Woher weiß ich, wohin ich gehen muss, wenn ich das Ziel nicht sehen kann? Wie erhalte ich Informationen, wenn ich sie nicht lesen kann? Für eine sehende Person wie mich stellen sich solche Fragen nicht. Doch für blinde und sehbehinderte Menschen gehören diese Herausforderungen zum Alltag. Während ich mich bei der Orientierung und Wahrnehmung häufig auf meine Augen verlasse, nutzen Blinde und Sehbehinderte ihre anderen Sinne. Mit ihrem häufig sehr gut ausgeprägten Gehör und Tastsinn nehmen sie ihre Umgebung völlig anders wahr als Sehende. Darum habe ich mir die Frage gestellt: Wie erleben sehbehinderte und blinde Besucher ein Museum? Um dem nachzugehen habe ich Karin Janßen vom Blinden- und Sehbehindertenverband Niedersachsen e.V., Regionalverein Elbe-Weser, in das Deutsche Auswandererhaus eingeladen. Sie ist blind.
Laut Statistischem Bundesamt lebten im Jahr 2015 etwa 354.600 blinde und sehbehinderte Menschen in Deutschland. Dabei definiert die Rechtslage das Vorliegen einer Sehbehinderung, sobald das besser sehende Auge selbst beim Tragen von Brille oder Kontaktlinsen nicht mehr als 30 Prozent von dem wahrnimmt, was ein normal sehendes Auge erkennt. Die hochgradige Sehbehinderung tritt bei nicht mehr als fünf Prozent ein und wenn ein Mensch nicht mehr als zwei Prozent davon erkennt, was ein normal Sehender wahrnehmen kann, spricht man von Blindheit.
Orientierung
Gemeinsam mit Karin Janßen und ihrer Begleiterin, Petra Wiegratz, mache ich einen Rundgang durch die Dauerausstellung des Deutschen Auswandererhauses. Dabei nutzt sie sowohl einen Weißen Langstock als auch ihre Begleitung als Orientierungshilfe. Der Weiße Langstock, allgemein auch Blindenstock genannt, befähigt Menschen, die blind oder stark sehbehindert sind, selbstständig mobil und orientiert zu sein. Außerdem dient er als optisches Erkennungsmerkmal, das Sehenden signalisiert, Rücksicht zu nehmen. Mit Hilfe des Langstockes können Bodenbeschaffenheit, Treppen, Hindernisse oder Unebenheiten erkannt werden. So kann sich der Benutzer in seiner Umwelt zurechtfinden und sich vor Stürzen, Unfällen und Kollision mit Hindernissen schützen. Ich bin begeistert von diesem kleinen Helfer. Er lässt sich sogar zusammenklappen. „Das ist in vielen Situationen, etwa beim Busfahren, unglaublich praktisch“, erklärt mir Karin Janßen.
Schon zu Beginn unserer Tour durch das preisgekrönte Erlebnismuseum wird mir klar, dass es für Blinde und Sehbehinderte schwieriger ist, sich in einer fremden Umgebung zu orientieren als für Sehende. Deshalb wird jeder Raum, den wir betreten, zunächst ausführlich von Petra Wiegratz und mir beschrieben, so kann auch Karin Janßen sich ein Bild davon machen, wie es an der Kaje in Bremerhaven im Jahr 1888 ausgesehen hat. Die Soundkullissen, wie hier das Ächzen des Dampfschiffes, helfen dabei, sich in eine andere Zeit hineinzuversetzen. Doch ich merke schnell, dass ich meine Erklärungen anpassen muss. „Dort drüben sehen Sie ein Schiff“, hilft einem blinden Gast nur bedingt weiter. Mit Beschreibungen wie „Rechts von Ihnen befindet sich ein Schiff“, können sehbehinderte Besucher wie Karin Janßen schon wesentlich mehr anfangen.
Informationen gibt es auf die Ohren
Weiter in der „Galerie der 7 Millionen“ kann Karin Janßen dank der Hörstationen, die überall im Museum zu finden sind, einen Auswanderer auf seinem Weg in die Neue Welt begleiten und sich seine Lebensgeschichte anhören. Auch historische Hintergründe und viele weitere spannende Informationen gibt es problemlos auf die Ohren. Aber mir werden auch Probleme bewusst, auf die ich als Sehende von alleine nie gestoßen wäre.
Als wir die verschiedenen Unterkünfte der Passagiere der Dritten Klasse erkunden, fragt mich Karin Janßen beispielsweise, ob Gegenstände im Weg hängen. Denn herunterhängende Hindernisse sind ein großes Problem für blinde und sehbehinderte Personen, da sie diese nicht mit ihrem Blindenstock wahrnehmen können. „Ich bin glücklicherweise sehr klein, sodass ich mir selten den Kopf stoße“, erzählt Karin Janßen schmunzelnd. Aber auch hochgewachsene Gäste müssen im Deutschen Auswandererhaus keine Angst um ihre Köpfe haben: Es baumeln keine Gegenstände im Weg herum. Dank breiter Gänge können sich nicht nur Blinde und Sehbehinderte gut in der Ausstellung des Deutschen Auswandererhaus bewegen. Drei Aufzüge ermöglichen außerdem einen stufenlosen Zugang. So muss kein Gast, der dies nicht möchte (oder kann), eine Treppe steigen. Auch Karin Janßen findet: „Es gibt nirgendwo Stolperfallen oder Gegenstände, die in den Weg ragen. Ich fühle mich hier sehr sicher.“
Mit den Händen erkunden
Im Erweiterungsbau, in dem 330 Jahre Einwanderungsgeschichte nach Deutschland gezeigt werden, ist eine Ladenpassage im Stil der 1970er Jahre nachgebaut. Hier ergeht es Karin Janßen wie vielen Besuchern, die diese Zeit miterlebt haben. Nostalgie kommt auf und häufig fallen Sätze wie: „Ach, das kenne ich auch noch!“. Auch Karin Janßen erkennt viele Details wieder: das Münztelefon, den Kaugummiautomaten oder die Schnurtelefone. „Mit dem gleichen Modell habe ich schon gearbeitet“, bemerkt Karin Janßen und fährt mit den Fingern die Wählscheibe entlang. Dank originalgetreuer Rekonstruktionen und zeitgenössischer Ausstellungsstücke, die sie mit den Händen erkunden kann, ist die Ausstellung für blinde und sehbehinderte Gäste taktil zugänglich.
Barrierefreiheit zertifiziert
Dass das Deutsche Auswandererhaus für Besucher mit Behinderung viel zu bieten hat, zeigt auch die Auszeichnung durch „Reisen für Alle“. Das bundesweite Kennzeichnungssystem hat das Erlebnismuseum als „barrierefrei“ für Gäste mit Gehbehinderung zertifiziert. Das bedeutet, dass das Deutsche Auswandererhaus dem umfangreichen Kriterienkatalog, der gemeinsam mit Betroffenenverbänden erarbeitet wurde, vollständig entspricht. Außerdem erhielt das Deutsche Auswandererhaus die Zertifizierungsstufe „teilweise barrierefrei“ für Rollstuhlfahrer.
Von Justine Prüne
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