Immer wenn ich von der Mittagspause komme, gehe ich über die Theaterkasse zurück zu meinem Büro. Heute ist das Kassenfoyer bereits mit Menschen gefüllt. Ein Pärchen nutzt die Wartezeit, um durch das Spielzeitheft zu blättern, welches im Foyer ausliegt. Im Vorbeigehen höre ich, wie sich beide darüber unterhalten, wie gespannt sie auf das Programm der nächsten Spielzeit wären. Ich schließe die Tür zum Treppenhaus auf und denke im Hinaufgehen noch darüber nach, was für ein komplexes Gebilde die Programmplanung ist. Und beschließe mit den Menschen zu sprechen, die diesen Prozess steuern.
Vielfalt und Ausgewogenheit
In der ersten Etage biege ich ab. Ich will zum Intendanten Lars Tietje, der das Stadttheater seit dem vergangenen Sommer leitet. Ein Intendanzwechsel ist immer auch mit einem Veränderungsprozess verbunden. Personell, strukturell und oft auch inhaltlich. Lars Tietje steht für eine klare Vielfalt an Themen, Stücken und Handschriften, die für ein Stadttheater unerlässlich sind. Ihm ist es wichtig, dass das Theater ein großes Angebot hat, aus dem die Zuschauer:innen mit ganz unterschiedlichen Interessen und Vorlieben wählen können. Strukturell hat Lars Spartenleiter:innen eingesetzt, die für ihren Bereich künstlerisch verantwortlich sind und das Programm prägen. Gemeinsam mit ihnen entscheidet er über den Spielplan und achtet dabei auf die Ausgewogenheit zwischen den einzelnen Sparten.
Das Herz des Theaters
Im Büro nebenan befindet sich das KBB. Das künstlerische Betriebsbüro ist das „Herz“ des Theaters. Chefdisponent Sebastian Glathe steht in Kontakt mit allen Künstler:innen und Abteilungen. Bei ihm laufen alle Fäden zusammen. Und da es in der Planung viel zu berücksichtigen gibt, kann das auch schnell mal zur Herausforderung werden. Wie ist die Verteilung der Premieren sinnvoll für Künstler:innen und Gewerke? Welche Probenzeiten braucht jede Produktion? Wann ist die Bühne verfügbar? Auch die Dienstzeiten der Technik und die Ruhezeiten der Darsteller:innen muss er im Blick behalten. Sebastian steht in regelmäßigem Austausch mit Lars Tietje. Wenn das Grundgerüst dieser Disposition steht, auch mit den Spartenleiter:innen und technischen Abteilungen.
Die „Dispo“ ist unser Jahresplan. Hier werden alle Premieren, Vorstellungs- und Probentermine eingetragen, die für alle Abteilungen und deren Dienstpläne wichtig sind. Aus der Dispo ziehen wir im Marketing beispielsweise auch die Termine für sämtiche Veröffentlichungen. Aber das nur am Rande.
Betretene Pfade auch mal verlassen
Vom KBB aus folge ich dem Flur, biege um eine kleine Ecke und stehe vor dem Büro von Markus Tatzig, dem neuen Leiter des Musiktheaters und leitenden Dramaturgen für Musiktheater und Ballett. Er erzählt mir, dass sich das Musiktheater viel zu oft eines gängigen Kanons bedient und gesteht schmunzelnd: „Wenn man sich die Spielpläne der letzten Jahre ansieht, fühlt es sich an wie ein Durchreichen der großen Klassiker zwischen den Häusern. Das könne Fluch und Segen zugleich sein.“ Natürlich ist es wichtig, diesen Kanon einerseits zu bedienen, aber Markus findet es genauso notwendig, die oft betretenen Pfade zu verlassen, Uraufführungen oder Erstaufführungen zu planen und neue Stücke zu präsentieren, die teils völlig zu unrecht selten gespielt werden. Ein gutes Beispiel ist für ihn die Operette Viktoria und ihr Husar. „Das ist wirklich ein grandioses Werk, das in den letzten 20 Jahren in Deutschland so gut wie nie aufgeführt wurde.“ Aber in der Programmplanung ist man auch nie frei von Vorlieben. Markus zum Beispiel liebt die Filme von Lars von Trier. Und so dürfen wir uns im Musiktheater auf eine spannende deutsche Erstaufführung freuen.
