Wie das Deutsche Auswandererhaus ukrainische Migration in Echtzeit erforscht
Der Krieg in der Ukraine bringt für unsere Gesellschaft viele drängende Fragen mit sich: Wie lässt er sich stoppen? Wie und wo finden die Menschen, die fliehen müssen, ein neues Zuhause – wenigstens auf Zeit? Ein Besuch im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven zeigt, dass diese Fragen alles andere als neu sind. Sie finden sich auch in den dort gezeigten Migrationsdebatten im 20. Jahrhundert. Außerdem scheinen die Lebensgeschichten und Erinnerungsstücke von Menschen, die aus dem östlichen Europa migriert sind, aktueller denn je. Denn Geschichte wird in jedem Moment geschrieben.
Wenn mit dem Krieg die Flucht kommt
Der 24. Februar 2022 ist ein Wechselbad der Gefühle. Morgens checke ich die Nachrichten und die lange befürchtete Meldung ist da: Russland hat die Ukraine überfallen. Da klingelt mein Telefon – eine Bremerhavener Nummer ist dran. „Wir haben uns für Sie entschieden!“. Freude mischt sich mit dem Schock. In Kürze werde ich in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Deutschen Auswandererhaus beginnen. Das Museum erzählt mehr als 300 Jahre Migrationsgeschichte – unter den Ursachen für Migration findet sich auch immer wieder Krieg. Der aktuelle trieb seit Ende Februar laut UNO Flüchtlingshilfe 5,7 Millionen Menschen außer Landes, 7,7 Millionen flohen innerhalb der Ukraine. Im Land lebten bis 2022 insgesamt 43 Millionen Menschen.
Mich reißt die Situation so mit, da mir die Ukraine auch ganz unmittelbar vertraut ist. Durch mein Studium kenne ich Land und Leute. Und bevor ich meine neue Stelle antrete, reise ich im März 2022 durch Polen, um mir hier ein Bild der Lage zu machen. Als Nachbarland mit historisch engen Beziehungen und einer großen ukrainischen Arbeitsmigration hat Polen bisher den meisten Geflüchteten Erstaufnahme gewährt. Viele von ihnen waren zuvor noch nie im Ausland, erzählen sie. Im Dauertakt verkehren Sonderzüge, an den Kartenschaltern hält man mich mehrmals für eine Ukrainerin und will mir kostenfreie Tickets ausstellen.
Es scheint nur noch ukrainische Reisende im Land zu geben. Die Bahnhöfe in Warschau, Krakau und Breslau sind zu Schlafquartieren geworden, Verpflegung wird verteilt, alles läuft von der Basis aus. Freiwillige helfen gemeinsam mit der Feuerwehr, den Menschen die erste Ansprache zu bieten, die über Lwiw nach Polen eingereist sind. Sie wirken erschöpft, ausgehungert und orientierungslos. Manche ziehen in temporäre Unterkünfte, andere wollen gleich weiter – dorthin, wo sie jemanden kennen: nach Bukarest, nach Berlin, nach Vilnius oder auch nach Kaliningrad. Es ist ein ungewöhnliches, chaotisches Bild. Aber die Menschen halten durch, machen das Beste aus ihrer Lage, scherzen und weinen im Wechsel. Es ist das Bild eines überforderten, aber menschlichen Europa in Not.
Zurück in Deutschland merke ich, wie die Situation auf andere Weise, wenn auch nicht so offensichtlich im Stadtbild wie in Polen, unsere Gesellschaft beschäftigt. Auf dem Berliner und Hannoveraner Hauptbahnhof sind Infostände für die ankommenden Menschen aufgebaut, an denen aber kaum jemand steht. Freiwillige von der Bahnhofsmission sprechen schon im Zug die Ukrainer*innen gezielt an und erklären ihnen die Weiterreise.
