Am 6. Mai hat die Ausstellung des Künstlers Till Megerle in der Kunsthalle Bremerhaven eröffnet. Sie trägt den Titel Yes – ein überraschend wie einschlägiger Titel, den sich der Künstler ausgedacht hat. Genauso überraschend sind auch seine Arbeiten, ausschließlich Zeichnungen, die bis August zu sehen sind.
Was mir sofort ins Auge sticht, als ich mir die Zeichnungen von Till Megerle zum ersten Mal anschaue, sind die verschlungenen disproportionierten Figuren, die ohne Rücksicht auf die menschliche Anatomie die Grenzen körperlichen Ausdrucks überziehen. Sie winden und drehen sich, vielleicht vor Schmerz, vielleicht derart von intensiven Emotionen erfasst, dass sie direkt in die Körper übergegangen zu sein scheinen. Dehnbar wie Ton, geistesabwesend und doch seltsam intensiv – so wirken seine Figuren. Man hat den Eindruck, als läge noch etwas verborgen hinter seinen Zeichnungen, sie scheinen in gewisser Weise „unfassbar“ zu sein.
Als ich durch die Ausstellung gehe, wendet sich mein Blick zuerst einer bunten und fein gearbeiteten Zeichnung zu, nur um dann, ein paar Schritte weiter, mit einem ganz anderen, skizzenhaft abstraktem Bild konfrontiert zu werden. So ist mein Rundgang geprägt von Kontrasten – Hell und Dunkel, Warm und Kalt, Weiß und Bunt –, gänzlich unterschiedliche Welten, die in einem Raum zusammenkommen. Diese Brüche sind intendiert. So beschreibt Megerle selbst seine Ausstellung als „Achterbahnfahrt“, in die die Betrachter:innen herumgeschmissen werden, wenn auch in einem strengen Takt.
Mein Lieblingsbild
Eine der 23 Zeichnungen spricht mich sofort besonders an. Sie sticht vor allem durch ihre Größe hervor, denn sie ist die kleinste der Ausstellung. Erst auf den zweiten Blick erkenne ich, dass ein rundbogenförmiger Ausschnitt auf die Zeichnung geklebt und dann übermalt wurde. Durch dieses kleine „Fenster“ hindurch ist eine Frau zu sehen, ihre Hände im Schoß verschränkt. Man erkennt ganz deutlich die Stiftführung Megerles; vor allem das Gesicht der Frau wirkt durch die sichtbaren Farbstriche und Schattierungen wie geschnitzt. Die Augen, die wie zwei flüchtig gesetzte Punkte wirken, strahlen eine tiefe Melancholie aus. Sie schaut am Betrachter vorbei, als sei sie in Gedanken versunken. So scheint sich ein Fenster zu einer Erinnerung zu öffnen, wie ein altes Foto, das sich in einer Brieftasche befunden hat. Es handelt sich, wie ich später erfahre, tatsächlich um eine Fotografie der Großmutter des Künstlers, die er ausgeschnitten und nachkoloriert hat. Das Bild ist in Nuancen aus sattem Senfgelb gestaltet, die in den Rahmen überzugehen scheinen, kontrastiert mit dunklem Lila und Grün, wodurch die Zeichnung Wärme und Intensität ausstrahlt.
Gespräche über Kunst
„Manche Formen erschließen sich mir nicht, ich kann nicht genau sagen, wo die Formen herkommen oder wo sie hinführen“, so eine Besucherin über ihren Eindruck, als ich mich mit ihr bei der Ausstellungseröffnung unterhalte. Eine andere wiederum erzählt mir, dass die warmen Farben für sie etwas Einladend-Gemütliches hätten, die Figuren hingegen eine Unbehaglichkeit entstehen ließen; sodass sie sich zugleich angezogen und abgestoßen fühle.
Wie arbeitet der Künstler?
Für mich ist besonders faszinierend, dass Megerles künstlerische Ausdrucksweise sowohl dynamische Flüchtigkeit als auch unglaubliche Präzision umfasst. Er selbst beschreibt seine Arbeitsweise als „Denken mit und in Linien“, was sich, wie ich finde, durch seine gesamten Arbeiten zieht: Seine Zeichnungen entstehen in einem langwierigen Schaffensprozess aus unzähligen Schraffuren und Schichtungen, was den Bildern einen Eindruck von Tiefe verleiht. So entdecke ich auch nach mehrfacher Betrachtung immer wieder etwas Neues.
Was steckt hinter Megerles Werken?
Zusammen mit einem anderen Besucher habe ich den Eindruck, dem Künstler ginge es, wenngleich um eine Beschäftigung mit der Irrationalität der Gesellschaft, weniger um tiefgründige Gesellschaftskritik, als um eine immer währende Auseinandersetzung mit Identitäten und Erfahrungen.
