff, aus dem die Albträume vieler russischer Schüler*innen sind, sondern sie war auch gewissermaßen an meiner ganz persönlichen Existenz beteiligt. Im Jahr 1763 lud Katharina westeuropäische Handwerker und Bauern dazu ein, nach Russland zu kommen, um dort vor allem die Gebiete an der Wolga landwirtschaftlich zu erschließen. Viele Menschen aus deutschen Gebieten – Vorfahren der heute sowohl in Deutschland als auch in Russland lebenden Russlanddeutschen – folgten dieser Einladung und fanden im damaligen Russländischen Reich eine neue Heimat.
Heimat finden… und wieder verlieren
Meine Vorfahren sind vermutlich, wie die meisten damals, aus dem Südwesten Deutschlands nach Russland gekommen und haben sich in der Gegend um Saratow auf dem Hügelland der Wolgaplatte niedergelassen. Mit viel Fleiß hatten sie sich dort ein neues Leben aufgebaut und es sogar zu einigem Wohlstand gebracht: Aus den Erzählungen meiner Großmutter weiß ich zum Beispiel, dass meine Urgroßmutter ein eigenes Dienstmädchen hatte. Dass sie sehr behütet aufgewachsen war, inmitten einer aufstrebenden deutschen Gemeinde, in der jeden Sonntag evangelische Gottesdienste abgehalten wurden und fast ausschließlich Deutsch gesprochen wurde. Kaum verwunderlich also, dass meine Urgroßmutter zeit ihres Lebens kein Russisch sprach, obwohl sie dort geboren wurde. Meine Großmutter selbst hatte Russisch erst in der Schule gelernt. Nachdem mein Urgroßvater während des Zweiten Weltkrieges in den Gulag verschleppt und der Rest seiner Familie nach Sibirien deportiert wurde, musste sie oft als Übersetzerin für ihre gesamte Familie auftreten. Etwa dann, wenn nach und nach die teuren Kleider ihrer Mutter verkauft werden mussten, um davon Essen kaufen zu können.
Um der drohenden Hungersnot des Ersten Weltkrieges und dem totalitären Sowjetregime zu entkommen, hatten die Brüder meines Urgroßvaters bereits Anfang des 20. Jahrhunderts den Entschluss gefasst, Russland Richtung Amerika zu verlassen. Weil er jedoch schwer krank geworden war, musste mein Urgroßvater selbst, damals keine 20 Jahre alt, in Russland bleiben, während seine Brüder die lange beschwerliche Reise antraten. Welche Route sie damals von Saratow aus nahmen? Darüber kann ich heute nur spekulieren. Ich stelle mir jedoch vor, wie sie völlig erschöpft und abgemagert, mit abgetragenen Klamotten und spärlichem Gepäck, vielleicht hier in Bremerhaven eintrafen. Wie sie mit der Menge der anderen Auswander*innen verschmolzen, die ich im Deutschen Auswandererhaus auf den zahlreichen Zeichnungen, Postkarten und auch Fotos erkennen kann, wenn ich die Galerie der 7 Millionen weiter entlangschreite und mir einzelne Biografien anhöre oder durchlese. Mit romantischen Abenteuern hatte das kaum etwas zu tun.
Hoffnung bewahren
Wie um meine Gedanken zu bestätigen, tauchen in den Vitrinen am Ende der Galerie plötzlich zwei Tafeln mit Zitaten von Nestor Dmytrow, einem ukrainischen griechisch-katholischen Priester, Autor und Übersetzer, vor meinen Augen auf: „Die Menschen stiegen in Waggons, die für Schweine und galizische Emigranten geschaffen worden waren“, schrieb der 1895 in die USA emigrierte Dmytrow. „Die lange Schlange mit Emigranten (…)“, fuhr er fort, „zog die Aufmerksamkeit der faszinierten Deutschen auf sich (…). Sie beobachteten von der Straße und aus den Fenstern diese unglücklichen Opfer, die ihr Land hatten verlassen müssen.“ Meine Vorfahren hatten ihre Heimat sogar mehrmals verlassen (müssen) – zuerst Deutschland, dann Russland – fasse ich entgeistert für mich selbst zusammen. Heimat ist nichts Gegebenes oder Selbstverständliches; Heimat zu finden, erfordert manchmal sogar richtig viel Mut und vor allem Hoffnung in die Zukunft, denke ich mir, während ich zurück zu meinem Büro im historischen Seeamt laufe.
Noch viiiiel zu entdecken
Zurück an meinem Schreibtisch lasse ich das bisher Gesehene und Erlebte Revue passieren. Dabei stelle ich eine scheinbare Banalität fest: Die Welt wird – aus guten wie auch aus schlechten Gründen – immer in Bewegung bleiben. Und Migration wird wohl immer ein Motor der gesellschaftlichen Entwicklung sein. Im Deutschen Auswandererhaus werden die einzelnen Schicksale zum Leben erweckt, die oft so schnell anonym unter dem Begriff Migrant*innen zusammengefasst werden. Hier finden ferner die Stimmen jener Gehör, die auch heute noch (oft gezwungenermaßen) den Schritt zur Auswanderung wagen. Ohne diese Stimmen blieben unsere Geschichtsschreibung und das Bild unserer (globalen) Gesellschaft unvollständig.
Um 17:30 ist mein erster Arbeitstag zu Ende. Ich freue mich schon auf den nächsten sowie auf die Fortsetzung meiner Tour durch die Dauerausstellung des Deutschen Auswandererhauses, in der ich sicher noch viele weitere spannende Aus- und Einwanderungsgeschichten und vermutlich auch viel Neues über mich selbst entdecken werde.
Anastasia Pastuchov, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr zum Museum, aktuellen Ausstellungen, Tickets und Öffnungszeiten:
www.dah-bremerhaven.de
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