Viel sichtbarer ist stattdessen die Diskussion um die Verteidigungsfähigkeit des Landes – Aufrüstung ist das Schlagwort. Ein erster Ruck geht durch die Gesellschaft, wenn Bundeskanzler Scholz am 27. Februar in einer Regierungserklärung die vielzitierte 180-Grad-Wendung ankündigt, die eine Investition in die Sicherheitspolitik von 100 Milliarden Euro bedeutet. In den Medien finde ich zahlreiche Artikel, die neben den Kriegsschrecken auch die Folgen für die Russlandpolitik beschreiben. Die Unabhängigkeit von russischen Gas- und Öllieferungen wird mit jedem Tag, an dem Millionen Zivilist*innen in der Ukraine fliehen oder in belagerten Städten ausharren, drängender.
Bremerhaven als Schauplatz und Archiv von Migration
An meinem ersten Arbeitstag am Deutschen Auswandererhaus entdecke ich an der Kasse einen Aufsteller mit einer blau-gelben Ukraineflagge darauf. Daneben liegt eine Infobroschüre, die auf Ausstellungsstücke und Geschichten von Menschen aus dem östlichen Europa hinweist. Damit reagiert das Haus auf das in der Bevölkerung gestiegene Interesse an den historischen und kulturellen Zusammenhängen in Osteuropa, an den spannungsreichen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine. Viele fragen sich aus einer Mischung von Ohnmacht und Unverständnis: Wie kann es in unseren friedlichen Zeiten nach dem Ende des Kalten Krieges wieder zu offen militärischen Auseinandersetzungen kommen? Und dann auch noch in unserer unmittelbaren Nähe? Und welche Rolle spielt die EU und die NATO im Konflikt? Damit verbunden ist aber auch auf einer Alltagsebene das Interesse an historischen Spuren von Migration aus dem östlichen Europa, aber auch nach Osteuropa. Es sind Themen, die im Deutschen Auswandererhaus an vielen Stellen zur Sprache kommen.
Das Migrationsmuseum lebt vom Zusammenspiel persönlicher Geschichten und der Schilderung größerer historischer Zusammenhänge und Hintergründe. Nicht selten sind das Darstellungen von Migrationsdebatten in Einwanderungsgesellschaften – etwa in den USA im 20. Jahrhundert, aber auch in der Bundesrepublik Deutschland. Im eigens so benannten „Saal der Debatten“ können die Besucher*innen vier Streitfragen verfolgen, die die Zeit von 1949 bis 2000 prägten. Darunter etwa die Frage nach den Kosten für die Integration der acht Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus dem östlichen Europa in die BRD kamen, aber auch danach, wer in einem Land Schutz suchen kann. Zu dieser Frage wird exemplarisch die Reform des Asylparagraphen 1992 besprochen. Wenn ich die Tageszeitung aufschlage, erscheinen diese Fragen und Streitpunkte so gar nicht von gestern.
Gleichzeitig erlebe ich in meinen ersten Arbeitswochen, wie sich auch jüngst aus der Ukraine gekommene Menschen für das Migrationsmuseum interessieren. Sie erhalten bei Vorlage des ukrainischen Passes freien Eintritt und finden sich in den geschildeten Geschichten ein Stück weit wieder. Etwa in der Geschichte der Familie Fridrih, die 1992 aus der unabhängig gewordenen Ukraine als Teil der 220.000 sogenannten „Kontingentflüchtlinge“ nach Deutschland eingewandert ist. Diese mussten jüdische Vorfahren nachweisen und wurden dann ab 1992 vom gerade wiedervereinigten Deutschland eingeladen.