Mit Blick aufs Ensemble
Der Vorlauf für das Musiktheater beträgt am Stadttheater Bremerhaven ein bis anderthalb Jahre. Daran musste er sich erst gewöhnen, gesteht er mir. Andere, große Opernhäuser planen vier bis fünf Jahre im Voraus. Zudem ist es ihm wichtig, dass alle Ensemblemitglieder pro Saison eine große Fachpartie haben. Die Saison 2023 / 2024 plant er im Prinzip ab jetzt. „Ich weiß, wen ich im Ensemble habe und führe mit allen Sänger:innen regelmäßig Gespräche: Wo siehst du dich jetzt, wo siehst du dich in zwei Spielzeiten, was sind deine Traumpartien, was steht für kommende Saison auf deiner Wunschliste?“ All das kommt auf seine Liste, die dann gemeinsam mit Intendant Lars Tietje und GMD Marc Niemann besprochen wird.
Eine Etage über der Intendanz ist das Büro von Peter Hilton Fliegel, der seit dieser Spielzeit als Spartenleiter für das Schauspiel zuständig ist. Als ich hereinkomme, sitzt er über den Korrekturen zum Jahresheft der kommenden Spielzeit, an dem ich gerade arbeite und das Ende März bereits in Druck gehen muss, um rechtzeitig zur Spielplanpräsentation Ende April zu erscheinen. Bis dahin müssen alle Pläne finalisiert werden.
Die größtmögliche Einladung ans Publikum
Die intensivste Zeit für die Spielplanentwicklung beginnt für Peter im September. Die Erstellung des Spielplans ist aber ein Prozess, der immer auch Veränderungen unterworfen ist. Nach den Besuchereinbußen durch Corona und der Eröffnungspremiere von „Rosenkranz und Güldenstern sind tot“, die die Zuschauer:innen nicht zurückholen konnte, hat er seine Pläne für die kommende Spielzeit verworfen und gemeinsam mit dem Intendanten und unter Berücksichtigung der Wünsche der Schauspieler:innen nach großen Klassikern noch einmal komplett neu gedacht. Gerade in dieser Zeit ist es wichtig, mit dem Programm die größtmögliche Einladung ans Publikum auszudrücken. „Wir haben dafür zu sorgen, dass jede:r zwei bis drei Mal im Jahr ins Theater gehen könnte.“ So ist die Komödie genauso wichtig im Spielplan, wie der ernstere Stoff. Zudem sollen ganz unterschiedliche Regiehandschriften gezeigt werden. Neben der Vielfalt im Programm ist es ihm und seiner Sparte für die kommende Spielzeit gelungen, nun wieder verstärkt bekanntere Titel anzusetzen, hinter denen er künstlerisch stehen kann und die gut zum Ensemble passen.
Mit Blick auf die Altersgruppen
Im Jungen Theater wandert der Blick zuerst auf das Publikum. Die Auswahl der Stücke erfolgt nach Altersgruppen, erzählt die neue Leiterin des Jungen Theaters, Bianca Sue Henne. „Unser Publikum reicht von den Kitas bis zum Abitur, für alle muss etwas dabei sein“, verrät sie mir. In der kommenden Spielzeit wird das Junge Theater zudem erstmals für Kinder ab zwei Jahren spielen. Aber es gibt auch Projekte oder Uraufführungen, die deutlich mehr Vorlauf benötigen. Lars und Bianca waren bis zum letzten Jahr in Schwerin Büronachbarn und konnten das eine oder andere schon bei einem Kaffee besprechen. So beispielsweise die Bewerbung für den Nah dran! – Literaturfond für neue Stücke im Kinder- und Jugendtheater. Diese Förderung haben sie bekommen, wodurch wir uns in der kommenden Spielzeit auf eine Uraufführung des Autors Carsten Brandau freuen dürfen.
