Unsere Stadt steckt voller Geschichten, die zum Teil verblüffend sind. So hat ein Kaufmann aus Geestemünde, gut zehn Jahre, bevor das erste Automobil mit Verbrennungsmotor ein Patent erhielt, die Weichen für ein Imperium gestellt, das später einmal die ganze Welt bewegen würde. Glaubt ihr nicht? Stimmt aber. Sein Name Wilhelm-Anton Riedemann: Industriegigant aus Geestemünde und Mitbegründer von ESSO.
Schon erstaunlich: Der Erfinder des Tankschiffes kommt aus Bremerhaven. Besser gesagt, aus Geestemünde, das ja heute zur Stadt gehört. Wilhelm Anton Riedemann war nämlich der Erste, der so mutig war, Petroleum in schwimmenden Tankern über den Atlantik zu schicken. Damit legte der kühne Kaufmann die Grundlage des modernen Brennstofftransports. Nicht nur das, der „Petroleumkönig“, wie Riedemann auch genannt wurde, war einer der Gründer der heutigen Firma Esso und somit ein echter Industriegigant, der sein Imperium an der Geestemündung gegründet hat.
Riedemann, glücklos in Amerika
Doch der Reihe nach: Wilhelm Riedemann wird am 8. Dezember 1832 im niedersächsischen Meppen geboren. Dort betreibt sein Vater einen Eisenhandel. Die Familie lebt zunächst in behütetem Wohlstand. Das ändert sich jedoch, als der Vater entscheidet, mit Kind und Kegel nach Amerika auszuwandern. Das Land der unendlichen Möglichkeiten steht für die Familie unter keinem guten Stern. Kaum sind die Riedemanns in der deutschen Migrationshochburg St. Louis angelangt, verstirbt der Vater an einer der zahlreichen Seuchen, die Mitte des 19. Jahrhunderts überall um sich greifen – wahrscheinlich an der Cholera. Riedemanns Mutter wird zu allem Überfluss auch noch das Opfer „guter Freunde“. Die Familie verliert durch betrügerische Transaktionen alles, was sie besitzt. Fortan sind die unbegrenzten Möglichkeiten für Familie Riedemann in Amerika eher limitiert und sie kehrt 1846 – nun arm wie die Kirchenmäuse – nach Meppen zurück.
Riedemann, der gute Samariter
Ob es die tragischen Erfahrungen aus dem Abenteuer USA sind, die Riedemanns unglaubliche Karriere beflügeln, ist nicht überliefert. Dass der gläubige Katholik später überaus wohltätig ist, hingegen schon. So finanziert er die Gründung des ersten Bremerhavener Krankenhauses. Auch an den Bauten der ersten katholischen Schule, der ersten katholischen Kirche der Stadt – der St. Marienkirche im heutigen Mitte – beteiligt er sich großzügig. Riedemann ist unvorstellbar reich. So reich, dass er sich ein eigenes Palais bauen lässt, das „Riedemann Palais“ an der Borriesstraße. Das Gebäude war so groß und prächtig, dass eine handelsübliche Villa jener Zeit im Vergleich dazu wie ein Dienstbotenhaus wirkte. Der Prachtbau überlebt den Zweiten Weltkrieg leider nicht. Um eine Vorstellung von dem Gebäudes zu haben: Das Katasteramt Wesermünde, das heute dort steht wurde auf dessen Grundmauern errichtet . Wir haben im Museum allerdings auch ein sehr schönes Bild von dem imposanten Gebäude, das ihr euch gerne anschauen dürft.
