Der Anblick der Kaje im Deutschen Auswandererhaus löst bei mir immer wieder Gänsehaut aus. Die Auswandernden, die dort auf ihre Überfahrt warten, wirken wie eingefrorene Momente voller Erwartung an ein bevorstehendes neues Leben. Diese bittersüße Szenerie fängt Abschied und Ungewissheit ebenso ein wie Hoffnung und Träume und begleitet mich beim Gang durch die gesamte Ausstellung.
Veränderung bedeutet Mut
Mit Anfang 20 habe ich das Gefühl, dass mein Leben gerade erst richtig Fahrt aufnimmt. Ein Studium abschließen, von zuhause ausziehen, eine neue Stadt, neue Begegnungen, neue Erfahrungen. Vieles, was ich gerade erlebe, fühlt sich an wie ein Neuanfang. Oder wie der Anfang vom Erwachsen sein, auf sich allein gestellt sein. Und manches davon anzugehen, bedeutet auch mutig zu sein.
Bei meinem Praktikum im Deutschen Auswandererhaus ist die Arbeit mit Geschichten, in denen Menschen mutig ihr Schicksal in die Hand nehmen, allgegenwärtig. Wenn ich durch die Ausstellung schlendere, packt mich immer wieder der Gedanke, wie es für mich wäre, jetzt auszuwandern. Ich frage mich, ob ich genügend Mut gehabt hätte, ganz allein in ein mir fremdes Land auszuwandern. Fremde Sprache, fremde Kultur, fremde Menschen. Und ich weiß: Heute wäre dieser Schritt ungleich leichter als früher.

Ein Schritt voller Unsicherheit
Auswanderungsziele wie die USA, die im Auswandererhaus zentral thematisiert werden, sind uns heute gar nicht mehr so fremd. Durch Internet und Social Media bekommen wir täglich Eindrücke über Leben, Kulturen und Menschen, selbst in weit entfernten Ländern. Ein Auswandern erscheint dadurch greifbar, planbarer und weniger unsicher.
Ein Blick in die Ausstellung des Auswandererhauses zeigt jedoch, dass das früher grundlegend anders war. Menschen, die in den vergangenen Jahrhunderten ihre Heimat verließen, hatten oft kaum verlässliche Informationen über ihr Zielland. Vieles beruhte auf Hörensagen, Reiseberichten oder Gerüchten, die man nicht überprüfen konnte. Manche gingen mit großen Hoffnungen auf Erfolg, Wohlstand und schnelle Integration, andere mit der Angst, auf unüberwindbare Hürden zu stoßen. Die Unsicherheit war allgegenwärtig. Sie wussten nicht, ob sie in der neuen Umgebung Anschluss finden würden. Ob sie dort Arbeit oder eine Ausbildung bekommen, Freunde finden, ob ihnen das neue Klima behagen würde oder ob sie schnell die Sprache würden lernen können. Für die meisten bedeutete die Entscheidung zur Auswanderung deshalb, ins Unbekannte aufzubrechen.
Eine kleine Holzschnitzerei mit viel Bedeutung
In der Ausstellung stoße ich immer wieder auf Geschichten von jungen Menschen, die schon als Jugendliche ihre Heimat verließen. Ihre Lebenswege berühren mich besonders, weil sie sich in einer Phase befanden, die meiner gar nicht so fern ist, aber doch so viel schwerere Entscheidungen tragen mussten.
Im Salon der Biografien 1 des Museums wird genau solchen Biografien Raum gegeben. Hohe Vitrinen mit Ausstellungsobjekten erzählen, wie unterschiedlich die Erfahrung der Auswanderung in verschiedenen Lebensphasen ist. Vor der Vitrine, die der Auswanderung während der Jugend gewidmet ist, bleibe ich stehen und betrachte die filigrane Holzschnitzerei von Christoph Diehl. Sie wirkt auf den ersten Blick, wie ein stilles Kunstwerk. Doch dahinter steckt eine von den zunächst unscheinbar wirkenden Geschichten von Auswandernden, die aber bei genauerem Blick so viel mehr erzählen.

