Es ist Anfang Januar 2023 als ich mein Praktikum am Deutschen Auswandererhaus beginne. Ein neues Jahr und irgendwie auch ein Neuanfang, denke ich mir. Damit verbunden ist bei mir auch die Hoffnung, dass dieses Jahr hoffentlich etwas besser wird und ich erinnere mich, diesen Gedanken schon einmal gedacht zu haben.
Vielleicht ging es euch in den letzten zwei Jahren ja auch einmal so. Dass ihr inmitten einer globalen Pandemie zum Start des neuen Jahres halb im Ernst, halb im Spaß die Hoffnung geäußert habt, dass dieses Jahr einfach wieder besser werden muss. Es hatte ein bisschen was von ‚Groundhog Day‘, dem ikonischen Comedy-Film mit Bill Murray in der Hauptrolle, in dem seine Figur den selben Tag immer und immer wieder in einer Zeitschleife durchleben muss. Aber statt letztlich an seiner Situation zu verzweifeln, versucht er, nach anfänglichen Schwierigkeiten, das Beste aus seiner Lage zu machen. Und irgendwie haben wir das ja auch gemacht, zumindest größtenteils. Trotzdem habe ich die Hoffnung nicht aufgegeben, dass wir irgendwann wieder in diese ‚Normalität‘ zurückfinden, der Zeitschleife entkommen können.
Was ich an diesem Januartag noch nicht geahnt habe: dass Hoffnung auch eine große Rolle in den Geschichten spielt, die mir in meiner Zeit am Deutschen Auswandererhaus begegnen werden. Nur das es sich bei diesen, anders als bei der mit Bill Murray, nicht um eine lustig-unterhaltsame Erfindung aus Hollywood handelt.
An meinem ersten Tag im Praktikum werde ich von meiner Kollegin durch die Ausstellung geführt und dem gesamten Team vorgestellt. Eine Menge Namen, denke ich mir, und irgendwie auch zu viele, um sie sich alle beim ersten Hören zu merken. Und ich erinnere mich an meinen letzten Besuch im Auswandererhaus. Ungefähr zehn Jahre dürfte das nun her sein. Zeit genug, um erneut über Altes zu staunen und auch um neue Dinge zu entdecken.
Von der alten zur neuen Heimat
Einige Tage danach stehe ich erneut in der Ausstellung, dieses Mal allein, und finde mich an der Kaje wieder. Eine hoch aufragende, dunkle Schiffswand und davor, dicht gedrängt und im gedimmten Licht, die Figuren der Auswander:innen. Während ich dort stehe, inmitten dieser dicht gedrängten Versinnbildlichung von über sieben Millionen Menschen, kommt mir der Gedanke, was sie in diesen letzten Momenten vor ihrer Abfahrt wohl empfunden haben. Denn lange Zeit bedeutet eine Auswanderung einen endgültigen Abschied von der alten Heimat, aber eben auch immer einen Neuanfang. Oft ist ein solcher geprägt von der Ungewissheit über das eigene Schicksal in der neuen Heimat und von der Hoffnung auf bessere Lebensumstände.
Etwas später stoße ich auf eine eben solche Auswanderungsgeschichte. Sabine Schastok wurde 1939 in Oberschlesien geboren, erfahre ich. Sechs Jahre später macht sie ihre erste Migrationserfahrung. Sabine und ihre Familie müssen nach Kriegsende aus ihrer Heimat gen Westen fliehen. In ihrem Ankunftsort Bad Zwischenahn in Ostfriesland werden sie feindselig empfangen, die Kinder der Familie als Flüchtlinge ausgegrenzt. Kein Wunder also, dass Sabine später von einem anderen Ort träumt: den USA. Mit 19 Jahren macht sie sich auf, diesmal alleine. Zuerst nach London, denn von dort gibt es bessere Chancen für die ersehnte Einreise in die USA.
Die Geschichte von Sabine ist in ihrer Form selbst unter denen im Auswandererhaus etwas Besonderes, die Gründe für ihr Handeln finden sich aber auch in den Biografien Anderer wieder. Die Geschichten der über sieben Millionen Menschen, die allein im 19. und 20. Jahrhundert über Bremerhaven auswanderten, sind häufig geprägt von Krisen, Kriegen und der Hoffnung, anderswo ein besseres Leben führen zu können.
Vom Abschließen und Neuanfangen
Dabei treffe ich bei meinen Rundgängen durch die Ausstellung nicht nur auf die Geschichten von Menschen wie Sabine, also jener, die Deutschland hinter sich ließen. Ich begegne auch den Geschichten derer, die ihre Heimat verließen oder verlassen mussten und die hofften, hierzulande etwas Glück finden zu können. Im Saal der Debatten und im Salon der Biografien II erfahre ich ihre Geschichten und Erlebnisse, manchmal aus zweiter Hand oder oft sogar von ihnen selbst. In Videointerviews und Tonaufnahmen berichten sie aus ihren Leben. Und ich erfahre von den Widrigkeiten, die sie hier erleben und erlebt haben.
