Mehr als hundert Gesichter blicken ab Frühjahr 2021 auf Bremerhaven. Was hat es mit diesen Porträts auf sich, die künftig das Stadtbild prägen werden? Darüber habe ich mit Dr. Simone Eick gesprochen, der Direktorin des Deutschen Auswandererhauses. Denn die Porträts werden Einwanderungsgeschichten erzählen.

© Günter Zint
Frau Eick, wie kommt es, dass das Deutsche Auswandererhaus eine neue Fassade erhält?
Wir haben das Glück, dass wir Dank einer großzügigen Förderung vom Bund und Land Bremen in Höhe von mehr als zwölf Millionen Euro – und durch die Unterstützung der Stadt Bremerhaven – unser Museum ein zweites Mal seit seiner Eröffnung im Jahr 2005 erweitern können. Wir werden unsere Dauerausstellung überarbeiten, vor allem aber einen Neubau erhalten, der sich an den jetzigen Erweiterungsbau anschmiegt. Dadurch bekommt dieser umgebaute Gebäudekomplex eine neue Fassade …
…, die aber nicht mehr aus Lärchenholz sein wird wie die jetzige?
Ja genau, es wird eine Betonfassade werden. Das klingt vielleicht erst einmal ein bisschen kühl – ist es aber nicht. Im Gegenteil: Denn die Fassade wird etwa hundert Porträts von Einwanderern zeigen, die einen Bezug zu unserer Stadt haben.
Inwiefern?
Es werden die Gesichter von Einwanderern zu sehen sein, die nach Bremerhaven gekommen sind, um hier zu leben – wann auch immer, ob für kurze Zeit oder für immer. Wir suchen derzeit intensiv nach Personen, die uns für die Gestaltung dieser neuen Fassade ihr eigenes Porträt oder das eines Vorfahren zur Verfügung stellen möchten. Wichtig ist, dass Bremerhaven der erste Aufenthaltsort dieser Personen in Deutschland gewesen ist.

© Architektur: Studio Andreas Heller Architects & Designers, Hamburg
Wie muss man sich diese Fassade vorstellen, wie sollen die Porträts präsentiert werden?
Unsere Architekten von Studio Andreas Heller Architects & Designers in Hamburg haben, wie ich finde, eine sehr schöne Fassade gestaltet: Sie besteht aus mehreren geschichteten Ebenen und wirkt sehr lebendig. Bei etwa hundert der Betonplatten werden die Porträts der Einwanderer in einem besonderen technischen Verfahren aufbereitet und wie ein Relief aus dem Material geschnitten. Je nach Lichteinfall und Perspektive, von der aus man dann auf die Fassade schaut, werden die Gesichter mal mehr, mal weniger zu sehen sein. Ich glaube, dass das sehr spannend wirken wird.
Welche Idee steckt hinter dieser Porträt-Fassade?
Deutschland war und ist immer schon ein Einwanderungsland gewesen, das zeigt sich heute an vielen Orten – so, wie auch Bremerhaven seit seiner Gründung eine Einwanderungsstadt war. Die ersten Einwanderer, die Ende der 1820er Jahre nach Bremerhaven kamen, haben die Stadt gebaut, denn es waren niederländische Facharbeiter, die damals die Hafenanlage – den heutigen Alten Hafen – errichteten. Danach kamen zum Beispiel Chinesen, die in den Wäschereien des Norddeutscher Lloyd arbeiteten, oder Vertriebene, Aussiedler und Spätaussiedler, die hier ein neues Zuhause zu finden. Türken und Portugiesen haben Jobs in der Fischindustrie übernommen und in den letzten Jahren fanden Afghanen und Syrer in Bremerhaven Schutz vor Krieg.

© Familie Bagci
Ist das typisch für eine deutsche Stadt?
Ja, solche oder ähnliche Geschichten kann fast jede deutsche Stadt erzählen – Stadtgeschichte ist immer auch Einwanderungsgeschichte. Bremerhaven steht also stellvertretend für viele andere Städte und Orte in Deutschland. Künftig erzählen wir mit unserer Fassade Stadtgeschichte – und im Inneren des Museumsneubaus erzählen wir 300 Jahre Einwanderungsgeschichte nach Deutschland.

© Deutsches Auswandererhaus / Foto: Ilka Seer
Interessant, dass sich Bremerhaven als größter Auswandererhafen Kontinentaleuropas eine solchen Namen gemacht hat und die Einwanderungsgeschichte in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle spielt.
Bremerhaven ist es meist gut gelungen, mit Einwanderung unaufgeregt umzugehen. Letztlich war es das lukrative Auswanderungsgeschäft im 19./20. Jahrhundert, das die Stadt an der Wesermündung wachsen ließ und ihr den wirtschaftlichen Erfolg bescherte. Nicht nur aus deutschen Ländern, sondern auch aus Osteuropa kamen die Menschen nach Bremerhaven, um hier eines der zahlreichen Auswandererschiffe zu besteigen und nach Übersee aufzubrechen.
Über sieben Millionen Auswanderer zählte Bremerhaven zwischen 1830 und 1974. Ihnen war das Deutsche Auswandererhaus von Anfang an gewidmet. Tauchen auch die Auswanderer in irgendeiner Form außerhalb der Museumsmauern auf?
Um unseren Altbau herum befinden sich zahlreiche Erinnerungssteine auf dem Boden, die Auswanderern gewidmet sind. Die Porträtreliefs der Einwanderer werden ein Pendant zu den Erinnerungssteinen der Auswanderer bilden. Sie ergänzen sich und zeigen beide Seiten der deutschen Migrationsgeschichte: die Aus- und die Einwanderungsgeschichte.

