Die Corona-Pandemie riss wie ein gigantischer Rammbock aus Game of Thrones die vergangene Spielzeit des Stadttheaters Bremerhaven nieder. Die fünf Monate fühlten sich wie 100 Jahre Dornröschenschlaf an. Vor einer Woche hat nun endlich die Spielzeit 2020/2021 begonnen. Das gesamte Haus freut sich wie Bolle – vor allem auf ein Wiedersehen mit seinem geliebten Publikum.
Ein Theaterbesuch – vergleichbar mit auswärts Essengehen
„Ich würde ja sehr gerne wieder ins Theater gehen und finde es toll, dass es endlich wieder losgeht, aber ich traue mich irgendwie nicht.“ Diesen Satz höre ich zurzeit sehr oft, wenn ich davon erzähle, dass es ja nun endlich wieder los geht und welch‘ tolles Programm die Spielzeit 2020/2021 zu bieten hat. Oft allerdings sagen diesen Satz Menschen, die inzwischen schon wieder beim Friseur oder im Restaurant waren. „Null Problemo, da steht einem tollen Abend im Theater nichts im Wege“, sage ich dann. Denn die Verhaltensregeln für einen Besuch im Theater sind ähnlich wie für einen Restaurantbesuch.
Kleine Änderungen im Theater-Knigge I
Eines möchte ich in aller Deutlichkeit vorweg sagen: Auch, wenn die Joggingbuxe in den vergangenen Monaten unser liebstes Kleidungsstück war, sie ist weiterhin gedacht für Zuhause und nicht für das Theater. Pandemie hin, Pandemie her. Ich freue mich jetzt auch richtig darauf, mich wieder für die Premieren-Besuche aufzuhübschen. Meine Jacke darf ich nun entgegen der Theater-Knigge-Regeln mit in den Saal, an meinen Platz nehmen. Einen Garderobenservice gibt es nicht.
Kleine Änderungen im Theater-Knigge II
Ok, ich gestehe: Ein persönliches Highlight jeder Vorstellung ist für mich – die Pause. Mit einem Gläschen Sekt durch das Foyer flanieren, gucken, wer guckt und sich mit Freund*innen über das bisher Gesehene austauschen – herrlich. Was die Pausensituation angeht, ähnelt das Theater zurzeit dem Kino. Die Vorstellungen dauern nicht länger als 90 Minuten, ohne Pause. Bei gutem Wetter bekomme ich aber vor der Vorstellung draußen auf dem Theaterplatz etwas zu trinken. Auch ein schönes Feeling, wie ich bei der Begrüßung der Mitarbeiter am ersten Tag nach der Sommerpause erleben durfte.
Kleine Änderungen im Theater-Knigge III
Da es keine Pause gibt, stecke ich in meine Clutch zu meiner Abo- Eintrittskarte nicht wie üblich meinen Lippenstift, sondern meine selbst genähte Ausgeh-Maske. Denn sobald ich das Theater betrete, besteht Maskenpflicht. Bis ich im Saal auf meinem Platz sitze. Zu Vorstellungsbeginn kann ich den Mund-Nasen-Schutz dann abnehmen.
Safety first im Saal
Aber wie ist das dann im Saal, so ganz ohne Maske? Ich beschließe, schnurstracks zum Technischen Leiter des Theaters zu gehen. Ralf Zwirlein ist der erste Ansprechpartner für alle sicherheitstechnischen Fragen des Theaters, sozusagen der Sicherheits-Sheriff. Zugegeben, schnurstracks ist ein wenig geflunkert. Ich irre und eiere durch die doch recht labyrinthartigen Gänge. Der Grund dafür ist so einfach wie einmalig: Ich habe pünktlich zum Lockdown die Leitung der Marketing-Abteilung übernommen. Für mich bedeutete das frei nach dem amerikanischen Lyriker Carl Sandburg: Stell dir vor, du beginnst einen neuen Job und keiner ist da. Doch Herausforderungen dienen ihrer Überwindung und ich habe gleich doppelt Glück: Ich finde nicht nur das Büro des Technischen Leiters – Ralf Zwirlein ist sogar da und nicht wie üblich im Haus unterwegs.
