Im Jahr 2020 habe ich am Deutschen Schifffahrtsmuseum angefangen im Rahmen eines Volontariates ein Ausstellungsprojekt zu konzipieren. Dabei habe ich versucht, möglichst verschiedene Ansätze der Aufbereitung und Vermittlung wissenschaftlicher Themen in einem musealen Umfeld zu verbinden. Eine meiner Aufgaben war es, einen Vermittlungsansatz für eine Ausstellung mit kolonialgeschichtlichen Inhalten zu entwickeln. Da ich mich noch nie mit diesem Thema beschäftigt hatte, konnte ich mir gut vorstellen, wie sich Besucher:innen im Museum fühlen, umgeben von Artefakten einer Sammlung, zu der sie den Bezug zu Bremerhaven nicht sehen können.
Koloniale Objektgeschichte – die große Unbekannte.
Ich meine, es ist das Deutsche Schifffahrtsmuseum Bremerhaven – Leibniz Institut für maritime Geschichte (DSM), aber was erwartet mich dort? Sind es Schiffe und noch mehr Schiffe und vielleicht ein paar Souvenirs von Seeleuten? Was ich nicht erwarte ist, dass die Souvenirs nicht die harmlosen Dinge sind, die ich selbst auf Reisen sammele. Und was ich am wenigsten erwarte, ist eine Reihe von ethnologischen Objekten, bei denen ich nicht einmal sagen kann, ob es sich um kulturelles Erbe oder um Touristenkunst aus vergangenen Zeiten handelt. Nicht, dass man das einfach so sagen könnte, aber es macht trotzdem neugierig, mehr über die Objekte und ihre Geschichten zu erfahren. Sie in einer Ausstellung zusammenzustellen und sie zu befragen.
Da ich weder eine Provenienzforscherin noch eine Studentin der politischen oder postkolonialen Geschichte bin, habe ich Schwierigkeiten als ich mich dem Bereich der kolonialgeschichtlichen Inhalte in unserer Sammlung am DSM nähere. Erst bin ich mit einer Reihe von Objekten konfrontiert, die möglicherweise einen kolonialen Kontext haben oder auch nicht. Es gibt kaum Informationen darüber, um welche Art von Objekt es sich handelt, wie sie aussehen oder ob die Interpretation des angegebenen Titels in der Liste der Dokumente überhaupt richtig ist. Je nachdem, wen ich frage, bekomme ich eine andere Antwort. Und damit ist die Idee für Open Histories – Offene Geschichten – geboren.
Welche Geschichte soll erzählt werden und von wem?
Natürlich gibt es nie nur eine Geschichte zu erzählen, sondern immer mehrere und aus unterschiedlichen Perspektiven. Warum also nicht die Schwierigkeit in einen Vorteil ummünzen und die Geschichten in einem offenen Prozess sammeln, der auch als Forschung betrieben werden kann. Ich treffe in diesem Prozess auf eine unserer Gastwissenschaftlerin, die aus einem ehemals kolonisiertem Land kommt. Sie hat ihre Doktorarbeit über ein Trauma der Kolonialgeschichte veröffentlicht, das sie bis heute verfolgt. Ich verspüre den Drang, neu zu überdenken, wie eine weiße, weibliche Europäerin wie ich mit diesem Thema umgehen sollte. Nein, es gibt keine Möglichkeit für mich, damit umzugehen. Ich habe in diesem Bereich kein echtes Mitspracherecht, also beschließe ich gezielt, Leute wie meine Kollegin zu fragen, die es vielleicht haben.
Die Interviews, die ich mit verschiedenen Menschen unterschiedlicher Ansichten führe, sind in der Podcast-Serie zusammengestellt. Und sie sind noch nicht abgeschlossen. Das Gleiche gilt für die Fotos, die aus verschiedenen Blickwinkeln aufgenommen wurden, oder die 3D-Modelle, die ebenfalls versuchen, die Objekte aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. Der interaktive und partizipative Ansatz ist auch ein nicht-linearer kreativer Umgang mit dem Mangel an Informationen. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Künstler:innen gebeten werden, sich zu unseren Objekten zu äußern. Die Band 1884 wird gebeten, bei der Eröffnung der Ausstellung ein Konzert zu spielen und einige improvisierte Stücke für unsere Objekte aufzunehmen, um ihnen eine Stimme zu geben – keine sprechende Stimme, aber eine Stimme, der wir zuhören können.
