Die Poesie war immer bei mir, wenn ich nicht wusste, wo ich stehe – wie eine gute Freundin. Als ich Anfang des Jahres nach Bremerhaven zog und mich das erste Mal im Deutschen Auswandererhaus umschaute, begegnete sie mir in zwei New Yorker Frauengestalten: Gefährtinnen und Beschützerinnen der Migranten, die zwischen den Grenzen von altem und neuem Leben stehen.
Als ich im Deutschen Auswandererhaus „von Bord“ gehe, die Rekonstruktionen der originalen Auswandererschiffe hinter mir lasse, komme ich in der Ausstellung an einen lichten Ort voller Koffer. Es wird frühes Filmmaterial von Menschen gezeigt, die grade mit ihrem Schiff in den USA ankommen. Im Hintergrund dieser bewegenden Momente immer wieder ein vertrautes Panorama, dass ich schon aus hundert anderen Filmen kenne: New York City.
Eine Statue, zwei Migrations-Geschichten
Wo in Bremerhaven etwas endete, hier fängt es neu und anders an. Es ist dieser sich wandelnde und doch unverwechselbare Anblick, den alle Einreisenden als Moment teilen. Schon auf Ellis Island – der berühmten Einwanderungsstation, die im Deutschen Auswandererhaus genau wie die Schiffe detailgetreu rekonstruiert wurde – werden ihre Geschichten wieder sehr unterschiedlich verlaufen. Doch bevor ich dem aufgeregten Herzschlag dorthin folge, bleibt mein Blick im Gang auf der Geschichte zweier Frauen und dieses Panoramas hängen. Eine Geschichte von den Spannungen zwischen Staat und Migration, von Menschlichkeit, vom Zu-Wort-Kommen und von Poesie.
Liberté in Paris, Liberty in New York
Die eine der beiden Frauen war und ist eine ziemlich große, ja kolossale Frau: 46,05 Meter ist sie selbst hoch und wenn sie steht, wo sie meistens steht, ist ihr höchster Punkt auf 92,99 Metern über dem Erdboden. Ihr französischer Vater, Frédéric-Auguste Bartholdi, nannte sie bei ihrer Geburt in den 1870er Jahren in Paris „La Liberté éclairant le monde“ („Die Freiheit erleuchtet die Welt“). Ein sperriger Name für die angelsächsische Zunge. Als sie in die New Yorker Bucht zog, passten daher die örtlichen Behörden – wie bei so vielen anderen Migrantinnen auch – ihren Namen kurzerhand an: „Liberty enlightens the World“. Die meisten rufen sie aber heute schlicht „Statue of Liberty“ oder in den Bremerhavener Breitengraden „Freiheitsstatue“. Eines Tages wird sie der Star des New Yorker Panoramas sein, doch bis dahin ist es ein weiter Weg.
Die typischen Sorgen der Einwanderung – auch für Statuen
Nicht nur den neuen Namen teilte sie mit vielen anderen Migrantinnen, sondern auch, dass die USA ihr mit einer gewissen, in diesen Jahren wachsenden Skepsis entgegentrat. Im späten 19. Jahrhundert ist das Land bis weit in den Westen erschlossen und die Wirtschaft stagniert in der Gründerzeitkrise. Die Sorge kommt auf, dass neue Mitbürger*innen Alteingesessenen Arbeitsplätze, etwa in der Industrie, streitig machen könnten. Die Tests auf Ellis Island werden stetig strenger. Wer ihn beispielsweise 1907 – wie in einem der interaktiven Teile der Ausstellung des Deutschen Auswandererhauses – besteht, kann ein paar Jahre später schon nicht mehr notwendig darauf hoffen, einreisen zu dürfen.
„Liberté“ soll ein Geschenk Frankreichs an die USA zu deren 100-Jähriger Unabhängigkeit 1876 sein. Also eigentlich etwas Erfreuliches. Doch viele sehen in ihr ein Symbol der alten, imperialen Welt, mit der man sich nicht gemein machen möchte und auch ihr neoklassizistisches Design, das an die europäische Antike und den Koloss von Rhodos erinnern soll, entspricht nicht dem hiesigen Geschmack. Zudem kostet sie Geld, viel Geld. Denn Frankreich schenkt die Figur, nicht aber den Sockel. So bleibt sie eine ganze Weile wohnungslos und kann nicht nach New York einreisen. Der Test auf Ellis Island fragt mich später „Sind sie eingeladen worden? Haben Sie Freunde in den Vereinigten Staaten?“
Emma Lazarus: Freie Dichterin, Dichterin der Freiheit
Dort, in New York, lebt seit ihrer Geburt am 22. Juni 1849 die zweite Frau dieser Geschichte: Emma Lazarus. Emma entstammt einer Familie sephardischer Juden, die ursprünglich von der Iberischen Halbinsel vertrieben wurden und dann aus Brasilien vor der Inquisition gen Neu Amsterdam (der alte Name New Yorks) flohen. Ihre Familie ist also schon seit vielen Generationen New Yorker, der Vater ist ein erfolgreicher Händler und Emma hat das Privileg und die Gabe, Englische Literatur und Sprachen wie Deutsch, Französisch und Italienisch studieren zu können.
