Ich stehe direkt vor dem Neubau des Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven. Das Gebäude birgt in seinen Räumen Spannendes – unter anderem ein großes, neues Stück Dauerausstellung zur Einwanderung nach Deutschland, den gesellschaftlichen Konflikten und den persönlichen Geschichten dahinter. Von außen sind es zwei schneeweiße, rechteckige Stockwerke mit einem komplexen Muster an großen, quadratischen Platten: Die Fassade des einfarbigen Baus vor mir ist voll mit eindrucksvoll real wirkenden Porträts von Einwander*innen. Ein Haus zwischen Ruhe und Unruhe, innen wie außen. Und direkt vor mir öffnet sich ein Raum, eine Ausstellung, die ich, einfach so, ohne Eintritt besuchen kann: das Garagenmuseum.

Hinter mir liegen eine lebendige Stadt, die aus einem Hafen entstand, und der Verkehr mit Autos und Transportern voller Waren, die aus irgendwo kommen und nach anderswo fahren. Teenager auf dem Weg zur Schule, Tourist*innen auf dem Weg zum Deich. Diesem trubeligen Leben steht das Garagenmuseum offen – nicht nur durch das von 9.00 bis 18.00 Uhr hoch gezogenen Rolltor und die gläserne Rückwand, die bis ins Gebäude hineinschauen lässt. Das begreife ich besser als ich „eintrete“: Nun stehe ich halb im Haus, halb auf der Columbusstraße, irgendwie beides, irgendwie keins von beiden. Dazwischen. Zwischen der Ruhe der Ausstellung und dem Trubel da draußen.

Lustig. Ich muss an Parkgrotten aus den vergangenen Jahrhunderten denken. In solchen Grotten verbergen sich bis heute Statuen und Geschichten für Flanierende, die nur die entdecken können, die sich in diese – eigentlich allen offen stehenden – Zwischenwelten wagten. Wer „dazwischen“ war oder eben Zwischenwelten bereiste, so glaubte die Menschheit an vielen Orten auf unterschiedlichste Art und Weise, der*die wusste mehr. Denn in den Zwischenwelten werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede sichtbar, Zusammenhänge bedeuten etwas anderes. Da stehe ich wohl irgendwie jetzt auch. Zwischen Museum und Stadt, zwischen Migrationsgeschichte und urbanem Alltagsleben. Und darum geht es hier auch.

Die Welt, die ich betreten habe, klingt und sieht gar nicht so andersweltlich aus. Hübsch ist sie vor allem mit den künstlerischen, bunten Graphiken: „Zuhause in der Goethestraße – Lebenseinstellungen aus Bremerhaven, Magdeburg, Chicago und München 2021“ steht da. Das wirkt erstmal vertraut. Selbst habe ich nie in einer Goethestraße gewohnt, aber bin schon oft durch welche gelaufen, geradelt, habe sie gekreuzt. Über 2000 von ihnen sind allein in der Bundesrepublik dem Poeten gewidmet, der im Übrigen auch Gärten und Parks entwarf.
Auch Bremerhaven hat eine Goethestraße, sogar von fast einem Kilometer. In ihr stehen Lindenbäume und schöne, alte Gründerzeithäuser, einige sind seit 1976 unter Bremer Denkmalschutz. Dabei waren der Stadtteil und das Goethequartier lange alles andere als gefragter Wohnraum. So versammelten sich unterschiedlichste Menschen hier, die ein bezahlbares Zuhause suchten, sich für helle Wohnungen begeisterten oder ein unkonventionelles Projekt, wie einen Kunstverein für alle oder ein Mehrgenerationenhaus, verfolgten. Das ist der Startpunkt der Ausstellung im Innern des Garagenmuseums.

Hier gibt es, wie in den Parkgrotten, auch viele „Statuen“. Sie zeigen die Anwohner*innen der Straßen, um die es geht. Also alle Bilder an realen Geschichten und Gesichtern orientiert, denen man teils nur wenige Kilometer Luftlinie von hier begegnen kann. Und die persönlichen Erinnerungsobjekte, die mit ihnen hier stehen, sind keine mystischen Ikonen, keine magischen Instrumente. Nur ein Stück „Zuhause“ für einen Menschen. Naja, dann vielleicht ein bisschen magisch, zumindest für ihre Besitzer*innen?