„Das Publikum kann sich sicher fühlen“
Das ist das erste, was Ralf Zwirlein mir direkt nach der Begrüßung mit Nachdruck sagt. Seine Stimme ist ruhig, aber bestimmt. Er hat etwas von einem Gymnasiallehrer und ich werde für einen Moment in meine Schulzeit zurückkatapultiert. Doch erstaunlicherweise bereitet mir das zum ersten Mal kein mulmiges Gefühl. Ganz im Gegenteil. Ich bin beruhigt. Außergewöhnliche Zeiten erfordern einfach auch klare, sichere Ansagen und Regeln.
Drinnen Frischluft wie am Deich
„Die gesamte Belüftungsanlage des Stadttheaters wurde erst im vergangenen Jahr rundum erneuert und mit modernen Filtern ausgestattet“, erklärt mir Ralf Zwirlein. Der Anteil an frischer Luft kann auf fast 100 Prozent hoch gesetzt werden. So gibt es im gesamten Theater keine Umluft, sondern Frischluft. Ich ertappe mich dabei, wie ich einen tiefen Atemzug nehme und denk‘ , ich steh´am Deich. Ralf Zwirlein erklärt mir die komplizierte Technik einfach und anschaulich. Ich muss wohl irgendwie ausstrahlen, dass mein technisches Verständnis meist gen Null geht. „Die Anlage ist auf 700 Menschen ausgelegt. Jetzt sitzen aber nur 186 im Großen Saal und wir haben so eine zusätzliche Sicherheit“, erklärt mir Ralf Zwirlein weiter. Das kapiere ich sofort. Aerosol-Partikel-Wolken haben im Stadttheater Bremerhaven keine Chance.
Sitz, Platz, Maske ab
Der geänderte Sitzplan ist also neben der Belüftungsanlage wie ein doppelter Netzboden für die Zuschauerräume. Die erste Sitzreihe bleibt frei. So ist der Abstand von sechs Metern zwischen Bühne und Publikum gewährleistet. Des Weiteren bleiben jede zweite Reihe und immer zwei Sitze zwischen den besetzen Plätzen frei. Für das Große Haus macht das 186 statt 700, für das Kleine Haus 34 statt 120 Plätze. Genug Abstand also zwischen den einzelnen Besucher*innen.
Vorfreude ist die schönste Freude
Ich verlasse beruhigt und beschwingt das Büro des Technischen Leiters. Während ich so heiter Gang um Gang des Theaters durchschreite, merke ich, dass ich schon wieder irre und eiere. Verdammt, warum habe ich auf dem Hinweg nicht wie Hänsel den Rest meines Pausenbrötchens in den Fluren verkrümelt? Plötzlich höre ich Klavierklänge und Gesang. Ich folge den Tönen, in der Hoffnung, im Haus an einen Punkt zu gelangen, von dem aus ich mich wieder orientieren kann. Der Gesang wird lauter, und plötzlich stehe ich am Großen Saal.
Zurücklehnen und genießen
Im Großen Saal probt gerade der Opernchor für Chicago. Das ist nicht üblich, denn unter normalen Umständen wird gemeinsam im Chorsaal einstudiert. Aber durch die 1,5 Meter Abstand untereinander und sechs Meter zum Chorleiter, kann Chordirektor Mario Orlando El Fakih Hernandez nur mit sechs Sänger*innen gleichzeitig auf der Großen Bühne stehen. Ich setze mich und stelle mir vor, ich sitze mit 186 Personen in der Premiere von „Chicago“. Ich fühle mich sicher und muss gestehen: Diese Luftigkeit um mich herum habe ich mir bei so mancher Vorstellung im Hochsommer herbeigesehnt.
Yes, we can!
Vom Großen Saal aus finde ich den Weg zurück in mein Büro. Mir kommt ein Zitat des österreichischen Psychiaters Ernst Freiherr von Feuchtersleben in den Sinn: „Mut, Freudigkeit und Hoffnung sei das Dreigestirn, das man nicht aus den Augen lasse“. Na, der Mann muss es doch wissen.
Einem unbeschwerten Besuch im Stadttheater Bremerhaven steht nichts im Wege. Absolutamente nada! Und wie heißt es doch gleich: „Applaus ist das Brot des Künstlers“. Ich finde, die Darsteller*innen des Stadttheaters haben in den vergangenen fünf Monaten genug gehungert. Findet Ihr nicht auch?
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