„Zahn der Gezeiten“ – was für ein spannender Ausstellungs-Titel. Er macht mich so neugierig, dass ich unbedingt wissen will, was dahinter steckt. Eigentlich ist das Deutsche Schifffahrtsmuseum (DSM) in Bremerhaven wegen Umbauarbeiten teilweise geschlossen. Trotzdem gibt es die einmalige Gelegenheit, Forschern bei ihrer Arbeit über die Schulter zu sehen. Denn darum geht es bei „Zahn der Gezeiten“ – einer Sonderausstellung, die nur noch bis zum 15. Dezember 2018 zu sehen ist.
Als ich am DSM ankomme, wird die aktuelle Umbauphase zum ersten spannenden Teil meines Museumsbesuchs. Der Haupteingang ist geschlossen. Der Scharoun-Bau wird modernisiert. Ein Hinweisschild führt mich neben dem breiten Treppenaufgang zur Seite. Es ist ein schmaler, sonst geschlossener Nebeneingang an einer Betonwand, den ich bisher nie bemerkt habe. „Zahn der Gezeiten“ – hier geht es rein. Ich öffne die schicke Glastür, fühle mich ein bisschen wie ein VIP-Besucher und bleibe im nächsten Moment schlagartig stehen.
Überraschung beim ersten Schritt ins Schifffahrtsmuseum
Der plötzliche Blick in den mächtigen Bangert-Bau mit seinen lichtdurchfluteten bodentiefen Fenstern und der vielen Meter hohen Decke ist beindruckend. Ich kenne dieses Gebäude nur voller Ausstellungsstücke. Für den anstehenden Umbau ist es leergeräumt und wird nun für die Sonderausstellung genutzt. Klasse Idee. „Herzlich willkommen“, sagt ein freundlicher Herr im Polo-Shirt zu mir. Er steht an der Kasse, die aber eigentlich keine ist. „Pay what you want – zahle, was Du willst“ ist das besucherfreundliche Motto während der Umbauphase im DSM.
Gleich am ersten Tisch wird mir klar, worum es bei dieser Ausstellung geht. Ich kann die Arbeit an maritimen Forschungsobjekten gleich aus drei Perspektiven erleben: Mit dem Historiker-Blick, dem Restaurator-Blick und dem Blick eines Materialwissenschaftlers auf einen Forschungsgegenstand. Das Fangtagebuch des Walfangsschiffes Walter Rau IX liegt als Beispiel des Historikers vor mir. Wie spannend zu sehen, dass die Fangreise im Jahr 1937 in die Antarktis geführt hat und neben 204 Deutschen auch 185 Norweger zur Besatzung gehörten. Kein Wunder, die Norweger waren zu der Zeit Walfang-Spezialisten. Und noch spannender: Die Rau IX liegt als echtes Schiff gleich hier vor dem Gebäude. Die werde ich mir später natürlich ansehen.
Ein acht Tonnen schweres Puzzle
Der erfrischend einfach gehaltene Tisch mit verschiedenen Exponaten ist erst der Anfang. Der weitläufige Bangert-Bau ist der perfekte Raum für diese außergewöhnliche Sonderausstellung. Ich wusste überhaupt nicht, dass es in Deutschland insgesamt nur drei mechanische Gezeitenrechner zur Berechnung von Ebbe und Flut gibt. Zwei davon stehen im DSM in Bremerhaven: Einer stammt noch aus der Kaiserzeit von 1915 und der andere aus der ehemaligen DDR von 1955. Die große Glasscheibe im mächtigen weißen Metallgehäuse gibt den Blick frei auf Zahnräder, Stellschrauben, Zeiger und Messingknöpfe. Die DDR wollte unabhängig sein von westdeutschen Daten. „Ein acht Tonnen schweres Puzzle“ steht auf der großen blauen Schautafel. Dahinter erklärt sich, was damit gemeint ist.
Das DSM selber hat für diese Ausstellung viele Fotos im Archiv gefunden, die den Abbau des Gezeitenrechners in den 1990er-Jahren zeigen und war selbst überrascht. So kann ich auf Schautafeln die Mitarbeiter beim Auseinanderschrauben, Nummerieren und Verpacken dieses Metall-Kolosses sehen. Das Schifffahrtsmuseum nimmt mich mit auf die Reise in seine eigene Forschungsvergangenheit und jetzt steht diese weltweit einmalige Maschine hier direkt vor mir. Dass diese Ausstellung konzipiert wurde, ist Teil des europäischen Kulturerbejahres 2018 und mein Glück – denn es warten hier noch viele weitere Exponate mit spannenden Erklärungen auf mich.
Arbeiten in 6000 Meter Wassertiefe
Was ist das für eine riesige gelbe Kunststoff-Kugel und warum hat sie diese gewaltige Metallgreifzange am unteren Ende? „APEX“ steht auf dem Erklärungsschild und der ausgeschriebene Name ist allein schon eine Sonderausstellung wert: Aktiv Positionierbares Explorationssystem – APEX eben, ist doch klar. Gleich daneben steht der DSM-Historiker Dr. Jens Ruppenthal. Aber nicht in Person, sondern auf einer grün-weiß gehaltenen Info-Tafel. Das abgebildete Foto gibt mir ansprechendes und persönliches Bild von ihm. Herr Ruppenthal klärt mich mit seinem Text über das APEX auf. Konstruiert wurde diese erstaunliche Maschine, um in Tiefen bis zu 6000 Metern unter gewaltigem Wasserdruck zu arbeiten. Mit dem Greifarm sollten Rohstoffe wie Mangan abgebaut werden. In den 1970er-Jahren gebaut, wurde das APEX nie eingesetzt. Niedrige Rohstoffpreise und ein verändertes Seerecht sprachen dagegen.