So stehe ich – indirekt, direkt, wohl irgendwie dazwischen – auf der Goethestraße von Bremerhaven, lerne die lokale Gemüsehändler*innen-Dynastie und die Besitzer*innen des kleinen Bistros kennen, die gemeinsam aus dem Vereinigten Königreich wieder nach Bremerhaven kamen, um die Eckgastronomie mit dem echten Englischen Frühstück zu bewirtschaften. Leider ist es eine alte Zwischenwelt-Regel, dass man hier nichts essen kann. Dazu muss man in die reale Welt. Ich höre vom Zusammenleben so unterschiedlicher Menschen und stehe zwischen traurigen und heiteren Schilderungen genau desselben Ortes.
Und die Menschen mit Einwanderungsschichte – es fällt mir plötzlich auf – sitzen selbst so oft dazwischen, zwischen Sprachen, Kulturen und Ideen. Wie in München, wo ein erfolgreicher Besitzer verschiedener Läden sich nie so richtig fühlt, als könnte er als Kind von Arbeitsmigrant:innen aus der Türkei irgendwo richtig ankommen. Als wäre er immer „dazwischen“. Oder wie in Magdeburg, wo eine ganze Kirchengemeinde oft zwischen den politischen Strömungen saß. Aber kann man in so einem „dazwischen“ überhaupt ein „richtiges“ Zuhause finden? Was ist das überhaupt: „Zuhause“? Die Straße, in der man wohnt?

Die Straßen verbinden und trennen sich: Zwei haben schöne Alleen, zwei eine Kirche, die jeweils dem Heiligen Paulus gewidmet ist, zwei spielten eine wichtige Rolle in der Geschichte der Auswanderung in die USA. Und so reise ich in dieser kleinen, urbanen Zwischenwelt herum. Geschichten, Figuren und Ideen zwischen den gläsernen Wänden. Ich lerne ein tolles Leher Projekt kennen, das Kinder im Alltag unterstützt, und erfahre von Kunst und Kultur, die Menschen ehrenamtlich teilen und möglich machen. Von glücklichen Kindheiten in der überschaubaren Welt der Goethestraße und von welchen, die zwischen vielen Welten geschehen.
Und ich entdecke Objekte, die die meine Frage etwas beantworten – was für manche Menschen „zuhause“ ist: Gartenwerkzeug aus der Kindheit mit den Großeltern, ein Coffee Table-Buch, ein geliebtes Geschenk einer Freundin … und eine riesige Libelle?

„Zuhause“. Ich grübele. Das bin ich hier an diesem magischen Zwischenort nicht. Aber das soll ich auch nicht sein. Auch wenn mir die Schätze, die dieser Ort verbirgt, verraten, dass Menschen es an ganz unterschiedlichen Orten sein können. Dass die Städte, Straßen, Häuser an denen sie sind, manchmal einen Unterschied machen. Vor allem aber die Menschen, die sie treffen. Oder auch Nudelsalat, ein Telefonat oder das Lieblingsrestaurant die Straße runter. „Zuhause“ verrät mir eine Tafel, das ist, wo ich mich sicher und frei fühle. Beides. Und wenn ich das auf der Reise, auf der Suche und beim Entdecken bin, dann bin ich das vielleicht auch hier? Aber nur bis 18 Uhr. Dann schließt bis morgen das Rolltor.

Von Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
[bre_box title=“ Zuhause in der Goethestraße – Lebenseinstellungen aus Bremerhaven, Magdeburg, Chicago und München 2021″ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ title_color=“#FFFFFF“ radius=“5″] im GARAGENMUSEUM des DEUTSCHEN AUSWANDERERHAUSES
Neubau/Tor zur Columbusstraße
Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
vom 7. August 2021 bis zum 31. März 2022
kostenfrei, täglich von 10.00 Uhr bis 18.00 Uhr
Alle wichtigen Fakten rund um das Museum, die Ausstellungen und mehr:
www.dah-bremerhaven.de
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