Im Jahr 2016 schenkte die Familie Fridrih dem Deutschen Auswandererhaus knapp 50 Objekte für seine Sammlung; darunter eine Reihe Postkarten und Fotografien, aber auch ein Kinderkleid, das von schweren Zeiten erzählt und für die Familie ideellen Wert hat. Das beige Kleid mit bunter Bestickung hängt heute in einer der vielen unterschiedlich großen Glasvitrinen im „Saal der Biographien II“, der sich an den „Saal der Debatten“ anschließt. Es ist ganz ruhig in diesem Raum, das gedimmte Licht lässt das Kleid beinah schweben. Wer sich auf die lange Bank davor setzt, hat einen guten Blick darauf und kann dank der Hörstation der Geschichte der Schenkerin Elena Fridrih lauschen. Ihr privates Erinnerungsstück wird in der Ausstellung zur Musealie – es vereint die private Geschichte mit der größeren historischen Situation der Nachkriegszeit in der Sowjetunion und der Migration nach deren Zerfall.
Tatjana, die Großmutter von Elena, nähte dem fünfjährigen Mädchen 1952 aus alten Stoffen das Kleid. Elena bewahrte es 40 Jahre lang bis zu ihrer Auswanderung nach Deutschland auf. Elenas Kindheit war bestimmt von den Wirren der Nachkriegsjahre. Zu der knappen Versorgung kam die komplizierte Familiengeschichte dazu. Ihr Großvater mütterlicherseits, ein Physiker, arbeitete unter deutscher Besatzung und wurde nach der Ankunft der Roten Armee verhaftet. Laut Familienerzählung wurde er in Haft zur Arbeit in einer geheimen Leningrader Forschungseinrichtung verpflichtet. Elenas jüdischer Vater Solomon war seit 1942 als Militärarzt der Roten Armee am Krieg beteiligt gewesen und diente bis 1970 in der Armee. Teil der Schenkung Fridrih am Deutschen Auswandererhaus ist auch ein Foto, vermutlich aus dem Jahr 1951, das ihn in seiner Soldatenuniform porträtiert. Als „Objekt des Monats“ ist es anlässlich des 8. Mai mit interessanten Hintergrundinformationen auf der Webseite des Deutschen Auswandererhauses zu sehen. Heute engagiert sich Elena in Gelsenkirchen für Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind. Die aktive und per Messenger-Dienste gut vernetzte Community organisiert nicht nur Solidaritätskundgebungen, sondern auch Übersetzer*innen für Arztbesuche, Behördengänge, Unterkünfte und Freizeitangebote.
Die Gesichter hinter den Debatten
Was bewegt rund um den 77. Jahrestag der Kapitulation der Deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg die deutsche Öffentlichkeit? Alles kreist um die schier unlösbare Frage, wie sich der Krieg beenden lässt und weiteres Leid abgewendet werden kann. Parallel dazu beobachte ich in den deutschen Medien und auf Social Media, aber auch live eine Migrationsdebatte, die sich um die Integration der 610.000 Menschen aus der Ukraine (Stand Mai 2022) dreht. Für sie gelten erleichterte Regelungen: Sie erhalten Sozialleistungen, gehen in Schulen und Universitäten. Trotz oder gerade wegen der gefährlichen Ausnahmesituation in ihrer Heimat versuchen sie, in Deutschland eine Bleibe auf Zeit zu finden und sich von den Kriegsschrecken zu erholen.
So tut es auch die 32-jährige Iuliia aus dem ukrainischen Dnipro, das 400 Kilometer südöstlich von Kiew liegt. Gemeinsam mit der Freundin ihrer Schwester und drei Kindern ist sie mit dem Auto durch die Ukraine, durch Polen, über Berlin bis nach Bremerhaven gefahren, vorbei an Checkpoints und über die Dörfer, um dem Beschuss zu entgehen. Am 11. März sind sie nach siebentägiger Fahrt in Bremerhaven angekommen. „Aktuell schreibe ich meine Biographie für das Museum auf“, erklärt sie. „Das Symbol meiner Flucht ist eine Stoffgiraffe. Sie heißt Ljusja“, erzählt Iuliia. „Meine Schwester schenkte sie mir 2013, ein Jahr bevor in der Ostukraine der Krieg ausbrach und sie Donezk verlassen musste. Sie war mein Glücksbringer während meines Auslandsstudiums in Wuhan in China. Dann gab ich sie meiner kleinen Nichte zum Spielen, die mit meiner Schwester 2017 nach Bremerhaven zog. Als mein Sohn 2021 geboren wurde, kam die Giraffe wieder in die Ukraine zurück. Auf unserer beschwerlichen Fahrt hat sie mir und meinem Kind Kraft gegeben. Jetzt steht sie neben den Familienfotos und einer Ikone in meiner Küche in Bremerhaven“, sagt sie und schickt schnell ein Foto davon. „Die Aufschrift auf dem Deckchen wünscht übrigens Glück auf Ukrainisch“, fügt sie hinzu.