Müssen es immer Worte sein, mit denen erzählt wird?
Leider macht uns die Corona-Pandemie einen Strich durch die Rechnung und die Musiker:innen können weder zu Hause aufnehmen noch, das Konzert live spielen. Das ist vielleicht das schlimmste Szenario, aber wir lernen auch daraus. Es gibt kein zweites Leben der Musik, es gibt nur Live-Musik. Dies ist zumindest die Ansicht des Dirigenten in unseren regelmäßigen Gesprächen zu diesem Thema, die ebenfalls mit offenem Ende geführt werden. Vielleicht ergibt sich die Möglichkeit, die Ausstellung an andere Orte zu bringen und die Objekte auf andere Weise zu kommentieren als wir es getan haben. Solange es eine Online-Ausstellung gibt, besteht zumindest die Möglichkeit, das Thema präsent zu halten und weitere Geschichten zu den Objekten zu sammeln.
Wenn wir nun einen Blick auf die Online-Ausstellung werfen unter www.dsm.museum/open-histories für die deutsche Version und www.dsm.museum/open-histories/en für die englische Version:
Dort sehen wir die Startseite, die wir am DSM gestartet haben. Die Idee der digitalen Ausstellung Open Histories ist das offene Archiv und die zentrale Frage, wie wir mit den Objekten in der Sammlung umgehen wollen, über die wir nicht viel wissen und welche Geschichten wir über sie erzählen wollen. In diesem Fall oben handelt es sich bei dem fotografierten Objekt unbekannter Herkunft oder unbekannten kolonialen Kontextes um ein Gürteltier, das wahrscheinlich als Korb verwendet wurde. Wir fragen, ob dies Teil einer Ausstellung über Kolonialgeschichte sein sollte und warum?
Wissenschaft stellt Fragen und sucht Antworten.
Nicholas Thomas‘ Konzept der „Entangled Objects“ ist ein zentraler wissenschaftlicher Ansatz bei der Gestaltung der Ausstellung, aber es geht nicht nur um die möglicherweise ineinander verschränkten Geschichten, sondern auch darum, wie wir mit den Bildern umgehen wollen, die wir bereits kennen oder zu kennen glauben. Wie gehe ich mit Propaganda, Rassismus und Stereotypen um? Sie sollten nicht unkommentiert gezeigt werden, sagt auch der Leitfaden des Deutschen Museumsbundes, an den wir uns halten. Eine Möglichkeit, sich einem Objekt zu nähern, ist, es aus der Nähe zu betrachten. Während der Corona-Pandemie können wir keine unmittelbare Begegnung haben, aber das Digitalisierungs-Team des DSM erstellt Fotos und 3D-Modelle.
Dies ist ein Beispiel für ein Objekt, das als Spazierstock in unsere Sammlung gekommen ist. Bei näherer Betrachtung stellt sich heraus, dass es sich um koloniale Figuren auf einem Stock handeln könnte. Die Idee hinter den 3D-Modellen und den Fotografien in verschiedenen Blickwinkeln ist auch, die konventionelle Sichtweise in einem Museum in Vitrinen und die stereotype Darstellung von Exotismus und Rassismus zu durchbrechen. Es ist auch ein Beispiel dafür, was die Präsentation eines Objekts in einer Ausstellung mit dem Objekt macht – in unserem Fall ist es interaktiv und ich kann entscheiden, was ich sehen will und aus welchem Blickwinkel.
Podcasts – eine eigene Kunst des Erzählens.
Da mir klar ist, dass ich nicht die Expertin für die Objekte bin, lade ich mehrere Gesprächspartner:innen dazu ein, die Objekte aus verschiedenen Blickwinkeln zu betrachten, und lasse sie entscheiden, wie sie die Geschichte eines Objektes erzählen wollen. Es gibt viele Mitwirkende, denen ich für ihre Beschäftigung mit den ausgestellten Objekten danke. Die Podcast-Mitwirkenden kommen vor allem aus den Bereichen der Politik- und Kulturwissenschaften, der Provenienzforschung, Geschichte, Archäologie und Ethnologie. Ich freue mich sehr, dass sie die Herausforderung angenommen haben unsere Objekte zu kommentieren.
