Die SAIL 1986 war die Vorlage für alle nachfolgenden Veranstaltungen in Bremerhaven, die den Namen SAIL trugen. Die Erstellung dieser Vorlage war aber alles andere als einfach. Nach heutigen Maßgaben grenzt es vermutlich an ein mittelschweres Wunder, dass das große Windjammerfest damals überhaupt zustande kam. Welche Pionierarbeit mussten die Macher der SAIL‘86 damals leisten, um Bremerhaven in ein Meer aus wehenden Segeln und flatternden Flaggen zu verwandeln? Wie sollte man eine Veranstaltung planen, die Bremerhaven über Nacht – wenn auch nur temporär begrenzt – tausend Prozent Bevölkerungswachstum beschert? Nehmt euch 13 Minuten Zeit und lest, wie die SAIL, so wie ihr sie heute kennt, damals auf die Beine gestellt wurde und wie viel von der 1986er SAIL auch in der SAIL 2020 steckt, die ja gerade vorbereitet wird.
Verwegen: Wie aus „Königinnen“ Lockvögel werden sollten
Am Anfang stand da diese Idee, mit der das Image der Stadt Bremerhaven verbessert werden sollte. Sie basierte darauf, die leeren Hafenbecken in der Innenstadt wieder mit großen Segelschiffen zu füllen. Eine Art Reminiszenz an vergangene und glorreiche Zeiten. Schließlich war Bremerhaven einst Hauptstadt der Windjammer. Rund 250 dieser wunderschönen Seegefährte wurden in der jungen Stadt an der Weser gebaut. Wenn es nun gelingen würde, diese „Königinnen der Meere“ nach Bremerhaven zurück zu locken, so dachte man sich, würden diese auch Menschen anziehen, die sich diese Schiffe von nahem anschauen wollen – Touristen eben.
Der Plan klang simpel, war aber recht verwegen, denn für die Kapitäne der großen Windjammer war Bremerhaven nicht sonderlich reizvoll. Die Stadt lag fernab aller Routen der „Cutty Sark Tall-Ship-Races“, der internationalen Regatten der Großsegler. Diese Regatten wurden von der Sail Training Association (STA) durchgeführt, die auch deren Routen festlegte. Bremerhaven war den Herren der STA erst ab 1977 auf einer Seekarte aufgefallen, als wir das 150-jährige Stadtbestehen mit einer großen Windjammerparade feierten. Nun kam das brillante Kalkül von Bremerhavens oberstem Tourismus-Werber Hennig Goes zum Tragen. Der gelernte Journalist und passionierte Segelschifffan überreichte der STA Ende der 1970er Jahre eine von Bremerhavens Oberbürgermeister Werner Lenz ausgesprochene Einladung. Dieser hatte Wind davon bekommen, dass STA-Chairman Grenville Howard die Segelroute gerne in Richtung Bremerhaven lenken wollte. Die SAIL 1986 sollte ein Vorstellungsgespräch bei den Kapitänen und ihren Mannschaften werden. Getreu dem Motto: „Kommt alle nach Bremerhaven. Schaut wie schön es hier ist. Wir freuen uns auf euch. Kommt wieder – so oft ihr wollt!“ Bis dahin galt es aber noch reichlich Wellen auf der Weser zu kämmen.
Der Plan: Aus fünf Mal klein wird einmal groß
Stellt euch mal vor, der Dorfrat einer 1000-Seelen Gemeinde beschließt, auf der Wiese vor einem Dorf einen großen Jahrmarkt für vielleicht 10.000 Besucher zu veranstalten. Das Problem ist nur, dass es dort keinen elektrischen Strom gibt um die Karusselle und Buden zu betreiben. Es gibt auch keine befestigten Wege auf denen die Besucher laufen könnten. Außerdem führen nur zwei schmale Wege zu dem Gelände hin, es gibt Parkplätze für höchstens 100 Autos in der Nähe und genau ein Plumpsklo. Ganz ähnlich muss die Situation damals in Bremerhaven gewesen sein. Nur, dass die Wiese hier eine 100 Jahre alte Industriebrache war, fast eine Million Besucher erwartet wurden und jedes Karussell eine andere Art von Strom brauchte. Die Zusage zur SAIL kam 1979, die Planung begann 1983. Die Stadt hatte seit dem Stadtjubiläum Erfahrungen mit kleineren Einzelveranstaltungen gesammelt. Es wurde mal ein Ballonfahrertreffen organisiert, mal eine Segelregatta oder eine kleinere Windjammerparade. Hinzu kam die regelmäßig veranstaltete Bremerhavener Festwoche, die damals noch „Basar Maritim“ hieß. Alles gut besuchte Feste, die jeweils maximal 300.000 Besucher in die Stadt lockten. Das, was man jetzt vorhatte, war aber etwas komplett anderes. Man wollte alle diese Feste zusammen auf einen einzigen Termin verdichten. Offiziell wurde zunächst von vielleicht 800.000 Besuchern gesprochen, die man erwarten könne. Schnell wurde inoffiziell eine Million daraus.
