oder: Wie ich neulich mit Martha Hüner auswanderte.
Wenn es nach der Hauptsaison in den Räumen des Deutschen Auswandererhauses ruhiger wird, streife ich am Spätnachmittag gerne ab und an in Ruhe durch die Ausstellungsräume. Ich genieße die einmalige Stimmung, wenn das Licht der untergehenden Wintersonne die „Galerie der 7 Millionen“ in orange-rotes Licht taucht.

Flüsternde Stimmen in der „Galerie der 7 Millionen“
In Schubladen ruhen hier die Erinnerungen an rund 2000 der 7,2 Millionen Männer, Frauen und Kinder, die zwischen 1830 und 1974 über Bremerhaven ausgewandert sind. Fast meine ich, ihr Flüstern zu hören, wenn ich – mal hier, mal da – einen kurzen Einblick in den wichtigsten Moment ihres Lebens nehme und Passagierlisten ihre Geschichte erzählen: Ich lese von Zielorten, Abfahrtsdaten, Berufen. In der Weihnachtszeit berührt mich eine Schublade, eine Biographie ganz besonders: Es ist die von Martha Hüner.
New York, Weihnachten 1923
Sie ist 17, als sie sich im Jahr 1923 zur Auswanderung entscheidet. Eine Zeit, in der Skype und Smartphones die Lieben zu Hause noch nicht auf Knopfdruck näherbringen und ein Abschied schwer wiegt. Als das Schiff „München“ am 10. Dezember die junge Frau in den vorweihnachtlichen Trubel New Yorks entlässt, wird sie von ihren bereits ausgewanderten Tanten herzlich begrüßt. Während ich ihrer Geschichte an der Hörstation lausche stelle ich mir gerne vor, wie sich Martha gefühlt haben muss… Aus Bremerhaven stammend hat sie sicherlich noch nie eine so große Stadt wie New York City gesehen. Die Fahrt im Taxi durch den weihnachtlich geschmückten „Big Apple“ muss Martha den Atem geraubt haben. Und ich fühle mit, wenn ich höre, dass sie am Weihnachtsfest Heimweh hatte und sich nach ihrer Familie in Bremerhaven sehnte.

Eine Pferdebürste im Museum?!
Besonders fasziniert mich auch die Pferdebürste, die in der die Hörstation ergänzenden Vitrine liegt. Bei meinem ersten Besuch im Deutschen Auswandererhaus vor einigen Jahren habe ich mich gefragt: Wieso liegt da eine Pferdebürste im Museum? Jetzt weiß ich: Was zählt, ist die Geschichte nicht nur hinter der Pferdebürste, sondern hinter allen Ausstellungsobjekten. Sei es ein Brief, ein Pass oder eben ein Alltagsgegenstand wie ein T-Shirt oder eine Flasche. Aber zurück zur Bürste: Sie ist ein Erbstück von Marthas Familie, das einzige Überbleibsel des ehemaligen Familienbauernhofs. Marthas Vater gibt sie ihr mit folgenden Worten mit auf die Reise:
Die nimm du man mit. Ick krieg in Bremerhaven doch keen Perd mehr. Gewiss heiratst Du in Amerika ’n Cowboy.
Ob sie wirklich einen Cowboy geheiratet hat, möchte ich nicht verraten. Nur so viel: Die Bürste hat Martha ihr ganzes Leben lang begleitet…
Auf Marthas Spuren in der Ausstellung
Intensiviert wird das oben angesprochene „Mit-fühlen“ nicht zuletzt dadurch, dass ich in der Ausstellung selber zur Auswanderin werde – zum Glück ohne all die negativen Begleiterscheinungen wie schlechtes Wetter, wirtschaftliche Not oder allumfassende Unsicherheit. Denn in einer freien Minute kann ich „mal eben“ das umsetzen, wovon viele (Historiker) träumen: Ins Jahr 1888 reisen. An der Kaje stehend lasse ich die imposante Größe des Dampfschiffs „Lahn“ auf mich wirken und stelle mir vor wie das so wäre, an Bord zu gehen und Deutschland für immer zu verlassen. Oder ich mache eine Stippvisite in den verschiedenen Schiffskabinen der Ausstellung. Ihr wolltet schon immer mal wissen, wie es sich so auf einem Segelschiff im Jahr 1850 gelebt hat? Hier erlebt ihr es hautnah! Der enge Raum mit einer Ölfunzel und den knarrenden Wanten ist für mich definitiv einer der eindrücklichsten Museumsräume und erinnert mich an die Träume, die die Auswanderer mit in die Neue Welt nahmen. Mit dabei bei einem Besuch ist natürlich immer „euer“ Emigrant. Denn nicht nur Martha Hüners Geschichte könnt ihr in der „Galerie der 7 Millionen“ oder an anderen Hörstationen miterleben; insgesamt gibt es 18 Biographien, die ganz private Einblicke in die Schicksale erlauben.

Von Einwanderung und Weihnachtskarten
In dem preisgekrönten Migrationsmuseum erlebt ihr jedoch nicht nur Aus-, sondern auch Einwanderungsgeschichte. Ich selbst war im Jahr 1973 zwar noch nicht geboren, aber der Kiosk am Eingang des zweiten Ausstellungsteils sorgt auch bei mir für leuchtende Augen: „Capri-Sonne“, Esspapier und Co. erinnern an Ausflüge nach Schulschluss zum Zeitungs- und Süßwarenhändler um die Ecke. In der Ladenpassage höre ich von älteren Besuchern oft: „Ach ja, so war das früher“ …. Als das Eis 30 Pfennig kostete, mit „richtigen Kameras“ fotografiert wurde, und – wie ich heute erfahren musste – „Capri-Sonne“ noch „Capri-Sonne“ hieß. Und nicht „Capri-Sun“. Hier nehme ich ebenfalls eine andere Identität an und erkunde als Hugenotte, Wanderhändler, „Gastarbeiter“ oder Bürgerkriegsflüchtling die Auslagen des Lebensmittelladens oder aber des Fotogeschäftes. Dann natürlich mit „fremden Augen“, zumal sich dazwischen auch die Erinnerungsobjekte der Einwanderer „verstecken“ und bei genauem Hinsehen ihre Geschichte erzählen. Doch das ist – ihr erratet es richtig – eine andere Geschichte.

Wenn mir in Anbetracht des nahenden ersten Advents der Sinn nach Weihnachten und Familie steht, führt mein Weg in die aktuelle Sonderausstellung „…Good Music…“, in der über 130 Originalbriefe zweier Auswanderer aus Hessen zwar Einblicke in deutsch-amerikanische Musikgeschichte gewähren, aber auch in ihr Privatleben. Und die Weihnachtskarten, die sich unter diesen Briefen befinden, sind wirklich wunderschön ….
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Die Sonderausstellung „…Good Music…“ Zwei deutsche Musiker in Amerika 1880 bis 1939 ist noch bis Mittwoch, 31. Januar 2018, zu sehen. Sie erzählt die Geschichte der Gebrüder Schütz, die ihr bäuerliches Leben in Deutschland hinter sich lassen, um in New Jersey bei New York als Berufsmusiker zu arbeiten. In ihrem umfangreichen Briefnachlass schreiben sie von ihren Erlebnissen und der Musikrevolution in Amerika.
Öffnungszeiten: März – Oktober: 10.00 bis 18.00 Uhr; November – Februar: 10.00 bis 17.00 Uhr. Letzter Einlass eine Stunde vor Schließung.
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