Ich liebe Museen. Egal, in welche Stadt oder welches Land ich reise, ich schaue immer, wo ich eine nette Ausstellung besuchen kann. Normalerweise stehen Museen für Geschichte, Kunst oder Naturwissenschaft zur Auswahl, aber Bremerhaven bietet noch etwas ganz Besonderes an – das Museum für Aus- und Einwanderungsgeschichte – das Deutsche Auswandererhaus. Da ich selbst Migrationshintergrund habe und mich für die Migrationsgeschichte interessiere, war dieses Museum sofort die Nummer Eins auf meiner „Must-See“-Liste.
Nicht einfach eine Eintrittskarte
Wenn ich Museen besuche, achte ich besonders darauf, wie sie den Besucher*innen ihre Botschaft vermitteln, wie und in welchem Maße sie die Besucher*innen in ihre Themen einbeziehen und wie das Museum die Geschichten erzählt, die es in sich trägt. Das Deutsche Auswandererhaus macht das in meinen Augen wie kein anderes: Wenn ich an der Kasse eintrete, bekomme ich nicht nur eine Eintrittskarte, sondern auch eine echte historische Figur als Begleitung, die mich symbolisch an die Hand nimmt, durch das Museum führt und deren Migrationsgeschichte ich im Laufe der Führung kennenlerne. Diesmal habe ich mich mit Freida Sima Enzenberg auf eine historische Reise begeben. Wir beide kommen ursprünglich aus Osteuropa, aber wie die Ausstellung mir noch zeigt, ist das nicht die einzige Gemeinsamkeit zwischen uns.
Ein kleines Mädchen mit großen Plänen
In der Galerie der 7 Millionen wird mir von den frühen Jahren von Freida Sima erzählt, von ihrer Jugend und davon, was sie motivierte, nach Amerika auszuwandern. Freida Sima wurde in Osteuropa geboren, in einem kleinen Dorf in der heutigen Westukraine, wo viele Kulturen zusammenlebten und wo es üblich war, mehrere Sprachen zu können. Schon als kleines Mädchen brannte sie vor Wissensdurst – sie wollte lernen. Doch leider gab es in ihrer Heimat viele Hindernisse auf dem Weg dahin: von finanziellen Schwierigkeiten in der Familie bis hin zu den Sitten und Gepflogenheiten der damaligen Gesellschaft und der wenig beneidenswerten Stellung der Frauen darin. Der einzige Ausweg aus dieser Situation war für Freida Sima, wie das Mädchen selbst schon in ihrem jungen Jahren erkannte, die Auswanderung nach Amerika.
Und dann halte ich einen Moment inne. Obwohl zwischen Freida Sima und mir mehr als hundert Jahre liegen, staune ich über die Ähnlichkeiten zwischen meiner und ihrer Lebensgeschichte. Bis heute wird das Streben nach Bildung für Frauen durch die selben Faktoren erschwert: finanzielle Unzugänglichkeit von Bildung, unzureichende oder gar nicht vorhandene Bildungsplätze und dieselben längst überholten sozialen Normen. Wie für Freida Sima war auch für mich die Migration eine der wenigen Möglichkeiten, eine hochwertige und freie (Hoch)-Schulbildung zu bekommen.
Money makes the world go round…
Weder für mich, noch für sie ist bzw. war die Migration die einzige Lösung aller Probleme. Obwohl Freida Sima in Amerika ihre Schulbildung abschließen wollte, war eine der Bedingungen für die Erlaubnis, den Atlantik zu überqueren, dass sie genug Geld nicht nur für sich, sondern auch für ihre Familie in der Heimat verdienen musste. Wer das schon einmal probiert hat, weiß ganz genau, wie schwierig es sein kann, Arbeit und Studium bzw. Schule zu vereinbaren. Für Freida Sima erwies sich dies als unmöglich.
Neues Land, neues Leben, neues Ich
Als sie in Amerika ankam, musste sie zunächst einige Elemente ihrer Biografie verschweigen, wie zum Beispiel ihr Alter. Sie wusste, dass sie erst ab einem bestimmten Alter in Amerika einreisen durfte – ab 16 Jahren. Als 15-Jährige entschied sie sich, bei der Passkontrolle zu schummeln, um das erforderliche Mindestalter zu erreichen und erhöhte ihr Alter um ein Jahr. Mit der Ankunft in Amerika ändert sich so nicht nur ihr Alter, sondern auch ihr Name. Mehrmals. Manchmal geschieht dies willentlich, manchmal nicht. Bis heute sind viele Menschen bei der Migration im Ausland damit konfrontiert: Manchmal hören Mitarbeiter der Meldebehörden die Namen von Migrant*innen falsch und schreiben sie ohne nachzufragen somit auch falsch auf, oder die Migrant*innen versuchen selbst, sich in die Gesellschaft zu integrieren, indem sie ihren Namen selbst ändern, um ihn für die Ohren der Bevölkerung des Einwanderungslandes zu vereinfachen. Freida Sima zum Beispiel wurde bei ihrer Geburt von ihrer Familie Baba genannt, bei der Ankunft in die USA hört und schreibt der Einwanderungsbeamte ihren Namen als Babe auf (Kosewort für Baby). Nach einiger Zeit wechselt Freida Sima ihren Namen selbst von Babe auf einen neuen englischen Namen – Bertha (Boytee). Außerdem anglisiert sie ihren Nachnamen: sie heißt jetzt nicht mehr Enzenberg, sondern Eisenberg, weil diese Variante im Englischen leichter auszusprechen ist. Welche Auswirkungen eine (dauerhafte) Namensänderung auf die Identität einer Person hat, ist schwer zu sagen. Hiermit habe ich keine persönliche Erfahrung gemacht, da mein Name nach dem Umzug nach Deutschland die geringste Veränderung erfahren hat – nur die Betonung in meinem Nachnamen hat sich auf eine andere Silbe geändert.
