Im Norden Bremerhavens, im Stadtteil Leherheide, gibt es einen bemerkenswerten Ort: Thieles Garten. Er ist er ein kulturgeschichtliches Kleinod. Seine Schöpfer waren die Brüder Gustav und Georg Thiele, zu denen sich 1926 Grete gesellte. Ihr Leben ist die Geschichte der Verwirklichung eines Lebenstraums in schwierigen Zeiten. Es ist von der Leidenschaft für die bildende Kunst, von starken Frauen und einem Leben jenseits bürgerlicher Konventionen gekennzeichnet. Unter dem Titel „Lebenskunst – Die Thieles in ihrer Zeit“ widmet das Historische Museum Bremerhaven Grete, Georg und Gustav Thiele eine Sonderausstellung.
Vom Kindheitstraum Kunst zum Atelier für Fotografie und Malerei
Gustav, Georg und später Grete Thiele waren in mehr als einer Beziehung besondere Menschen. Sie hinterließen uns nicht nur ihren Garten. Schon zu Lebzeiten hoben sie sich in ihrer Lebensweise von ihren Mitmenschen ab. Es begann damit, dass Gustav (1877–1969) und Georg (1886–1968) am liebsten Künstler geworden wären. Doch da die familiären Verhältnisse kein Kunststudium zuließen, lernte Gustav ab 1893 am ersten Stadttheater Bremerhaven Geige. Rund elf Jahre arbeitete er als Orchestermusiker. Er spielte in Bremerhaven und im Ausland. Und die Theaterwelt wurde Teil seines Lebens. Die Beziehung zur Bühne riss nie ab.
Sein neun Jahre jüngerer Bruder Georg macht derweil eine Ausbildung zum Fotografen. Als das Theater 1903 aus Brandschutzgründen geschlossen wurde, gründeten beide gemeinsam 1904 das Atelier der „Gebr. Thiele“ für Fotografie und Malerei. Als Fotografen wollten sie jedoch nicht arbeiten. Viel lieber wollten sie Künstler werden, Georg, der jüngere, Maler, Gustav, der ältere, Bildhauer. Mit ihrem Charme und ihrem künstlerischen Blick waren sie als Fotografen dennoch wirtschaftlich erfolgreich. Aber als sie 1911 glaubten, genug Geld für ein Kunststudium in Bremen zu haben, verpachteten sie ihr Fotoatelier und zogen nach Lesum.
1913 waren sie wieder zurück. Das Geld hatte nicht gereicht. Sie übernahmen wieder ihr Fotogeschäft. Die Kunst wurde zur Freizeitbeschäftigung, zu einer intensiven und leidenschaftlichen. Doch zunächst kam der Erste Weltkrieg. Beide mussten an die Front. Gustav kam nach Frankreich, Georg zeitweise nach Palästina. Dieser Aufenthalt prägte ihn. Die arabische Architektur, die er hier sah, und die antiken Tempel waren Vorbild für den späteren Garten.
Frühes künstlerisches Schaffen
Zuvor erlangten sie jedoch als Künstler regionale Anerkennung. 1919 stelle Georg erstmals in der Bremerhavener Kunsthalle aus. Es waren Aquarelle aus den Kriegsjahren. Die zeitgenössische Kritik bezeichnete sie als „bieder“. Lobte aber auch ihre „Innigkeit“ und der Kunstkritiker hoffte, bald mehr von diesem jungen Künstler zu sehen. 1920 galt Georg dann schon als einer von nur vier Künstler*innen aus Bremerhaven, die beachtenswert seien. 1921 traten die Brüder schließlich der lokalen Künstlervereinigung der „Gilde“ bei. Als Mitglieder nahmen sie an deren Verkaufsausstellungen in der Kunsthalle teil, die alljährlich in der Weihnachtszeit stattfanden.