Wie bereits erwähnt, entpuppt sich der Spazierstock als Colon-Figur. Wie es zu dieser Entdeckung kommt, verrät der Podcast. Es gibt auch eine interaktive Fotoreihe und ein 3D-Modell. Die Fotos ändern sich ständig und halten an beim darauf Klicken, das 3D-Modell kann interaktiv bewegt und gezoomt werden. Wie ich bereits erwähnt habe, bin ich mir der Tatsache bewusst, dass es immer mehr über ein Objekt zu erzählen gibt, was wir einfach noch nicht wissen. Deshalb gibt es auf der Website auch die Möglichkeit, Kommentare abzugeben und uns eine Geschichte mitzuteilen.
Eine Ausstellung zum Mitmachen.
Hoffentlich werden wir bald weitere Podcasts haben, ich freue mich sehr darauf, denn das ist genau der Effekt, den ich erhofft habe, als wir diese Funktion eingeführt haben, uns Kommentare zu schicken. Die Objekte werden als eine Reihe von nummerierten Objekten dargestellt, aus denen auswählt und angeklickt werden kann. Wenn ich mit der Maus über die Objekte fahre, erhalte ich eine Vorstellung von der Gruppe, zu der das Objekt gehören könnte, aber nur als Option, nicht als Tatsache. Der Gruppierungseffekt führt zu einer Ähnlichkeit, die nicht endgültig ist, da die Objekte nebeneinander liegen, wie bei einem Tatort, der näher betrachtet werden muss.
Am Ende der Ausstellungsseite sind weitere Informationen über die Gruppierung der Objekte mit Erklärungen zu den oben aufgeführten Begriffen zu finden. Die ursprüngliche Idee, neben den wissenschaftlichen Kommentaren auch künstlerische und andere objektbezogene Improvisationen einzubeziehen, schwingt noch leicht mit. Daher ist die Gruppierung der Objekte recht offen gehalten, sodass noch Raum bleibt, die Objektgeschichten in andere Bereiche zu erweitern oder andere Gruppen als aufgelistet zu sehen ist.
Von der digitalen Ausstellung zum analogen Museumsbesuch
Es gibt es in der Sammlung des DSM weit mehr als 16 Objekte mit unbekannter kolonialer oder nicht-kolonialer Geschichte. Die digitale Ausstellung ist ein Versuch, die Diskussion über das breite Thema und die Möglichkeiten damit umzugehen, zu eröffnen. Die Auswahl der Objekte kommt, wie kann es anders sein, ebenfalls im Gespräch mit Kolleg:innen und Expert:innen zu Stande, die einen unmittelbaren Bezug zur Geschichte der Objekte bzw. deren kolonialen Kontexten haben oder darüber Auskunft geben können.
Die geschwärzten Stellen im Ausstellungsdesign erinnern an markierte oder unmarkierte Stellen in einem Buch bzw. sollte ich sagen ungeschriebene oder ausradierte Stellen in der Geschichte?
Im Jahr 2022 wurde eine physische Ausstellung mit 32 Objekten mit offener Geschichte eröffnet. Sie war Teil der Sonderausstellung mit einem Vermittlungsansatz zur kolonialen Geschichte. Es gab die Möglichkeit, die Objekte zu kommentieren, indem sie beschriftet wurden, und es gab Stellen, die als leer gekennzeichnet waren, so dass die Besucher:innen eingeladen waren, sich aktiv an der Ausstellung zu beteiligen.
Die Beteiligung sollte helfen die Objekte mit unterschiedlichen Informationen zu kommentieren. Daher wurden sie in Regalen und eben nicht in Vitrinen präsentiert. Die vorgefertigten Etiketten hatten eine Vorder- und eine Rückseite, um sie zu beschreiben. Die verwendeten Stoffe vor dem Regal dienten zum Schutz der Objekte und markierten gleichzeitig die geschwärzten Stellen in der Geschichte als unbekannte.
Objektlegende selbst schreiben
(Screenshots: b2n)
Der Prozess der offenen Geschichten hat gerade erst begonnen und unsere Besucher:innen sind herzlich dazu eingeladen, sich weiterhin virtuell in der digitalen Ausstellung umzusehen und sich an den offenen Geschichten zu den Objekten mit unbekannter oder nicht geklärter Herkunftsgeschichte zu beteiligen. Danke fürs Lesen und für die, die mitmachen wollen, geht es hier zur Website unter: www.dsm.museum/open-histoires
Der Text wurde verfasst von Karolin Leitermann, die das Projekt zusammen mit vielen Kolleg:innen am DSM entwickelt hat und auch weiterhin Ansprechpartnerin dafür ist.
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