Sie übersetzt Heine und Goethe, veröffentlicht Essays und Gedichte und hat angeregte Korrespondenzen mit anderen wichtigen Intellektuellen ihrer Zeit. Als 1881/82 viele Juden vor antisemitischen Pogromen in Russland fliehen müssen, setzt sie sich aktiv für diese Menschen ein und erfährt von Verfolgung, Armut und Elend. Emma beginnt sich mehr mit ihren jüdischen Wurzeln auseinanderzusetzten. Die lange, schreckliche und traurige Geschichte der Verfolgung von Juden begegnet mir auch hier im Museum in so vielen Lebensgeschichten immer wieder und lässt ahnen, was diese Auseinandersetzung für sie bedeutet haben mag. Zu diesem Zeitpunkt tritt „Liberté“ in ihr Leben. Emma wird auch ihr zu einer Unterkunft verhelfen.
Ein Gedicht für Liberty, ein Gedicht gegen die Ohnmacht
Für eine Benefiz-Auktion, um den Sockel der Statue zu finanzieren, schreibt Emma 1883 zwei Gedichte. Eines von beiden trägt den Namen „The New Colossus“. Sein Text ist es, der mich von meinem Weg nach Ellis Island aufhielt:
Not like the brazen giant of Greek fame
With conquering limbs astride from land to land
Here at our sea-washed, sunset gates shall stand
A mighty woman with a torch, whose flameIs the imprisoned lightning, and her name
Mother of Exiles. From her beacon-hand
Glows world-wide welcome; her mild eyes command
The air-bridged harbor that twin cities frame.„Keep, ancient lands, your storied pomp!“ cries she
With silent lips. „Give me your tired, your poor,
Your huddled masses yearning to breathe free,The wretched refuse of your teeming shore.
Emma Lazarus: The New Colossus, 1883
Send these, the homeless, tempest-tossed to me:
I lift my lamp beside the golden door.“
Ein zentraler Teil ist an der Tafel im Museum auch übersetzt:
„Gebt mir eure Müden, eure Armen,
eure gehäuften Massen voll Sehnsucht, frei zu atmen,
den elenden Auswurf, eures überquellenden Lands.
Schickt sie, die Heimatlosen, sturmgepeitscht zu mir,
ich halte meine Fackel hoch am goldenen Tor!“
Emma Lazarus beschreibt die Statue als mild und freundlich – das genaue Gegenteil der Vertreibung und Not, von der sie in den vergangenen Jahren erfahren hat. Sie ist mutig, laut und selbstbewusst, von Wut und Fürsorge erfüllt. „Liberté“ wird durch das Gedicht zur „Mother of Exiles“, zur Mutter der Verbannten.
Emmas Stimme in der New York Bay
Als die Statue 1886 endlich ihren Platz, ihre Bleibe, erhält, wird Emmas Gedicht bei der Einweihung nicht verlesen. So hatte sich der Schöpfer seine Figur wohl nicht gedacht. Erst 1903, auf das Engagement einer Freundin von Emma Lazarus, Georgina Schuyler, wird schließlich eine Bronzeplatte mit „The New Colossus“ am Sockel angebracht.
1887 stirbt Emma Lazarus mit nur 38 Jahren an einer schweren Krankheit. Sie wird diese Würdigung niemals erleben. Aber ihre Worte strahlen weiterhin in Richtung derer, die mit dem Schiff vor Verfolgung, Hunger und Not, vor Pogrom und Massenmord fliehen müssen.
Denn Liberty begrüßt bis heute alle, die auf dem Seewege nach New York kommen, mit Emmas Worten. Gleichgültig oder vielleicht auch trotzig gegenüber der Einwanderungspolitik, die zu ihren Füßen geschieht.
Von Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
www.dah-bremerhaven.de
Öffnungszeiten:
März bis Oktober: 10 bis 18 Uhr (montags bis sonntags)
November bis Februar: 10 – 17 Uhr (montags bis sonntags)
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