Dort erhielten sie für ihre Gemälde und Skulpturen hohes Lob. Insbesondere Georg galt als ein famoser Portraitmaler, ein „Menschenmaler“, wie ein Kritiker schrieb. Seine Kund*innen kamen nicht nur aus Bremerhaven, sondern aus dem gesamten Elbe-Weser-Raum und sogar aus Bremen!
Doch Ende 1925 war Schluss mit den Ausstellungen. Der Grund war der Garten. Das Grundstück in Leherheide bot den Brüdern die Chance, ihren Traum eines künstlerischen Lebens in der Natur zu verwirklichen. Eigentlich hatten sie das Grundstück 1923 erworben, damit einer ihrer Brüder hier Landwirtschaft betreiben konnte. Als dieses Vorhaben scheiterte, investierten sie seit 1926 ihre gesamte Freizeit und ihr Einkommen in den Ausbau ihres privaten Skulpturengartens. Dabei machten sie mit einfachsten Mitteln alles selbst: vom Bau eines Wochenendhauses im arabischen Stil über die Gestaltung des Gartens mit Teichen, Springbrunnen, exotischen Pflanzen und Gehölzgruppen bis zu künstlichen Tempelruinen und Skulpturen.
Grete – Muse, Modell, Malerin
Das war der Augenblick, als Grete, geb. Itzen (1905–1990), in ihre Leben trat. Die couragierte junge Frau war gerade volljährig geworden, als sie die Brüder in ihrem Fotoatelier aufsuchte, um Fotografin zu werden. Kurz darauf arbeitete sie im Atelier mit, zog bei den Brüdern ein und stand ihnen Modell. Eine unverheiratete junge Frau in einer Wohngemeinschaft mit zwei älteren Männern. Eine Ménage-à-trois, das hatte es, soweit bekannt, in den Unterweserorten noch nicht gegeben. Es sollte eine lange, über 40-jährige glückliche Beziehung zwischen den dreien werden. Seit 1929 waren Grete und Georg „immerhin“ verheiratet.
Grete lebte und arbeitete nicht nur mit Georg und Gustav. Jung, hochgewachsen sowie mit einem drahtigen Körper wurde sie auch ihr wichtigstes Aktmodell. Die erste und die einzige war sie jedoch nicht. Bereits vor 1926 hatten junge Frauen Georg für seine von der Kunstkritik gelobten Aktgemälde Modell gestanden. Im Gespräch mit den Nachfahren der damaligen weiblichen Modelle werden sie immer als selbstbewusste und durchsetzungsstarke Frauen charakterisiert. Das verwundert nicht. Selbst im liberaleren Klima der Weimarer Republik gehörte Courage dazu, sich im spießigen Bremerhaven nackt für Gemälde malen zu lassen, die öffentlich verkauft wurden.
Die Thieles und die Reformbewegungen der 1920er Jahre
Doch die Thieles machten es ihren Mitmenschen auch leicht. Unvoreingenommen und freundlich entsprach ihr kunstorientiertes, gleichberechtigtes, respektvolles Leben zu dritt in der Natur des Gartens in vielem den freigeistigen, demokratischen Idealen der Lebensreformbewegung, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts angetreten war, die militaristischen, von Standesdünkel und Prüderie gekennzeichnete Moral der Kaiserzeit zu verändern.
Dazu zählte auch die rhythmische Gymnastik oder der Ausdruckstanz in der Natur. In Bremerhaven fand diese neue Bewegungsart viele Anhänger*innen. In den Garten der Thieles kam die Bewegung in Person der Tänzerin und olympischen Turmspringerin Wilma Dierks. Eine weitere starke Frau mit einem bemerkenswerten Lebenslauf. Über sie kamen weitere Tänzerinnen und Sportler zu den Thieles.
Ihr Lebenswerk: Thieles Garten
Und während in der Weltwirtschaftskrise die politische Polarisierung einsetzte und Deutschland im Irrsinn eines völkischen Nationalismus mit Krieg und Menschenmord aus dem Kreis der zivilisierten Weltgemeinschaft ausschied, entwickelte sich der Garten der Thieles zu einem Refugium des Friedens und des Freigeistes. Spätestens ab 1943 trafen sich hier Gleichgesinnte, die den Nationalsozialismus ablehnten, und schon vorher boten die Thieles ausgegrenzten Menschen Unterkunft.
