Ich stehe in der „Alten Gießerei“, einem großen Kultur- und Ausstellungsort am südlichen Stadtrand von Espelkamp. Eine gute Autostunde von Hannover, eineinhalb von Bremen. Hier haben meine Kolleg*innen aus dem Projekt „Deine Geschichte – schreibt Einwanderungsgeschichte“ des Deutschen Auswandererhauses ihre aktuelle Wanderausstellung aufgebaut, die auch bald in Bremerhaven zu sehen ist. Vor mir fest auf einem Podest installiert: ein Zweirad mit Motor.
„Wohl dem, der eine Quickly hat!“
So wurde das graue Moped 1953 beworben. Ein gut erhaltenes, mit viel Liebe gepflegtes Knatterding, das heute vermutlich der*die eine oder andere mit einem E-Bike verwechseln könnten. Für Kurt Ende, Familienvater und Handwerker, war sie in den 1950er das erste motorisierte Fahrzeug, das er sich leisten konnte, nachdem seine Familie und er am Ende des Zweiten Weltkriegs aus den ehemaligen Gebieten des Deutschen Reiches fliehen mussten. Ein kleiner Familienschatz.

Als Kurt Ende es erwirbt, versucht die Familie grade einen gemeinsamen Neuanfang nahe dem nordrhein-westfälischen Rahden. Zwischen Nadelbäumen stand hier während des Zweiten Weltkrieges eine Munitionsfabrik, in der vor allem sowjetische Zwangarbeiter*innen eingesetzt und untergebracht wurden. Die heutige Alte Gießerei ist damals Teil davon.
Vor allem Moor, Wäldchen – und Platz
Sonst gibt es dort um 1945 vor allem Platz: Moor und Wäldchen – und einige alteingesessene Anwohner*innen, in den Nachbardörfern. Die sind nicht alle von den vielen Fremden, die hier – zunächst für den Übergang – angesiedelt werden, begeistert. Doch am Ende des Weltkriegs, dem schrecklichen Vernichtungskrieg des Deutschen Reiches der europaweit 70 Millionen Tote, Leid, Schrecken und Verfolgung bedeutete, herrscht nicht nur breite Wohnungsnot durch zerstörte Häuser. Über 12 Millionen Menschen sind wie Familie Ende aus den ehemaligen östlichen Gebieten des Deutschen Reiches in die entstehenden BRD und DDR geflohen und müssen , wie so viele, eine Frage beantworten, die in vielerlei Hinsicht – politisch, ökonomisch, ethisch – nicht so einfach ist: „Neu anfangen, nur wie?“

„Flüchtlings- und Modellstadt“
Das ist auch der Titel der Sonderausstellung in der ich grade stehe. Vollständig lautet er „Neu anfangen, nur wie? Espelkamp und andere ‚Flüchtlingsstädte‘ in den 1950er Jahren“. Espelkamp ist die Stadt, die rund um die Unterbringung der Geflohenen (mit Unterstützung von Vertreter*innen des Evangelischen Hilfswerks, der britischen Armee und des Landes Nordrhein-Westfalens) entsteht und für viele ein neues Zuhause werden wird. Heute ist es mit über 26.000 Einwohner*innen ein ganzes Stück größer als Rathen, es hat verschiedene Schulformen, diverse Kirchen, ein eigenes Freibad und ein Stadtarchiv, das viele historische Karten vom wachsenden Ort enthält. Ein paar dieser Karten hängen hier in der Ausstellung, neben Fotos von den Straßen und Menschen, damals und heute. Und Straßennahmen, die auf alte Orts- und Landschaftsnamen verweisen, die man teils heute nicht mehr so auf der Karte findet. Daneben sind auch Beispiele wie Bremen und Hannover und wie sie das Unterbringungsproblem lösten ausgestellt. Espelkamp gilt damals als „Modellstadt“.

Und natürlich finde ich hier viele originale Objekte aus den 1940er und 50ern in Vitrinen und höre und sehe Berichte der Menschen auf Video, die damals, teils sehr jung, mit ihren Familien hier ankamen. Die graue NSU Quickly etwa stand nach dem Tod des Vaters bei Kurt Endes jüngerem Sohn in der Garage. Die ältere Tochter Bettina Bradt (geb. Ende) erzählt in einem Videointerview von den Erfahrungen der Familie. Beide leben noch in der Region, sie reagiert auf den Aufruf das Deutschen Auswandererhauses und gab dem Team des Museums ein Interview über ihre Familiengeschichte.
Ein Moped und mehr in Bewegung
Die Objekte in der Ausstellung haben ganz unterschiedliche Bedeutung: Sie sind Zeugnisse von Identitäten, die sich manche erhalten, wie „Schlesisch“ oder „Ostpreußisch“, aber auch davon, wie man seine Identität wechselt ohne jemand anderes zu werden: Pässe aus zwei deutschen Staaten und Personaldokumente in mehreren Sprachen, alle sechs ein und demselben Menschen zuzuordnen, die dieser in kurzer Zeit austauschen konnte und musste. Die Objekte erzählen vom Blick zurück auf ein nicht mehr so existentes Zuhause der Kindheit und (wie die Quickly) auch vom Willen, ein neues Leben anzufangen, die Vergangenheit zu überwinden.