Ein Jugendlicher wagt den Schritt
Christoph Diehl, geboren 1891 in Wiesbaden, arbeitete als Jugendlicher auf einem Golfplatz in Bad Nauheim als Balljunge. Dort traf er 1906 auf den amerikanischen Unternehmer Thomas Hayward. Dieser war begeistert von Christoph Diehls Talent in der Holzschnitzerei und entschied sich dazu seine Förderung zu übernehmen und ihn mit nach Baltimore zu nehmen. In Baltimore arbeitete Christoph Diehl ab 1906 in der Firma von Hayward und bekam die Schulkosten für das Maryland Institute, eine Schule für Kunst und Design, von Hayward gestellt. Doch seine angehende Karriere als Künstler endete schon bald. 1908 erkrankte Christoph Diehl an Typhus und starb nach dreiwöchiger Krankheit.
Seine kurze, aber bewegte Biografie zeigt, wie jung viele der Auswandernden tatsächlich waren. Ich versuche mir Christoph Diehls Situation als Jugendlicher vorzustellen: Mit gerade einmal 15 Jahren alles Vertraute hinter sich zu lassen und in ein fremdes Land aufzubrechen. Unvorstellbar für mich – zu jung, zu unerfahren, zu unselbstständig erscheinen mir Jugendliche dieses Alters. Ein solcher Schritt war sicherlich nicht allein zu bewältigen.

Unterstützung durch den St. Raphaels-Verein
Und in der Tat: Ich erfahre, dass Christoph Diehl nicht ganz auf sich allein gestellt war! Erst vor kurzem stellte meine Kollegin Dr. Tanja Fittkau die Biografie von Christoph Diehl für zwei kurze Filme des Raphaelswerk e.V. vor. Hier erfahre ich, dass Christoph Diehl auf seinem Weg in die USA entscheidend durch den St. Raphaels Verein (die Vorgänger Institution des heutigen Raphaelswerks) unterstützt wurde.

Vor dieser Entdeckung kannte ich den St. Raphaels-Verein und seine Rolle in der deutschen Auswanderungsgeschichte nicht. Doch auch seine Geschichte ist schon lange Teil der Dauerausstellung des Deutschen Auswandererhauses. Gegründet wurde er 1871, zwar aus katholischen Kreisen heraus, doch seine Arbeit reichte weit über den religiösen Rahmen hinaus. Im Mittelpunkt stand die praktische Unterstützung von Auswandernden: Der Verein half bei der Organisation von Fahrkarten, vermittelte Arbeits- und Unterkunftsmöglichkeiten und stellte Kontakte in der neuen Heimat her. In einer Zeit, in der Informationen schwer zugänglich waren, bot er Orientierung, Sicherheit und ein Stück Verlässlichkeit. Ein wichtiger Teil war zudem die Begleitung durch sogenannte Vertrauensmänner, die den Kontakt zu den Familien hielten und für die jungen Auswandernden Ansprechpartner blieben. Ein solcher Vertrauensmann für Christoph Diehl war Theodor Meynberg. Dieser unterstützte Christoph auf seinem Weg in die USA. Außerdem hielt er den Kontakt zu Christophs Vater und stellte sicher ihn über alle Schritte dessen Sohnes per Brief zu informieren.

Orientierung auf neuen Lebenswegen
Christoph Diehls Biografie macht deutlich, dass Auswanderung immer mehr war als nur ein Ortswechsel. Es war ein Sprung ins Unbekannte. Für Jugendliche wie ihn bedeutete dieser Schritt in einer Lebensphase voller Unsicherheit plötzlich Verantwortung für die eigene Zukunft zu übernehmen. Der St. Raphaels-Verein stand ihnen dabei zur Seite.
Dass das Raphaelswerk bis heute Auswandernde über Beratungsangebote und digitale Informationswege unterstützt, zeigt mir, wie zeitlos das Bedürfnis nach Orientierung und Halt in Momenten des Aufbruchs ist. Und genau das macht die Geschichten, denen ich im Museum begegne, so berührend und zugleich so aktuell. Denn den Mut, wenn auch durch Hilfe, aufzubringen, Bekanntes hinter sich zu lassen, und die Hoffnung zu haben, dass im Unbekannten etwas Gutes wartet, ist eine Erfahrung, in der sich wohl jeder von uns wiederfinden kann.
Infos zur Ausstellung
Das Auswandererhaus ist täglich von 10 bis 18 Uhr (ab November bis 17 Uhr) geöffnet.
In den Herbstferien werden wieder eine Vielzahl verschiedener Führungen – von der Highlight-Führung bis zur Familienführung angeboten.
Alle Termine findet ihr unter https://dah-bremerhaven.de/events
Florine Sophie Ihmels, Praktikantin Deutsches Auswandererhaus