So war es kein Wunder, dass die Thieles und ihr Garten nach 1945 bei den amerikanischen Besatzungssoldaten beliebt waren. In der moralischen und faktischen Trümmerlandschaft Bremerhavens war der Garten eine Oase der Ruhe und Entspannung und die Gemälde von Georg und Grete, die inzwischen ebenfalls malte, waren beliebte Souvenirs. Als die Thieles ihren Garten 1948, – ihr Fotostudio und ihre Wohnung waren 1944 im Bombenkrieg zerstört worden -, aus finanziellen Gründen öffentlich zugänglich machten, wurde er zudem ein Lieblingsort für viele Menschen aus Bremerhaven und umzu bis hin zum Präsidenten des Bremer Senats, Wilhelm Kaisen. 1958 schaute sogar die Oskar-Preisträgerin Olivia de Havilland bei einem Besuch Bremerhavens vorbei.
Zu diesem Zeitpunkt gab es jedoch auch Kritik. Fünf Jahre nach dem Ende des Krieges verunglimpfte ein wertkonservativer „Kreis von Kunstfreunden“ die Skulpturen der Thieles als Kitsch. Anonym schon damals, wie heute so häufig in den sozialen Medien. Mit ihrer feigen Kritik wollten sie den Ankauf des Gartens durch die Stadt verhindern. Obwohl die Thieles eine Welle der Solidarität erfuhren, hatten sie Erfolg.
Doch an die Stelle der Stadt trat ein menschenfreundlicher Mäzen. Er erwarb den Garten und stellte den Thieles noch ein weiteres, größeres, angrenzendes Grundstück zur Verfügung. An dessen Ausbau mit Teichen und dem sogenannte „Thiele Massiv“, der damals höchsten Erhebung in Leherheide, arbeiteten der 75-jährige Gustav und der 66-jährige Georg von 1957 bis 1962.
Zu dieser Zeit war der Garten beim Publikum schon aus der Mode gekommen. Die fortschreitende Motorisierung machte exotischere Ziele in der Ferne erreichbar. Und als zunächst Georg, dann Gustav verstarben, fiel der Garten in einen Dornröschenschlaf. Die Nachbarskinder spielten noch hier, in einem, in ihrem Märchenland. Andere randalierten, beschädigten die Skulpturen und die Pflanzen wuchsen ungehindert. Schließlich zog auch Grete aus. Der Kunst blieb sie treu. Sie malte, stellte aus und verkaufte ihre Bilder bis ins hohe Alter. Der seit 1971 geschlossene Garten verwilderte indes zu einem „lost place“.
Der Neuanfang
1990 erfüllte er sich wieder mit Leben. 1983 hatte die Stadt den Garten doch noch erworben. 1987 gründete sich ein Förderverein und im Mai 1990 erhielt die Öffentlichkeit wieder Zutritt. Doch damit beginnt eine neue Geschichte. Grete, diese bemerkenswerte Frau, hat die Wiedereröffnung und öffentliche Anerkennung des gemeinsamen Lebenswerkes von Gustav, Georg und ihr nicht mehr erlebt. Sie verstarb zwei Monate zuvor.
Zusammen haben Grete, Georg und Gustav mit ihrem menschenfreundlichen Leben für ihre Kunst in schwieriger Zeiten mit einfachsten Mitteln ein kulturgeschichtlich und botanisches Kleinod geschaffen, das bundesweit seinesgleichen sucht.
Zur Ausstellung bieten wir ein umfangreiches Begleitprogramm mit Führungen, Vorträgen, Stadtrundgängen und einem Konzert an. Alle Termine finden sich auf unserer Website.
Text: Dr. Kai Kähler
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