Für die Ausstellung „Zahn der Gezeiten“ ist das APEX perfekt. Immerhin werden hier Beispiele für die fünf Grundwerkstoffe Metall, Textil, Knochen, Holz und Kunststoff gezeigt. Das APEX vereint Metall und Kunststoff auf eine einzigartige Art und Weise als maritimes Exponat und Zeitzeuge. Sehr schön und geradezu sinnlich – trotz des Forschungsgedankens – sind die einführenden Infotafeln zu den Werkstoff-Beispielen an den Exponaten. Die Tafel für Metall ist tatsächlich aus Metall. Das Schild für Holz ist aus Holz und der Kunststoff-Hinweis ist aus Kunststoff. So werden die Thematiken und Werkstoffe nicht nur nachvollziehbar, sondern auch fühlbar. Und das Exponat zum Werkstoff Knochen spricht definitiv für sich selbst. Ich muss nur ein paar Meter weitergehen und den Kopf steil in den Nacken legen.
Riesiges Walskelett hängt an der Hallendecke
Unter der Hallendecke hängt ein riesiges Pottwal-Skelett – mindestens zwölf Meter lang und mehrere Tonnen schwer. Angeschwemmt wurde der Pottwal-Bulle in den 1980er-Jahren in der Weser. Hier in Bremerhaven hat ihn der Walexperte Günther Behrmann entfleischt, auseinandergenommen und im DSM wieder zusammengesetzt und aufgehängt. Das Glück: Günther Behrmann ist selber Bremerhavener und stand sofort zur Verfügung, als ein Experte für dieses ungewöhnliche Metier gefragt war. Jeder einzelne Wirbel und Knochen musste in der richtigen Reihenfolge und an der richtigen Stelle wieder zusammengefügt werden. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Ich stehe völlig beeindruckt unter dem schwebenden Meeresgiganten.
Schiffahrtsmuseum holt Geschichte aus dem Nebel der Zeit
An der Seite steht auch hier eine Tafel, an der Beispiele für den Werkstoff gezeigt werden. Ich sehe einen Rinderknochen aus der heutigen Zeit in weißer Färbung und einen Rinderknochen in bräunlicher Färbung. Fundort: Bremen. Alter: 16. Jahrhundert bis 18 Jahrhundert. Es ist wirklich erstaunlich wie ähnlich sich die beiden Knochen sind – trotz der Jahrhunderte, die zwischen ihnen liegen. Und mir wird sehr anschaulich bewusst, mit welchen einfachen und zugleich unglaublich wichtigen Mitteln die Forscher arbeiten. Sie schaffen es damit, Dinge, Ereignisse, Siedlungen, Lebensumstände oder Geschichte aus dem undurchsichtigen Nebel der Zeit zu holen. Damit all das erhalten bleibt und seine Geschichte auch nachfolgenden Generationen erzählen kann, sind Historiker, Restauratoren und Materialwissenschaftler unverzichtbar.
Ich setze mich in eine der aufgebauten Stuhlreihen. Vor der Wand steht ein großer Monitor. Ein Kurzfilm läuft an. Das ist schon toll und allein einen Besuch der Ausstellung wert. Ich kann mir hier im DSM die Beiträge der anderen sieben Leibniz-Forschungsmuseen zum europäischen Kutlurerbejahr 2018 ansehen – bequem in Bremerhaven, unter einem Pottwalskellet und auf Forschungsreise einmal quer durch Deutschland.
Gallionsfigur mit gespaltener Persönlichkeit
Hier im DSM sind es insgesamt 13 spannende Forschungsobjekte, die ich mir zum Thema „Zahn der Gezeiten“ ansehe – von der gespaltenen Gallionsfigur über ein Fischereiboot und die Walfangharpune bis zur Arbeitskleidung eines Werftarbeiters. Am Ende kann ich sogar noch selbst versuchen, unbekannte Ausstellungsstücke in einer Vitrine einem Ereignis oder einem mir bekannten Menschen zuzuordnen. Das finde ich mehr als spannend und sehe mir die Ausstellungsstücke intensiv an: Taschenuhren, Silberbesteck, Messingknopf – sie alle erzählen ihre Geschichte. Danach wartet ein Korb mit gefalteten blauen Papierbooten. Ich nehme eins und sehe jetzt erst die weißen Kanister mit Öffnung an der Wand. Hier kann ich das Boot einwerfen und bewerten, was mir am besten gefallen hat. Ganz ehrlich: Einfach alles.
Am 15. Dezember 2018 geht die Sonderausstellung „Zahn der Gezeiten“ im Deutschen Schifffahrtsmuseum zu Ende und wird in dieser Form nie wieder zu sehen sein. Aber es gibt einen Trost: Ab April 2019 wird der beeindruckende Gezeitenrechner aus dem Jahr 1915 öffentlich auseinandergebaut und restauriert. Das findet genau hier am DSM im Bangert-Bau statt und damit weiß ich schon jetzt ganz genau, wo ich im April 2019 mit Sicherheit sein werde.
https://www.dsm.museum/kalender/der-zahn-der-gezeiten-maritime-schatze-unter-der-lupe/
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