Grüne Wiesen ziehen vorbei, unterbrochen vom leuchtenden Weiß eines einzelnen Hauses. Ein Kirschbaum hüllt sich in rosafarbene Blüten. Kleine Büsche zieren Vorgärten. Zwischen dunkelgrünem Nadelwald eine Lagerhalle mit Lastwagen in Rot und Gelb. Ein Auto hält eine Weile das Tempo, verschwindet hinter ein paar Häusern, taucht wieder auf. Langsam lässt das Licht nach.
Ein kleines Stück New York
Trotzdem geht es keinen Meter vorwärts. Die Holzbank, auf der ich sitze, steht fest verankert in einem Teil-Nachbau des Grand Central Terminals. Ein Stück New York mitten in Bremerhaven, im Herzen des Deutschen Auswandererhauses. Wer sich hier niederlässt, ist auf den Spuren historischer Auswander*innen die Gangway eines Dampfschiffs hinaufgeschritten, hat dem Schnarchen im Zwischendeck gelauscht und den Einreisetest auf Ellis Island absolviert – genau wie die mehr als zwölf Millionen Menschen, die zwischen 1892 und 1954 über diese Einwanderungsstation in die USA einreisten. Für die meisten von ihnen ging die Reise per Zug weiter. Was mögen sie unterwegs gesehen haben?
Schlaflos auf der Lake-Shore-Line
Die abwechslungsreiche Landschaft, die ich betrachte, zieht auf sechs großen Bildschirmen vorüber, eingerahmt von den rankenverzierten Gittern der Fahrkartenschalter. Aufgenommen hat sie der Kameramann James Carman auf der Lake-Shore-Line zwischen New York und Chicago. 2021 filmt er die 19-stündige Zugfahrt im Auftrag des Deutschen Auswandererhauses non-stop. Trotz Schlafwagenabteil und sorgfältiger Vorbereitung werden er und sein Assistent kein Auge zu tun. Die Stromversorgung schwankt stärker als gedacht, so dass die Batteriebackups im Dauereinsatz laufen müssen. Auch der Vollmond scheint weniger hell als erwartet. Doch schließlich findet sich die richtige Einstellung für die besonders lichtempfindliche Kamera, die die nächtliche Landschaft einfängt.
Unverhofft zum falschen Ziel
Knapp hundert Jahre vor ihnen ist Wilhelm Wulfes auf derselben Strecke unterwegs. Der junge Bäcker aus Deutschland möchte in den USA ein paar Jahre lang Geld verdienen. Von seinen ersten Wochen im Land berichtet er in einer Reihe von Briefen, die Hans Wulfes der Sammlung des Deutschen Auswandererhauses vermacht hat. Über die Fahrt von New York nach Chicago verliert Wilhelm nur wenig Worte. Die größte Herausforderung liegt da bereits hinter ihm. Zunächst landet er nämlich im falschen Zug. Aber nicht wegen mangelnder Sprachkenntnisse oder fehlender Hilfsbereitschaft, ganz im Gegenteil: Es wird zu gut darauf geachtet, dass er seinen Zielort erreicht.
„Jetzt heißt es frech lügen!“
Bei der amtlichen Befragung auf Ellis Island lässt sich Wilhelm nämlich zu einer folgenschweren Notlüge hinreißen, wie er in einem Brief vom 11. November 1922 schildert:
Frau Schröder kam zufällig vor mir zu stehen. Sie wurde gefragt wo sie hin will. Gibt die Adresse hier an. Nun konnte ich doch nicht die Adresse angeben, das wär doch aufgefallen. (…) Dann kam ich an die Reihe. Ich hatte mir gleich gedacht, jetzt heißt es frech lügen! Wo wollen Sie hin? – Nach Adam Schwab in Hunthington.
Briefe von Wilhelm Wulfes an seine Eltern, Chicago, 11./12. November 1922, Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Hans Wulfes
Zwar erhält Wilhelm die Erlaubnis zur Weiterreise, allerdings kombiniert mit einer Fahrkarte nach Huntington. Auch sein Gepäck wird direkt dorthin befördert. Ein persönlicher Begleiter bringt ihn zum Zug. Keine Chance, sich abzuseilen: „Die Schiffsgesellschaft muß dafür sorgen, daß die dritte Klasse Passagiere richtig da hin kommen wo sie wollen. Ich hatt die Adresse angegeben folglich mußte ich hin. (…) Und das schöne ist bei der Sache daß Adam Schwab nebst Gemahlin noch in Deutschland sind.“
Zum Glück trifft Wilhelm einen Landsmann aus Dresden, der ihn bei sich übernachten lässt. Und trotzdem: Wie aufregend und ungewiss muss sich reisen anfühlen, wenn der nächste Zug nicht mit einem kurzen Blick aufs Smartphone gefunden ist!