Das erstmals gegründete Organisationskomitee war eine geballte Kompetenzgruppe, wie es sie in dieser Art zuvor in Bremerhaven noch nie gegeben hatte. Die allerhöchsten Entscheider aus aus allen Bereichen saßen zusammen und lösten Probleme auf Zuruf, direkt auf kurzem Dienstweg.
Die Herausforderung: Wie aus einer Fläche ein Platz werden musste
Die Flächen um den Neuen Hafen herum waren – freundlich ausgedrückt – in einem rustikalen Zustand. Überall lagen Sand- und Kieshaufen herum. Alte, stillgelegte Eisenbahnschienen bildeten Barrieren auf der ganzen Fläche. Der Boden war uneben und voller Stolperfallen. An der Westseite des Neuen Hafens gab es einen großen Baubetrieb, der einen Kohlenplatz hatte. Die Kajen rund um den Hafen waren allesamt in sehr schlechtem Zustand. Einen echten Rundlauf gab es noch gar nicht. Im Bereich der heutigen Schleuse Neuer Hafen musste ein provisorischer Steg gebaut werden, damit die Besucher dort weiterlaufen konnten. Mit heute geltenden Sicherheitsvorgaben undenkbar.
Die Stadt Bremerhaven hatte den Kapitänen der Windjammer zugesagt, dass jedes Schiff mit Strom versorgt wird – völlig egal welcher Standard an Bord vorherrschte. Es gab Schiffe mit 400, 380 oder 220 Volt, welche mit Gleich- und andere mit Wechselstrom. Die Bremerhavener Stadtwerke benötigten Stromgleichrichter ohne Ende und mussten sie von anderen Energieunternehmen, von Werfen und Unternehmen aus der Stadt und dem Umland ausleihen. Hennig Goes wollte ja mit Weitblick und über die SAIL hinaus Segelschiffe in die Stadt locken. Alle Schiffe erhielten also Zusagen, dass die Stadt kostenlose Schlepperhilfe im Hafen, Strom- und Frischwasserversorgung, Müll- und Abwasserentsorgung bereitstellte. Sogar kostenlose Liegeplätze wurden angeboten – falls ein Kapitän mit seinem Segelschiff in der Stadt überwintern wollen würde.
Das Areal am Neuen Hafen verfügte allerdings nicht über genügend Strom, um Buden und Schausteller für eine Veranstaltung dieser Größenordnung zu versorgen. Es musste also extra eine neue Trafostation in der Nähe der Strandhalle gebaut werden. Sie sorgt bis heute dafür, dass die Hafeninsel zu allen Anlässen mit ausreichend Strom versorgt wird.
Auf dem Festgelände war es nach Sonnenuntergang übrigens stockdunkel, Laternen gab es nicht. Damit man sehen konnte, wohin man trat, stattete die Bremerhavener Versorgungsgesellschaft (BVV) alles mit Lichtergirlanden aus.
Bei der späteren Planung der Havenwelten wurde bei der Gestaltung des Beleuchtungskonzept übrigens auch auf die Erfahrungen zurück gegriffen, die man bei der SAIL Bremerhaven 1986 gemacht hatte. Beispielsweise wurden die zahlreichen Laternenpfähle mit Nummern versehen. Zur punktgenauen Koordination von Rettungskräften im Notfall.
Verdient ist verdient: Gute Planung, tolle Arbeit – schöne Feste
Die Bremerhavener Planer hatten sich die SAIL 85 in Amsterdam ganz genau angeschaut. Sie wollten beim niederländischen Nachbarn ein wenig abschauen, wie die große Veranstaltung dort in der Praxis durchgeführt wurde. Erste Erkenntnis war: so vielen Toilettenwagen wie möglich besorgen! In Holland standen die Menschen in hundert Meter langen Bedürfnis-Schlangen. Als Resultat standen ein Jahr später auf dem Festgelände in Bremerhaven wohl um die 30 Toilettenwagen. Die Wartezeiten waren erträglich.
Bei der Gestaltung des Geländes und der Buden, sowie bei der Auswahl der Schausteller wurde sehr darauf geachtet, dass alles ein maritimes Flair hatte. Stoffteddys durften nur dann verkauft werden, wenn sie eine Matrosenuniform anhatten. Bier- und Wurstbuden mussten mit Ankern, Netzen und Seesternen dekoriert werden. Es wurde auch versucht, verstärkt Bremerhavener Kunsthandwerker für den Markt und Künstler für das Bühnenprogramm zu gewinnen.
