Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven rundumerneuert sich bis zum 26. Juni 2021 und eröffnet dann nicht nur einen ganz neuen Anbau, sondern wird vieles in seiner bisherigen Ausstellung ergänzt und erweitert haben. Für mich als Volontärin im Pressebereich ist das eine tolle Gelegenheit eine Vielzahl außergewöhnlicher Künstler*innen und Handwerker*innen bei ihrer Arbeit zu beobachten, die einem vermutlich selten so geballt in zwei Jahren Museumsarbeit begegnen. Als jemand, der sich schon lange für die Geschichte der Mode interessiert, bin ich von einem Bereich besonders gefesselt: der Restaurierung von Textilien.

Dinge schreiben sich in Menschenleben …
Kaum etwas ist so faszinierend für mich im Deutschen Auswandererhaus wie die persönlichen Erinnerungsstücke der Aus- und Einwander*innen, die sie während ihrer Migration begleiteten und die schon vor dem Umbau in vielen Teilen des Museums ausgestellt waren. Ich erfahre, wie die Dinge mit einer ganzen Lebensgeschichte zusammenhängen und grübele darüber nach, wie oft die Halskette, das goldene Souvenir aus der Zeit in Übersee, wohl mit einer schönen Erinnerung um den Hals gelegt wurde oder frage mich, wo wohl das alte Spielzeug aus der Heimat seinen Platz in der neuen Wohnung gefunden haben mag.

… Menschenleben schreibt sich in Dinge
Bald werden über 300 Sammlungsstücke die bisher gezeigten Objekte und Geschichten in der Ausstellung ergänzen. Sie sind durch die Gebrauchsspuren im Laufe der Leben ihrer Besitzer*innen zu Unikaten geworden. Es gibt keinen Grund diese Spuren zu verwischen. Das sagt auch die Stoff- und Lederrestauratorin Carmen Markert, die mit ihrer Arbeit grade Teil des großen Ausstellungsprojekts im Deutschen Auswandererhaus ist.

Sie zeigt bei einem ihrer Besuche eindrucksvoll, wie sich mitten im Stoff eine Geschichte verbirgt: Einige Blicke auf ein kleines, handgefertigtes Kinderkleid verraten ihr, dass es wohl früher ein anderes Kleidungsstück gewesen sein muss. Man sieht Einstiche ehemaliger Nähte, Abriebspuren, die von anderer Nutzung des Materials sprechen, Nähte, die offenbar einige Wäschen und Verwaschungen nach dem Stoff zum Kleiderstück hinzukamen. Spannend. Ich wüsste wohl nur aus der Sammlungsgeschichte, dass es in der Ukrainischen Sowjetischen Sozialistischen Republik von einer Großmutter für die Enkelin gefertigt wurde. Die Familie lebte nach dem Zweiten Weltkrieg in großer Not. Das Kleid brachte die erwachsene Enkelin als Erinnerung mit nach Deutschland.
Aber wenn Carmen Markert nicht hier ist, die Objekte aussehen zu lassen „wie neu“, was macht die Restauratorin im Museum in dieser heißen Phase der Ausstellungsgestaltung?

Sorgenkinder Sammlungsstücke
Für alle Museumsmacher*innen gibt es eben durch die Geschichten in und an den Dingen Gründe zur Sorge, wenn sie an ihre Sammlung denken: Diese Sorgen lassen sich beschreiben als „Vergessen“, „Zahn der Zeit“, „Vergänglichkeit“ oder „Verfall“. Gegen das individuell-menschliche Vergessen gibt es zum Glück die Schrift, das Tonband, das Video und das Gespräch. Doch der Rest, die Objekte? Die chemischen Verbindungen der Materialien lösen sich auf, sie reagieren mit den Substanzen in ihrer Umwelt und verändern ihren Zustand. Temperatur, Luftfeuchtigkeit, Handschuhe über schwitzigen Händen oder auch Lichtverhältnisse machen in Depots und Archiven einen lebens(geschichten)wichtigen Unterschied. Und: Viele Naturmaterialien werden von lebenden Organismen verkonsumiert, wie etwa Pilze oder aasfressende Insekten.