Teamwork im Jungen Theater
Viel stärker als in den anderen Sparten ist die Spielplanentwicklung hier ein Prozess im Team. Bianca, ihre Theaterpädagog:innen und das Ensemble lesen alle Stücke und schreiben Anmerkungen auf. Bianca sieht sich alles durch, hört sich alles an und entscheidet dann. „Es gab ein Stück, das fanden wir alle toll. Aber dann sagte eine Theaterpädagogin, dass sie nicht wüsste, wie sie das Stück in wenigen Sätzen beschreiben sollte. Das ging uns anderen genauso und da wurde uns klar: Ein Stück, dass wir nicht klar vermitteln können, können wir auch nur schwer an die Schulen bringen. Das war dann das Ausschlusskriterium“. Nicht jede Idee findet den Weg auf den Spielplan, aber der Prozess ist spannend. „Es ist ein bisschen wie Buchclub“, zitiert Bianca eine Schauspielerin schmunzelnd. Und auch die Lust des Ensembles, mal wieder ein richtig klassisches Märchen zu spielen, fand schnell Anklang bei ihr.
Programme müssen motiviert sein
Ich habe jetzt viel über die Programmplanung des Stadttheaters erfahren und will mich auch im Orchester umhören. Leiter des Philharmonischen Orchesters ist der Generalmusikdirektor Marc Niemann. Auch ihn will ich fragen und laufe einmal quer durch das Theater, über die Seitenbühne bis zum Verwaltungsgebäude, wo sich sein Büro befindet. Als ich klopfte, saß er gerade im Gespräch mit Hermann Keßler, dem Musikbibliothekar und Konzertdramaturgen. Wie passend, dachte ich und trat ein.
Marc Niemann ist es besonders wichtig, dass die Programme motiviert sind. Der Ausgangspunkt ist ein thematischer. In dieser Spielzeit stehen Komponistinnen im Zentrum des Konzertprogrammes. In der nächsten Spielzeit wird sich alles um das Thema „Natur“ drehen, verrät der GMD. Ausgehend von diesem Schwerpunkt schaut Marc, was programmatisch dazu passt. Sein Wunsch ist es, neben dem „klassischen“ Repertoire auch Raritäten zu präsentieren. „Programme sollen immer einen roten Faden haben, so dass sich die Stücke aufeinander beziehen und ein Bogen sichtbar wird, wenn man die Konzerte in der Gesamtheit ansieht.“ Er hat eine Ideenliste, die mittlerweile fast 40 Seiten umfasst und die erst einmal durchforstet wird. Hermann Keßler dagegen hört viel Radio und notiert sich Stücke, die ihm gefallen. Als Notenbibliothekar recherchiert er parallel dazu, wo er die Noten bestellen kann. Neben den Sinfoniekonzerten müssen noch Filmkonzerte, Operettengalen, Crossover-Events und Familienkonzerte geplant werden.
Ein Assoziationsweg
Oft steht ein Werk, das Marc wählt, im Zentrum. Hermann schaut dann, welche Werke im Konzertprogramm gut dazu passen könnten. Schwierigkeitsgrad (auch für das Publikum), Länge der Stücke und Besetzungsgröße müssen am Ende stimmen. Auch die Arbeitsauslastung der Musiker:innen muss berücksichtigt werden, da sie auch in Musiktheatervorstellungen eingesetzt werden. Beide sind ein gutes Team und sprechen viel im Dialog. „Es ist wie ein Assoziationsweg, den man beschreitet“, sagt Hermann Keßler. „Manchmal passt es, und manchmal öffnen die Gespräche die Tür zu anderen Ideen.“
Die Kammerkonzerte im Historischen Museum speisen sich komplett aus den Ideen der Musiker:innen. Aber auch für die Sinfoniekonzerte dürfen sie Vorschläge einreichen, die die beiden dann prüfen. So kam ein litauischer Komponist ins Programm des zweiten Sinfoniekonzertes der nächsten Spielzeit, der als Maler fast bekannter ist und nach dem sogar eine Pralinensorte benannt wurde. Auf meine Frage, ob die beiden diese schon probiert hätten sagte Hermann „Nein“ und Marc ergänzte mit einem Augenzwinkern: „Ich habe alle aufgegessen“.
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