Riedemanns gutes Näschen
Bevor Riedemann jedoch zum superreichen Wohltäter werden kann, liegt ein anstrengender Weg vor ihm. Nach der Rückkehr aus den USA macht er zunächst eine Lehre zum Papier- und Farbenvertreter. Anschließend zieht es ihn in die Selbstständigkeit. Sein richtiges Näschen für gute Gelegenheiten führt ihn 1863 nach Geestemünde. Der Ort am südlichen Ufer der Geestemündung konkurriert als Handelsstandort mit dem noch jungen Bremerhaven, das direkt auf der anderen Flussseite liegt. Beide Orte versuchen, ihr Wachstum über Seetransporte und Schiffbau anzukurbeln. Der in Geestemünde gerade fertiggestellte Handelshafen lockt zu jener Zeit Kaufleute wie Riedemann an. Dieser eröffnet hier zunächst einen kleinen Kramerladen, kurz darauf eine Agentur für Inkasso und Speditionsgeschäfte. Mit diesem Grundstein nimmt sein wirtschaftlicher Aufstieg rasant Fahrt auf. Den Aufstieg des heutigen Bremerhavener Stadtteils Geestemünde thematisieren wir übrigens auch in unserer Ausstellung etwas detaillierter.
Der Grundstein zum Petroleumhandel
Gemeinsam mit dem Bremer Überseekaufmann Carl Schütte und dessen Bruder Franz Ernst steigt Riedemann in den Handel mit Petroleum ein, so wird Erdöl zu jener Zeit genannt. Ein schwieriges Geschäft, denn das kostbare und höchst begehrte Gut muss in Fässern transportiert werden. Das Verladen ist harte Arbeit und zeit- und kostenintensiv. Durch die Fässer verliert man zudem große Teile der Ladekapazität. Leckageverluste von 30 Prozent an den Holzfässern sind keine Seltenheit. Letztlich hat man immer wieder mit amtlichen, versicherungstechnischen sowie technischen Widerständen zu kämpfen. Die Ware ist extrem feuergefährlich, deswegen darf sie nur in einem eigens dafür erbauten Hafen umgeschlagen und gelagert werden. Für Riedemann insgesamt unbefriedigend: Er entschließt sich kurzerhand dazu, den Petroleumhandel zu revolutionieren und legt damit den Grundstein für weltweite Standards.
Riedemann, der Petroleumkönig
Der erste Riedemann’sche Meilenstein wird der größte Petroleum-Umschlagplatz Deutschlands. Er entsteht etwa dort, wo im Geestemünder Süden heute eine Straße nach ihm benannt ist. Ab 1867 bereedert er schon seine eigenen Schiffe. Später werden die Unternehmen, an denen er beteiligt ist, die größte Tankerflotte der Welt haben. Vorher jedoch baut er den ersten Petroleumtank Deutschlands und löst damit das Fass (Barrel) als Transporteinheit für Petroleum ab. Riedemann lässt nun, wiederum als Erster, das Segelschiff „Andromeda“ zum Tanksegler umbauen. 1885 geht er einen Schritt weiter. Der erste Tankdampfer der Welt folgt. Gebaut im englischen Newcastle upon Tyne. In seiner Heimat hält man die Vorstellung von einem schwimmenden „Petroleumtank“ mit Verbrennungsmotor für vollkommen verrückt. Das auf „Glück auf“ getaufte Schiff erhält den Spitznamen „Flieg auf“. Alle sind überzeugt, der Kahn wird in einem gleißenden Feuerball explodieren. Ein Porträt des Schiffes findet ihr in unserer Dauerausstellung, in der Abteilung Fische, Schiffe und Petroleum.
Riedemann erfindet den modernen Tanker
Der erste Dampftanker der Welt explodierte jedenfalls nie. Die „Glück auf“ strandet stattdessen 1893 vor New York, am Strand der Insel „Fire Island“, in Long Island. Aus heutiger Sicht an Ironie kaum zu überbieten ist. Der Siegeszug der „Tanker“ auf den Weltmeeren war eingeläutet. Er sorgt von Geestemünde aus dafür, dass der Preis für Petroleum in Europa um die Hälfte sinkt. Wären die Geestemünder oder Bremerhavener jener Zeit etwas mutiger und weniger spöttisch gewesen. Geestemünde würde heute als der Ort in den Geschichtsbüchern stehen, an dem der erste maschinenbetriebene Tanker der Weltgeschichte gebaut wurde. So bleibt die Stadt leider nur die Heimat des ersten Tankseglers. Besser als nichts. In Geestemünde nahmen übrigens auch die Erfolgsgeschichten von Johann Friedrich Christian Busse und Friedrich Albert Pust ihren Anfang. Zu beiden könnt ihr in unserem Museum etwas entdecken.