Reisende aus zwölf Jahrzehnten
Da hat es die junge Frau vor mir doch besser. Neben einem Mann mit Rucksack und Kaffeebecher blickt sie unverwandt auf ihr Smartphone. Selbst als ein Mädchen auf ihr Display linst, verzieht sie keine Miene. Sie gehört zu einer Gruppe lebensechter Figuren, die Reisenden aus den letzten 120 Jahre nachempfunden sind. Dazwischen schlendern Besucher*innen durch den Raum, bleiben vor einem Schaufenster mit Exilliteratur stehen, lauschen den Hörtexten einer Audiostation. Auch ich verlasse meine Bank und trete näher an einen der Fahrkartenschalter. Am unteren Rand des Bildschirms zieht ein dunkler Balken meinen Blick auf sich, darauf in weißer Schrift: „Wo ließen sie sich nieder?“
Kaum tippe ich den Balken an, zeigt mir eine Karte die häufigsten Ziele deutscher Auswander*innen im 19. und 20. Jahrhundert. Einen Fingerwisch weiter lese ich, wie andersartig die Tierwelt und das Klima in den Zielländern sein konnte. Die Hitze, aber auch die Feuchtigkeit war vielerorts ungewohnt und stellte nicht nur Landwirt*innen vor große Herausforderungen. Auch die Zugreisenden hatten unter ihr zu leiden.
Durst als Reisebegleiter
In Nordamerika bot sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts ein Netz günstiger Emigrant Trains für die Weiterreise gen Westen an. Die Verpflegung unterwegs gestaltete sich jedoch zunächst schwierig, da die Züge nicht warteten, bis sich die Passagiere an Zwischenhalten versorgt hatten. Die lokale Bevölkerung sollte den Kontakt mit den Durchreisenden meiden, weil diese angeblich ansteckende Krankheiten verbreiteten. Selbst für das Auffüllen der Wasserkrüge blieb bei den Zwischenhalten nur wenig Zeit, Durst war ein häufiger Reisebegleiter.
Erst 1913 entstanden auf staatlichen Druck erste Versorgungsstationen. Immerhin rechtzeitig für Wilhelm Wulfes, der es 1922 nach seinem unfreiwilligen Zwischenstopp doch noch zu seinem Bekannten in New York schaffte. Dieser organisiert die Nachsendung des Gepäcks, während Wilhelm per Nachtzug nach Chicago weiterreist. Doch auch hier will der gelernte Bäcker nach eigener Aussage nicht lange verweilen.
„Euer reicher Sohn und Bruder“
Zunächst tritt Wilhelm eine Stelle als Küchengehilfe an. „Die Arbeit hat mit meinem Fach nichts zutun. Kartoffeln schälen, Gemüse putzen und die dreckigen Kastrollen putzen. Werde hier nicht lange bleiben“, resümiert er – und notiert dennoch wenige Zeilen später: „Sonst bin ich gesund, und habe es noch nicht bereut hierher gekommen zu sein“. Selbstbewusst schließt er seinen Brief: „Viele Grüße sende Euch aus weiter Ferne Euer reicher Sohn und Bruder, denn wenn ich die nächste Woche Geld kriege habe ich schon ein paar hundert Tausend, wo sollt ich die wohl in Deutschland hernehmen“.
Wurzeln schlagen oder weiterziehen?
Zumindest anfangs scheint sich Wilhelm als Migrant auf Zeit zu sehen. Sein Ziel lässt sich nicht in Längen- und Breitengraden, sondern in Dollar messen. Ob er eine neue Stelle als Bäcker gefunden hat, die Stadt gewechselt hat oder nach Deutschland zurückgekehrt ist, verraten mir seine Briefe nicht. Ankommen ist nicht notwendigerweise ein geografischer Begriff, denke ich, als ein Zischen den Raum mit den hoch aufragenden Marmorwänden durchschneidet. Ein metallisches Quietschen, ein dumpfes Brummen, der Boden beginnt zu vibrieren. Eine Bahnhofshalle taugt jedenfalls für die wenigsten als Ort zum Wurzeln schlagen.
Gekommen um zu bleiben
In meinem Rücken mache ich eine andere Geräuschkulisse aus: leises Gläserklirren, Geschirrgeklapper, gedämpfte Musik. Als ich mich umdrehe, entdecke ich im warmen Dämmerlicht der Wandleuchter in einem Bogengang die geöffnete Tür der Old Town Bar. Hier treten die Verflechtungen derjenigen zutage, die sich zumindest vorerst fürs Bleiben entschieden haben. In Kneipen und Vereinen knüpfen sie neue soziale Netze. Doch so vielfältig sind die Geschichten vom Ankommen und Weiterreisen, die das Deutsche Auswandererhaus erzählt, dass mir der Übergang zwischen Ungewohntem und Vertrautem, zwischen zufälligem Zwischenstopp und Zuhause immer fließender erscheint. „Vielleicht ist endgültig Ankommen auch das Gegenteil von Leben“, sagt meine kluge Kollegin, als ich ihr meine Eindrücke schildere. Vielleicht hat sie recht.
Hanna Lippitz, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr zum Museum, aktuellen Ausstellungen, Tickets und Öffnungszeiten:
www.dah-bremerhaven.de
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