Megerle scheint aus einem Kosmos zu schöpfen, in den sich Erlebnisse, Eindrücke, Erinnerungen und Gefühle eingeprägt haben, die in seinen Bildern fragmentarisch zum Vorschein kommen.
Megerle bringt Welten zu Papier, die fremd und verzerrt, skurril und überdehnt aus Linien und Farbflächen in halluzinatorischer Weise hervortreten, und doch scheint man in ihnen etwas wiederzuerkennen.
Das mag vielleicht daran liegen, dass in Megerles Bildern Familiäres und Imaginäres, moderne Kleidung und Nachkriegsarchitektur, verstaubte Spießbürgerlichkeit vergangener Zeit und Jugendkultur, Expressivität und malerische Minuziösität gleichzeitig ihren Platz finden.
Die Faszination der Bilder macht aber wohl auch aus, dass er mit seinen verrenkten Figurenkonstellationen zwischenmenschlichen Brüchen und inneren Konflikten Ausdruck verleiht und die Betrachter:innen so mit Phänomenen interpersoneller Verfremdung und mit ihren eigenen Widersprüchlichkeiten konfrontiert.
Artist Talk
Ich bin gespannt darauf, was der Künstler über sich und seine Kunst erzählt.
Durch die Arbeit mit Video – er hat zunächst Fotografie in Leipzig studiert – hat er Farbe als Ausdrucksmittel für sich entdeckt. Wie aus kleinen Pixeln zusammengesetzt, denke ich, ließe sich vielleicht einer der eigenwilligen Zeichenstile des Künstlers beschreiben. Seine Zeichnungen entstehen oft parallel über Jahre hinweg. Auf seinem Schreibtisch sitzend schöpft er aus einem Stapel an Papier, in dem sich auch alte Rechnungen befinden, deren Rückseite er mit Kugelschreiber oder Buntstift bemalt. Ein Teil seiner Motive findet er in einem eigens angelegten Fundus aus Postkarten, Erinnerungsfotos, video stills sowie Ausschnitten aus alten Gemälden.
Was ich sehr inspirierend finde, gerade in unserer häufig schnelllebigen Zeit, ist die meditative Ausdauer des Künstlers. Er mache sich keinen Stress, nimmt sich Zeit für seine Werke. Dabei interessiert es ihn am meisten, wenn er „in einen Modus kommen kann, wo man sich selbst überrascht“. So lässt er sich auch von unerwarteten Reaktionen und Wendungen leiten, die während des Arbeitsprozesses entstehen.
Stimmungen einfangen
Seiner künstlerische „Reaktion“ auf das von ihm Gemalte versucht er während des Zeichnens so weit voranzutreiben, bis er die eigene Kontrolle „verliert“, bis er das, was da entstanden ist, selbst nicht mehr zu fassen bekommt, bis sich die aufkommende Atmosphäre des Bildes einer genauen Deutung entzieht. Seine Arbeiten sind eine Verknüpfung von heiß und kalt, traurig und lustig, Expression und Konzeption. Das macht sie auch so andersartig. Eindringlich, gedankenfern, fantasievoll und grotesk, undurchdringlich verdichtet und zugleich spannungsgeladen. Megerles Interesse an Stimmungen zeigt sich auch im Titel der Ausstellung – Yes – ein lebensbejahender Titel, wie er sagt. Er habe mit dem Gefühl der Leere spielen wollen, das seinen Bildern so oft attestiert werde. Wie beeinflußt so ein ausrufender Titel die Wirkung der Bilder? Was für eine Atmosphäre entsteht durch dieses Zusammenspiel von Sprache und Bild?
Der Titel findet sich übrigens auch – ganz klein in einer Sprechblase – in einem der Bilder wieder. Ein kleines Detail, für das man, möchte man es erkennen, genau hinschauen muss. Vielleicht entdeckt ihr es ja.
Till Megerle
Yes
07.05. – 13.08.2023
Text und Bilder:
Alicia Wolf
Praktikantin in der Kunsthalle und dem Kunstmuseum Bremerhaven
„Kunst und Cocktail“
Ausstellungsrundgang mit Julia Bokermann
Samstag, 24. Juni 2023, 14 Uhr
„Kinderclub“ mit Ludmilla Euler
Freitag, 7. Juli 2023, 19 Uhr
GUIDING LIGHT Konzert mit Artjom Astrov, Kisling & Till Megerle
KUNSTHALLE BREMERHAVEN
Karlsburg 4
27568 Bremerhaven
Di-Fr, 11-18 Uhr
Sa+So, 11-17 Uhr
4,-/2,- erm.
Mitglieder frei
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