Eine eben solche Geschichte erwartet mich in Form eines Schlüssels. Im ersten Moment ein unscheinbar anmutendes Objekt, aber vielleicht hat es ja gerade deshalb mein Interesse erregt. Und ich erfahre, dass dieser Schlüssel zu einer Wohnung in Serbien gehört. Bewohnt haben diese Wohnung vor über 20 Jahren Gordana und Zoran Nikolic, zusammen mit ihrer Tochter Katharina. Zoran Nikolic war Soldat in Serbien, inmitten der Kriege, die im Gebiet des ehemaligen Jugoslawien tobten. Für die Familie eine traumatische Zeit. Als er 1998 erneut kämpfen soll, dieses Mal im Kosovo, fasst die Familie gemeinsam den Entschluss aus Serbien zu fliehen. Ein letztes Mal verschließt die Familie die Tür ihres Zuhauses und tritt nur mit dem Nötigsten, denn sie wollen niemanden über ihre Flucht alarmieren, ihre Reise nach Deutschland an.
Von Hoffnung und Ungewissheit
Zwei Geschichten, die in ihren Erlebnissen kaum unterschiedlicher sein könnten, mir aber doch das Gefühl einer Ähnlichkeit vermitteln. Denn ob Aus- oder Einwanderung, in beiden Fällen lässt man etwas zurück: eine Heimat. Aber man nimmt auch etwas mit. Erlebnisse und Erinnerungen, sowohl Gutes als auch Schlechtes.
Ich erfahre, dass Sabine Schastok erst zwei Jahre nach ihrer Ankunft in London das Angebot erhält, in den USA bei einer wohlhabenden Familie als Köchin zu arbeiten. Im selben Jahr besucht sie noch einmal ihre Familie in Bad Zwischenahn, aber schon einen Monat später reist sie von der Kaje in Bremerhaven aus in die neue Welt.
Und Familie Nikolic? Zuerst kommen sie bei Verwandten in Dortmund unter, doch nachdem sie einen Asylantrag gestellt haben, geht es weiter: diesmal nach Cuxhaven. Aber ihre Zukunft ist keinesfalls sicher, die Aufenthaltserlaubnis der Familie muss halbjährlich erneuert werden und die Angst vor der Abschiebung ist ein ständiger Begleiter.
Und am Ende die Realität
Vielleicht fragt ihr euch jetzt dasselbe, was ich mich gefragt habe. Wie gehen diese beiden Geschichten aus? Haben sich ihre Hoffnungen erfüllt und gibt es vielleicht sogar ein Happy End?
Sabine erreicht die USA zuerst über den Hafen in New York. Nach einigen Startschwierigkeiten, die zwei Eisenbahnstreiks und eine kurze Beschäftigung als Dolmetscherin umfassen, gelangt sie schließlich nach Jacksonville in Florida. Dort bleibt sie drei Jahre, bis es sie in andere Gefilde zieht. Sie geht nach Washington und beginnt eine Ausbildung zur Buchhalterin und Typistin. Im Jahr 1963, drei Jahre nach ihrer Ankunft in den USA, lernt sie ihren Ehemann Kevin Joyce kennen. Die beiden bekommen zwei Kinder und ziehen auf eine Farm im Bundesstaat Maryland. Dort lebt die Familie noch heute und erst im letzten Jahr hat Sabine ein Buch über ihr Leben und ihre Reisen geschrieben.
Das Schicksal der Familie Nikolic bleibt hingegen lange ungewiss. Erst sieben Jahre nach ihrer Ankunft in Deutschland erhalten sie die Gewissheit, dauerhaft bleiben zu dürfen. Gordana und Zoran haben es geschafft ihren vorübergehenden Aufenthaltsort zu ihrem neuen Zuhause zu machen. Und sie haben sich eine Wohnung gekauft. Auch Tochter Katharina ist es gelungen sich hier, trotz anfänglicher Schwierigkeiten in dem neuen und fremden Land, mit ihrem Mann und zwei Kindern eine dauerhafte Existenz aufzubauen. In Serbien waren sie alle drei bereits wieder, aber einzig Katharina verspürte den Wunsch noch einmal in die alte Wohnung zurückzukehren, um ihr Kinderzimmer wiederzusehen. Dieser Wunsch blieb ihr jedoch verwehrt, denn die Menschen, die heute dort leben, wollten sie nicht hereinlassen.
Gestern und Heute
Diese zwei Biografien sind anders als viele der, teilweise Jahrhunderte alten Biografien, auf die ich in der Ausstellung stoße, recht moderne Migrationsgeschichten. Das merke ich alleine daran, dass die Protagonist:innen alle noch am Leben sind und so die Möglichkeit haben, ihre Geschichten auch selbst zu erzählen. Die Gründe ihrer Migration – Flucht, Krisen, Vertreibung und die Hoffnung auf eine bessere Perspektive an einem anderen Ort – finden sich aber epochenübergreifend in vielen Migrationsgeschichten wieder. Sie bilden eine Brücke von der Vergangenheit ins Heute. Diese Kontinuität inmitten von Millionen von Einzelschicksalen ist es, was für mich die Faszination an all diesen Menschen und ihren Geschichten, die im Deutschen Auswandererhaus erzählt werden, ausmacht. Und vielleicht ging es ein paar von ihnen ja so, wie einigen von uns und wir teilten zu Beginn eines neuen Jahres die Hoffnung, dass dieses ein wenig besser wird, als das letzte.
Dominic Fassauer, Praktikant Deutsches Auswandererhaus
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
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Die nächste Sonderveranstaltung „Speisen auf Reisen: Rum“ findet am 22. Februar 2023 statt.
Das aktuelle Programm für die Osterferien finden Sie auf der Seite des Museums unter:
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