Die Verkehrsgesellschaft Bremerhaven (VGB) lieh sich Busse samt Fahrer aus Bremen und zum Teil direkt bei den Herstellern. Der eigene Fuhrpark war den anfallenden Personenbeförderungszahlen nicht gewachsen.
In der Stadthalle wurde eine riesige Crewparty gefeiert, zu der rund 7500 Besatzungsmitglieder erschienen. Da die Bremer Brauerei Beck & Co als Hauptsponsor auftrat, floss das Freibier einem Wasserfall gleich. Auf der Bühne wechselten sich die damals noch völlig unbekannte Band „Aquacity“ und die „Old Boys Budapest“ ab. Als dann die Bordband der „Kruzenshtern“ die Instrumente auf der Bühne übernahm, tanzte die halbe Halle auf den Tischen.
Die Windjammerparade war die Krönung des Festes. Sie ist bis heute die besucherstärkste, die es jemals in der Stadt gegeben hat. Nachdem die Festwoche selbst mit reichlich Regen bedacht war, startete der Paradetag mit Bilderbuchwetter. Rund 250.000 Menschen standen an den Deichen der Seestadt und jubelten den vorbeifahrenden Schiffen zu. Es war so voll, dass Anwohner aus dem Columbus Center Plätze auf ihren Balkonen vermieteten und die Mitarbeiter der Tiergrotten auf dem Dach des Zoos standen, um dort mit ihren Familien zu grillen.
In den Bierzelten wurden so große Summen von Bargeld eingenommen, dass es für die Betreiber unmöglich war, diese mit Geldbomben abzutransportieren. Über einen schusswaffengeschützten Geldtransporter hatte man sich Vorfeld keine Gedanken gemacht. Diese Erfahrungen flossen in das sicherheitslogistische Konzept der Veranstaltung ein, das bis heute Anwendung findet und ständig erweitert wird.
Am Paradesonntag wurden binnen Stunden aus einem Container heraus 100.000 Programmbücher für Stück 5 Mark verkauft. Man hatte vorher allerdings nicht bedacht, wie viele Münzen eine halbe Million Mark sind. Man wusste auch nicht wo man am Sonntagabend einen Koffer voller Banknoten und knapp zwei Dutzend mit Münzgeld gefüllte Eimer unterstellen konnte. Glücklicherweise fand sich noch eine Bank, die bereit war das Geld „ungezählt“ in einem ihrer Büros einzuschließen.
Die Probleme: von morschen Kajen, untiefen Pfützen und einer Menge Rädern
Teile der Kajen am Neuen Hafen waren so marode, dass dort drei Tage vor dem Fest ein LKW drei Meter tief einbrach. In einer Blitzaktion gelang dem Organisations-Kommitee ein Paradestück. Die Geschäftsführung einer ortsansässigen Werft konnte dazu „überredet“ werden, riesige Stahlplatten, aus denen eigentlich Schiffe gebaut werden sollten, leihweise zur Verfügung zu stellen. Die ganze Fläche an den betroffenen Kajen wurden dann damit ausgelegt, damit die Besucher unfallfrei über das Gelände laufen konnten.
Nachdem es am Freitagabend wie aus Kübeln gegossen hatte, mussten am Samstag früh diverse Flächen mit Sand und Kies abgeschottert werden, damit die Besucher des Festes nicht Gefahr liefen, in den Pfützen zu ertrinken.
Der Hauptsponsor Beck’s Bier hatten über Monate hinweg ganzseitige Werbeanzeigen auf Rückseitenumschlägen von großen Magazinen, wie „Spiegel“ und „Stern“ gebucht. „Mit Becks zur Sail nach Bremerhaven…“ stand darauf. Resultat daraus war, dass Beck’s quasi die ganze Republik eingeladen hatte, wurden die eigentlich erwarteten Besucherzahlen weit übertroffen. Eingangs „hoffte“ man noch auf 800.000 Besucher, später rechnete man mit „vielleicht“ einer Million. Letztlich kamen aber binnen 5 Tagen 1,5 Millionen Menschen in die Stadt. Alle Erfahrungswerte, die man im Vorfeld auf den kleineren Veranstaltungen ziehen konnte, waren somit komplett unbrauchbar. Die Verdichtung war einfach zu extrem.