© Deutsches Auswandererhaus / Foto: Ilka Seer
Emigration und Immigration stehen also gleichberechtigt nebeneinander?
Ja, unbedingt. Auch größentechnisch wird das ab 2021 im bzw. am Deutschen Auswandererhaus zu sehen sein. Denn durch den Neubau, der den bestehenden Erweiterungsbau L-förmig ummantelt, werden demnächst beide Gebäudekomplexe gleich groß sein.
Was wird denn in dem Neubau untergebracht sein?
Die Geschichte des Zusammenlebens im Einwanderungsland Deutschland. Wir stellen zum Beispiel Fragen wie: Wie wurden und werden Konflikte ausgetragen? Wie lebt es sich für Einwanderer hier in Deutschland? Wie ist jeder einzelne von uns beteiligt?
Was hat es denn mit dem geöffneten Tor auf sich, das man in der Fassade zur Columbusstraße erkennen kann?
Das wird unser neues Pop Up-Museum sein – eine Ausstellungsfläche, die wie eine Garage anmutet und mit der wir uns zur Stadt hin öffnen werden. Dieses Pop Up-Museum wird begehbar sein, so dass man einen kostenfreien Einblick in das Museum erhält.

© Architektur: Studio Andreas Heller Architects & Designers, Hamburg
An dem Neubau steht ACOMIS geschrieben. Was bedeutet das?
ACOMIS ist die Abkürzung für Academy of Comparative Migration Studies – die Akademie für Vergleichende Migrationsstudien. Diese werden wir 2021 gründen. ACOMIS besteht aus einem Institut für Kinder-, Jugend- und Erwachsenenbildung und aus einem Forschungsinstitut, in dem unsere Wissenschaftler – Migrationsforscher, Historiker, Philosophen, Kulturanthropologen und Museologen – gemeinsam mit Wissenschaftlern von Universitäten oder außeruniversitäre Forschungseinrichtungen forschen werden.
Das sind spannende Neuigkeiten – auch für die Geistes- und Sozialwissenschaften in Bremerhaven.
Das stimmt. Zumal durch ACOMIS auch nochmal mehr Wissenschaftler in die Stadt kommen werden. Ein Projekt, das wir sogar schon nächstes Jahr beginnen werden, ist das Gemeinschaftsprojekt mit dem britischen Historiker Peter Frankopan der Universität Oxford. Er hat Ende November den mit 20.000 Euro dotierten Kalliope-Preis für praxisnahe Migrationsforschung der Stiftung Deutsches Auswandererhaus erhalten. Gemeinsam werden wir eine Studie durchführen und untersuchen, ob und inwiefern Mehrsprachigkeit und eine offene Sicht auf die Welt miteinander zusammenhängen.

© Deutsches Auswandererhaus / Foto: Marina Eismann
Wann beginnen denn die Baumaßnahmen die Erweiterung?
Am 29. November haben wir die Grundsteinlegung gefeiert. Jetzt laufen die Rohbauarbeiten und ab Herbst 2020 wird die Ausstellung produziert. Wir werden die Baumaßnahmen während des laufenden Museumsbetriebes durchführen, so dass unser Museum durchgängig für die Besucherinnen und Besucher geöffnet bleiben kann. Das neue Deutsche Auswandererhaus wollen wir im Frühjahr 2021 einweihen. Dann werden auch die Einwanderer aus der Fassade heraus auf Bremerhaven blicken.
[bre_box title=“Wir suchen Ihr Gesicht!“ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ radius=“5″]Sind Sie oder Ihre Vorfahren nach Bremerhaven eingewandert? Dann können Sie zukünftig daran mitwirken, die Stadtgeschichte neu zu erzählen. Gesucht werden Personen, die nach Deutschland eingewandert sind und ihren ersten Aufenthaltsort in Bremerhaven hatten – egal, wie lange sie in der Seestadt wohnten und ggf. später in eine andere Stadt zogen.
Wer sich an dem Porträt-Aufruf beteiligen möchte, meldet sich bitte bis Freitag, 10. Januar 2020, beim Deutschen Auswandererhaus unter der Telefonnummer 0471 / 90 22 0 – 0 oder der Email-Adresse info@dah-bremerhaven.de. Über die Auswahl der Porträts wird eine Jury entscheiden.[/bre_box]