Riedemann, Rockefeller und die ESSO AG
Ob das fehlende Vertrauen der Geestemünder letztlich der Grund ist, warum Wilhelm Anton Riedemann dem Ort den Rücken kehrt und samt Firma nach Hamburg geht, bleibt Spekulation. Als Riedemann 1890, gemeinsam mit den Schütte-Brüdern und dem amerikanischen Ölmagnaten John D. Rockefeller, in Bremen die Deutsch-Amerikanische Petroleum Gesellschaft (DAPG) gründet, wechseln Petroleumumschlagplatz und Wohnsitz an die Elbe. Als er Geestemünde verlässt, bleiben drei seiner Schwestern in seinem Palais wohnen. Die von ihm mitgegründete DAPG wird unter seiner Führung zum Branchenprimus und erreicht bis zu 70 Prozent Marktanteil in Deutschland. 1950 – 30 Jahre nach Riedemanns Tod – wird das Unternehmen zur ESSO AG (ab 1999 ESSO Deutschland GmbH). Riedemann selbst zieht mit seiner Frau 1917 nach Lugano in die Schweiz. Hier verstirbt er 1920 im Alter von 87 Jahren. Der Name ESSO leitet sich übrigens aus den phonetischen Anfangsbuchstaben der Marke Standard Oil zusammen: S (Ess) + O(o) = Esso.
Riedemann, der Industriegigant
Wilhelm Anton Riedemann gilt nach heutigen Gesichtspunkten als der erfolgreichste Geschäftsmann, der jemals an der Geestemündung tätig war. Nicht wenige Fachkundige sind davon überzeugt, dass das Wachstum der Stadt Geestemünde und damit letztlich Bremerhavens untrennbar mit dem Industriegiganten Wilhelm Anton Riedemann verbunden ist. Allein Anfang der 1890er Jahre zahlte Riedemann rund ein Drittel aller in Geestemünde anfallenden Steuern. Unvorstellbar, wie Bremerhaven heute wohl aussehen würde, wäre Riedemann geblieben und nicht nach Hamburg gezogen. Sein Abwandern traf den Kämmerer Geestemündes zweifelsfrei mit unvorstellbarer Härte. Es gibt Chronisten, die auch mehr als hundert Jahre später die Meinung vertreten, Geestemünde hätte sich nie davon erholt. Ein Denkmal sucht man in Bremerhaven allerdings vergebens, seinem Kompagnon Franz-Ernst Schütte gedenkt man in Bremen hingegen gleich mehrfach. Immerhin hat es auch hier für eine Straße gereicht.
Das erste Tankdampfschiff der Welt: die „Glück auf“
Text: Marco Butzkus
Monika Riedemann
Habe den Bericht über meinen Vorfahren gelesen und mir wurde bewusst, über ihn kaum etwas zu wissen. Mein Interesse wurde geweckt , ich guck mal was ich noch finde. Auch dem Historischen Museum werde ich einen Besuch abstatten.
Gastautor Historisches Museum Bremerhaven
Sehr geehrte Frau Riedemann,
wir freuen uns sehr, dass unser Bericht über W.A. RIEDEMANN ihr Interesse an dieser herausragenden Persönlichkeit geweckt hat. Auf Ihren Besuch im Historischen Museum freuen wir uns ebenfalls. Auf bald.
Harald Klingebiel
Der Text deckt sich zu großen Teilen mit meinen Recherchen zu Franz Ernst Schütte und Carl Schütte aus Bremen. Beide Schütte-Brüder, insbesondere Franz, wurden ebenfalls sehr, sehr reich. Zur Explosionsgefahr auf den Schiffen: Ich meine in Akten des Staatsarchives Bremen gefunden zu haben, dass diese so groß war, weil durch das Schaukeln der Schiffe auf hoher See Reibung der Barrels auf Deck Funken entstanden sind, die oftmals zu Explosionen geführt haben.
Beste Grüße Harald Klingebiel
(www.harald-klingebiel.de).
Gastautor Historisches Museum Bremerhaven
Sehr geehrter Herr Klingebiel,
vielen Dank. Interessant, dass mit den Barrels.