Ausstellen oder nicht ausstellen, das ist hier die Frage
Oder anders: In Vitrinen ausstellen, mit viel Licht, feuchter Atemluft der Besucher*innen und Temperaturschwankungen durch die menschenfreundlich eingestellte Heizung, ist so gesehen immer eine kleine Angstpartie für alle, die die Objekte erhalten wollen. Und gleichzeitig ist es gerade wichtig sie zu zeigen und ihre Geschichten zu erzählen. So braucht es Wissen über Materialkunde, Chemie, Physik, Lebenszyklen von Insekten und natürlich von der handwerklichen Herstellung der Sammlungsobjekte um herauszufinden, wie man solche Verfallsprozesse, wenn nicht vollkommen stoppen, doch wenigstens so gut wie möglich verlangsamen oder vielleicht sogar ein Stück weit unsichtbar machen kann. Deshalb konsultieren die Wissenschaftler*innen des Deutschen Auswandererhauses Restaurator*innen wie Carmen Markert aus Hannover, ihre Vor-Praktikantin Laura van der Put und Restauratorin Eva Kümmel (Lübeck).

Kluge Lösungen für sensible Stoffe
Das Spezialgebiet der drei sind Stoff und Leder. Viele Erinnerungsstücke im Bremerhavener Migrationsmuseum sind aus diesem Material: Plüschtiere aus Wolle, Kleidung, die zu besonderen Festen oder Traditionen getragen wurde, ein Schal gefertigt von der Mutter, die nicht mit ins neue Land kam, oder auch das Banner des Vereins, der einem im Einwanderungsland ein kleines Zuhause bot. Sie alle können Motten anziehen, ausbleichen oder – so lerne ich – wenn sie falsch aufgehängt werden, sogar durch ihr eigenes Gewicht Risse bekommen. Ein furchtbarer Gedanke, eines Tages eines dieser Dinge in einer neuen Vitrine ausstellen zu wollen und beim Herausnehmen aus der alten plötzlich zwei in der Hand zu halten. So berieten die Wissenschaftler*innen mit Carmen Markert zusammen lange über sogenannte „konservatorische Hängungen“, die sicher sind – und auch ästhetisch ansprechend sein sollen. Einige Erinnerungsstücke sind so empfindlich, dass sie zweifeln lassen, ob es klug ist, sie auszustellen. Andere bieten Raum für spannende Ausstellungsideen, die sie beinahe zum Schweben bringen.

Praktische Hilfe bei der Textilrettung
Die Restaurator*innen helfen aber auch ganz praktisch bei der Ausstellungsrealisierung mit: etwa bei der markanten, großen Flagge, die seit 2012 im „Grand Central Terminal“ hängt und einen wichtigen Blickfang in dem beeindruckend inszenierten Bahnhof darstellt. Vorbesitzerin war das Kind einer Auswanderin, die früh verstorben war. Mädchen und Flagge kamen 1908 gemeinsam mit dem Vater aus Kalifornien nach Drakenburg an der Weser und blieben bei den Verwandten, während der Vater fortging und nicht zurückkehrte. Eine traurige Geschichte vom „Nirgendwo-Hingehören“ in Form eines Nationalsymbols.

Das über hundert Jahre alte, meterhohe Leinentuch, das die Familie des Mädchens aufhob, begann unschöne Wellen zu werfen. So trennten es die Expert*innen Millimeter um Millimeter von seiner Aufhängung und brachten es mit farblich passendem, chemisch ungefährlichem Garn und feinsten Nadelstichen in vielen Stunden wieder neu auf den Hintergrund auf. Eine präzise Fleißarbeit, die ohne Vergleich eigentlich nicht zu sehen wäre. Was ich sehe, ist nur die Flagge. Denn das ist vermutlich das eigentümlichste an aufwändigen Restaurierungen und sorgsamen, unschädlichen Präsentationen: Sind sie gut, bleiben sie unsichtbar und stellen in den Mittelpunkt worum es geht – die Geschichte nicht nur hinter, sondern in den Dingen.

Von Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus
[bre_box title=“Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven“ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ title_color=“#FFFFFF“ radius=“5″]Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr zum Museum,spannende Handwerksberichte bis zur Eröffnung am 26. Juni und alle wichtigen Fakten für den Besuch:
www.dah-bremerhaven.de
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