Zwischen Wollen und Müssen
Im Salon der Biografien erwartet mich jedoch eine weitere interessante Parallele zwischen meiner Biografie und der von Freida Sima. Wie bereits erwähnt, war sie trotz ihrer Pläne, in den USA eine Ausbildung zu machen, gezwungen, sich in erster Linie auf die Finanzierung ihres Lebensunterhalts und ihrer Familie zu konzentrieren. So findet sie schnell Arbeit als Kindermädchen in einer jüdischen Familie. Diese Arbeit ist aber so zeitaufwändig, dass Freida Sima einfach keine Zeit mehr hat, die Abendschule zu besuchen. Als sie dann später eine andere Arbeit mit einem flexibleren Zeitplan findet, wird die Welt vom Ersten Weltkrieg erschüttert und Freida Sima hat einfach keinen Kopf mehr für die Abendschule – sie verliert den Kontakt zu ihrer Familie in Europa und widmet ihre gesamte Freizeit dem Teil der Familie, der in Amerika lebte.
Als ich nach Deutschland für mein Studium zog, musste ich nur mich selbst über Wasser halten, ich musste mich um niemanden sonst finanziell kümmern. Das war aber schon herausfordernd genug. Ich konnte es mir nicht leisten, mich voll und ganz auf mein Studium zu konzentrieren, da ich Geld zum Leben verdienen musste. Ich habe zunächst, genau wie Freida Sima, Vollzeit als Kindermädchen – bzw. Babysitterin, wie man das heute nennt – gearbeitet. Nur dank der Tatsache, dass in dieser Zeit meines Lebens aufgrund der Corona-Pandemie ein Onlinestudium möglich war und auch dank der finanziellen Unterstützung meiner Familie, gelang es mir, mein Studium nicht komplett zu unterbrechen. Und genau wie bei Freida Sima waren auch meine ersten Jahre in der Migration von einem globalen militärischen Konflikt geprägt – dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Dies brachte zusätzliche Sorgen und Beunruhigung mit sich. Zum Glück ist der Kontakt zu meiner Familie nicht abgebrochen, aber er hat sich auf Telefonate, WhatsApp und Post beschränkt.
Der Traum vom Studienabschluss
Freida Sima erreichte schließlich (für damalige Verhältnisse) beachtliche berufliche Erfolge und hatte sogar die Möglichkeit, ihren Verwandten beim Umzug nach Amerika mit dem Geld zu helfen. Sie heiratete und hatte eine große Familie. Obwohl sie selbst ihren Traum von einem Schulabschluss nie verwirklichen konnte, haben ihre Tochter und ihre Enkelin ein Hochschulstudium absolviert. Ihre Enkelin ist sogar Professorin geworden.
Als ich mich am Ende meiner Reise durch das Deutsche Auswandererhaus von Freida Sima verabschiede, brauche ich ein paar Minuten, um meine Gedanken zu ordnen – so viele Eindrücke habe ich vom Museum und seinen Geschichten mitgenommen.
Ich finde es beeindruckend, mit welcher Sorgfalt und Liebe zum Detail die Ausstellungen im Deutschen Auswandererhaus gestaltet werden. Die Geschichten von echten Menschen mit Migrationshintergrund werden mit so viel Respekt erzählt, dass auch ich, als jemand mit eigener Migrationsgeschichte, mich gesehen und ernst genommen fühle.
Dazu regen die im Museum präsentierten Geschichten, die sich gelegentlich mit den Erfahrungen der Besucher*innen überschneiden, zum Nachdenken an:
Wo bewegen wir uns als Gesellschaft?
In welchen Aspekten haben wir Fortschritte erzielt und an welchen Stellen scheinen wir immer noch in der Stagnation festzustecken?
Diese Ausstellung und das Deutsche Auswandererhaus selbst haben in mir eine solche Neugier auf die Migrationsgeschichten anderer Menschen, Gemeinden und Völker geweckt, dass ich diesen Blogbeitrag schon als Praktikantin im Deutschen Auswandererhaus schreibe. Gleich gehe ich noch mal in die Ausstellung: ich werde mir ein paar Objektgeschichten für meine Recherche anhören. Vielleicht sehen wir uns da – auf Wiedersehen!
Kseniia Kostareva, Praktikantin Deutsches Auswandererhaus
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr zum Museum, aktuellen Ausstellungen, Tickets und Öffnungszeiten:
www.dah-bremerhaven.de
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