Auf den Fotos entstehen Stück um Stück aus schlammigen Baustellen Einfamilienhäuser, Straßen, Gärten mit nicht so alten Apfelbäumen. Kneipen eröffnen, verschwinden, Supermärkte und Seniorenheime nehmen ihren Platz ein. Im Laufe der Geschichte kommen türkische, kurdische, syrische Imbisse und Cafés im Straßenbild dazu. Auch Spätaussiedler*innen finden in Espelkamp Arbeit, gründen Betriebe. Neue Familien werden Nachbar:innen für die nun alten. Irgendwie ein bisschen die „ganz normale“ Geschichte der „alten“ Bundesrepublik. Immerhin haben ja auch beide, Republik und Stadt, grade ihren 75. Geburtstag.
„Santorini im Sudetenland“
Eines meiner Lieblingsbeispiele für die Stadtentwicklung: Erst sehe ich auf den Fotos – immer am selben geographischen Ort- ein Munitionslager, das wird eine Unterbringung für Geflohene, wird wiederum zur beliebten Kneipe „Sudetenland“ und weil der Nachbesitzer den guten Ruf erhalten will, nennt er sein Restaurant mit griechischer Küche einfach „Santorini im Sudetenland“. Bald soll das Gebäude, das nun baufällig wird, durch einen Neubau ersetzt werden.

In den Berichten wird schnell klar, warum die Entscheidung vor Ort zu bleiben für viele fiel, obwohl sie unwirtliche Gebäude wie das Munitionslager wirtlich machen mussten. Warum sich eigene Gemeinde entwickeln. Und warum wir für die Bundesrepublik von 11 ähnlichen eigenen Gemeinden und deutlich mehr Stadtteilen, Siedlungen und Teilgemeinden erzählen könnten. Denn jenseits des materiellen Mangels an Gebäuden, mangelt es an vielen bestehenden Orten auch an dem, was sich für einen Augenblick lang um 2015 „Willkommenskultur“ nannte.
Gleicher Pass, andere Erinnerungen
Auch wenn sie mit einem reichsdeutschen Pass ankamen, galten viele als „Fremde“ mit „komischer Sprache“ und „komischen Bräuchen“. Und fühlen sich ja auch selbst nicht zuhause. Manche ihrer neuen Nachbar:innen begegnen ihnen pragmatisch, andere sehen sie als „finanzielle Belastung“. Das Boot ist bildlich gesprochen aus der Sicht dieser Menschen voll. Viele stellen deshalb das Recht der Neu-Hinzugekommenen vor Ort zu sein, in Frage. So dauert es teils bis in die 1970er Jahre, bis diese denselben Lohn erhalten, die finanziellen Nachteile durch die Flucht ausgleichen können, kurz: Nicht mehr „die Anderen“ sind.

Es ist spannend diese Geschichten auch einmal aus einer Perspektive zu lesen und zu hören, die in vielen Dokumentationen und Ausstellungen sehr unsichtbar wird. Oft gibt es da im Rückblick ein „Wir“ der Vertriebenen und Geflohenen, wo es viele dieser Menschen zunächst gar nicht selbst erlebten, dieses Dazugehören. Doch zum Glück für die „Neuen“ gab es genug Menschen, die sie dann doch aufnehmen wollten und als Gleiche behandelten. Ein Glück das anderen gestern und heute immer wieder verwehrt blieb und bleibt.
Vergangenheit als Auftrag
Die Ausstellung fragt dabei nicht nur die direkten Zeitzeug:innen, sondern auch ihre Familienangehörigen. Wie erzählen sich Familien solche Erfahrungen? Will man so etwas eigentlich erinnern? Oder lieber vergessen? Viele dieser Familien verstehen sich heute so selbstverständlich als deutsch. Manche scheuen deswegen den Vergleich mit anderen Geflohenen, wollen ihre Vertreibung als „anders“ begreifen. Andere bewahren sich die Erinnerung an ihre Schwierigkeiten beim Ankommen.

Direkt hinter dem Moped steht ein Zitat eines Nachfahren einer anderen Familie aus Espelkamp an der Wand „Für mich ist das wichtig das weiterzuerzählen (…) , dass der Opa eben auch ein Flüchtling war und dass die auch weg mussten, weil es Krieg gab.“ Ich frage mich, in wie vielen Familien das so erzählt wird? Und in wie vielen erzählt man, wer diesen Krieg verschuldet hat, was er für schreckliche Verbrechen in seinem Schatten ermöglicht hat? Die Ausstellung verrät mir, dass es vernünftig ist auch diesen Teil der Geschichte zu erzählen, von Krieg, Verbrechen und Verfolgung von Menschen durch Deutsche und das NS-Regime. Ich hoffe sehr, dass es in den Familien ein Bewusstsein dafür gibt. Und as sie davon erzählen: Das es unsere Verantwortung ist, zu verhindern, dass es jemals wieder geschieht.
Eine gemeinsame Erfahrung
Was die Ausstellung und das Zitat an der Wand neben dem Blick auf die Mikroebene, auf die persönliche Seite und die Entstehung einer ganz konkreten Gemeinde, aber auf jeden Fall auch erlaubt, ist ein wichtiger Gedanke, den überraschend wenige Menschen in einem Land haben, das mitten in der, gar nicht so großen, Landmasse Europa liegt, die so oft durchwandert wurde und wird: Migration ist ein ziemlich normaler Teil einer deutschen Familiengeschichte. Viele die sich an dieser Ausstellung beteiligt haben, verstehen ihn.
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Espelkamp und andere ‚Flüchtlingsstädte‘ in den 1950er Jahren
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14. März bis 18. April 2024, Alte Gießerei in Espelkamp // 26. April bis zum 7. Juni 2024 im Sonder- Ausstellungsbereich der ACOMIS im Deutschen Auswandererhaus
Eintritt kostenfrei (im DAH mit regulärem Museumsticket)
Details , Uhrzeit und mehr: www.dah-bremerhaven.de
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Das Deutsche Auswandererhaus finden Sie in der
Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
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