Ihre Dankbarkeit und Offenheit berührt mich. Gleichzeitig freue ich mich, dass sie von den teilweise hitzigen und emotional geführten Debatten unter anderem auf Social Media, warum ausgerechnet Menschen aus der Ukraine so einfach Aufnahme finden, nichts zu spüren scheint. Dennoch beunruhigt mich, dass Berichte von Antislawismus und Rassismus als Folge des Kriegs in der Ukraine in der deutschen Gesellschaft zunehmen. Aber Iuliia berichtet, wie wohl sie sich in Deutschland fühle. Auf den Ämtern seien ausreichend Übersetzer:innen, sodass sich ihre Schwester nicht um alles kümmern müsse. Es sei leicht, die Regeln zu verstehen, alles funktioniere, sagt sie. „Wir haben uns von Anfang an überhaupt nicht fremd gefühlt“, meint sie. Ob sie für immer in Deutschland bleiben wolle? Ein paar Monate könne sie sich das gut vorstellen und lerne jeden Tag Deutsch. Aber sie wolle unbedingt zurück zu ihrer Mutter, den Schwiegereltern und ihrem Cousin. „Ich hoffe sehr, dass der Krieg bald endet und ich spätestens nach einem Jahr wieder nach Zuhause kann“, fügt sie hinzu.
Wenn historische Quellen in Echtzeit entstehen
„Dass meine Geschichte direkt im Museum Gehör findet, ist mir sehr angenehm. So gebe ich den vielen Schicksalen ein konkretes Gesicht“, sagt Iuliia. Mit ihren persönlichen Schilderungen macht die Ukrainerin ihre Perspektive sichtbar. Gleichzeitig unterstützt sie das Migrationsmuseum bei der Erforschung und musealen Vermittlung der aktuellen Situation, aber auch bei der historischen Perspektive auf die Ukraine. Sie ist zur Zeitzeugin geworden. Die Geschichte heutiger ukrainischer Migrant*innen erzählt davon, wie sie Bekanntes verlassen mussten, von waghalsiger Flucht, dem Stranden auf Transitbahnhöfen und der Orientierungslosigkeit. Aber auch der Herzlichkeit, des Neuanfangs und des Glücks im Unglück. Und auch wenn jede Geschichte in ihrer Art einzigartig ist, lassen sich beim Gang durchs Deutsche Auswandererhaus auch viele Anknüpfungspunkte an die Erfahrungen von syrischen Geflüchteten, Kontingentflüchtlingen und Spätaussiedler*innen oder Arbeitsmigrant*innen entdecken.
Nicht zuletzt sind sie alle ein Teil unserer Gesellschaft und schreiben mit an einer größeren Geschichte. Sie dokumentieren ihre Erlebnisse in Fotos, Tagebucheinträgen, in Chats mit ihren Freund*innen und Verwandten. Ihre Erinnerungen haften an Gegenständen, wie der Giraffe Ljusja. All diese für das Museum wichtige Quellen entstehen in Echtzeit, jeden Tag. Bestimmt bekommen sie in Zukunft für das Deutsche Auswandererhaus und seine Ausstellung eine wichtige Bedeutung.
Camilla Lopez, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr zum Museum, aktuellen Ausstellungen, Tickets und Öffnungszeiten:
www.dah-bremerhaven.de
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