Es zeigte sich schnell, dass die SAIL‘86 in vielen Dimensionen unterschätzt wurde. Für die geplante Flaggenparade brauchte man plötzlich 18 Flaggenmasten – die man nicht hatte. Die vorhandenen Masten eigneten sich dummerweise auch prächtig, um Fahrräder daran anzuschließen. Nur, dass man dann eben keine Flagge mehr daran hissen konnte. Apropos Fahrräder – viele Bremerhavener kamen zwar ganz vorbildlich mit dem Drahtesel zum Fest. In Ermangelung von Fahrradständern wurden die Gefährte dann allerdings überall festgekettet, wo sich eine Lücke auftat. Beispielsweise an den Brückengeländern. Blöd nur, dass diese Brücken auch regelmäßig auf- und zugeklappt werden mussten, damit die Schiffe unter ihnen hindurch kamen.
Bei kleineren Festen war das früher zwar auch schon mal vorgekommen. Dann handelte es sich allerdings um 4 oder 5 Räder, die man mal eben schnell entfernen konnte. Bei der SAIL nun waren es plötzlich Hunderte und man musste die Brücken eben mit den Rädern daran hochklappen. Als Resultat aus diesen Erfahrungen gibt heute ausreichend Flaggenmasten auf dem Gelände und das Anketten von Rädern an Brückengeländern wird direkt unter Androhung von Kielholen unterbunden ;).
Apropos Brücken – Auf allen Straßen und Brücken der Stadt waren so starke Staus, dass die Brücken zum Teil gar nicht nicht geöffnet werden konnten, weil die Autos, die darauf standen, weder vor noch zurück konnten.
Ein ganz besonderes Bonbon hatte man für Paradenbesucher aus dem Ruhrgebiet parat, die am Sonntag eigens mit 4 Sonderzügen nach Bremerhaven angereist waren. Um zu verhindern, dass Buskohorten vom Hauptbahnhof aus einen Verkehrsinfarkt verursachen, sollten die Züge direkt bis zum Columbusbahnhof durchfahren. Dieser verfügte ja über einen eigenen Bahnsteig. Leider hatte man dabei übersehen, dass die einzige Eisenbahnbrücke, die zum Columbusbahnhof hinführte, den ganzen Tag geöffnet war, damit die Schiffe für die Parade aus den Hafenbecken auf die Weser gelangen konnten. Man entschied sich dann kurzerhand für die Variante mit den Buskohorten und dem Verkehrsinfarkt.
Die Kür: Die Idee das Bild im Kopf gekonnt umzusetzen
SAIL-Cheforganisator Hennig Goes war auch oberster Bremerhaven-Werber. Er hatte also immer im Hinterkopf, dass besondere Ereignisse auf der SAIL so koordiniert werden mussten, dass dabei außergewöhnliche Fotomotive mit bundesweitem Interesse entstanden. Das Auslaufen verschiedener Schiffe wurde also zeitlich genauestens getaktet. Ein Zusammentreffen von Windjammer und Kreuzfahrtschiff, die auf der Weser unter einem Heißluftballon hindurch fuhren, war also kein Zufall, sondern Teil von Goes weitsichtiger Vermarktungsstrategie, von der Bremerhaven und die SAIL noch bis heute profitiert.
Die Erkenntnisse: Nach der SAIL BREMERHAVEN ist vor der SAIL BREMERHAVEN
Die SAIL 1986 ist bis heute DIE SAIL. Die breite Unterstützung, die das Fest durch die Bremerhavener Bevölkerung erfahren hat, ist legendär und begründet bis heute den besondern „Geist“ des maritimen Windjammer-Festivals an der Weser.
Obwohl es zunächst Seehunde und Katzenhaie regnete war die Stimmung in der ganzen Stadt grandios. Man fuhr wegen der SAIL nicht in den Urlaub, damit man dabei war. Sailbesucher von damals finden seitdem auf jeder nachfolgenden SAIL wieder ihre ganz eigenen Momente, die sie an 1986 erinnern. Das wird auch bei der SAIL Bremerhaven 2020 nicht anders sein.
Mit der SAIL‘86 wurde das Unwirkliche Wirklichkeit. Die Macher der „Mutter aller SAILS“ sprengten damals alle Maßstäbe in Punkto Aufwand, Arbeitskraft, Ideenreichtum, Geld und Engagement. Ganz einfach deshalb, weil sie sich einer Herausforderungen stellten, die ihresgleichen sucht. Aus den Erfahrungen, die man 1986 gesammelt hat, weiß man heute: Nach der SAIL ist vor der SAIL. AHOI.
Text: Marco Butzkus
Die abgebildeten Ausschnitte von damals verdanken wir der Nordsee-Zeitung.
Zur Website der Sail Bremerhaven 2020
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