„Och man, ich will nicht ins Museum, Museen sind total langweilig!“, sagt Maya, während ich sie gerade aus der Haustür schiebe, um die Grundschülerin ins Auto zu verfrachten. Maya – deren bisherigen Museumsbesuche wohl nicht ganz so spannend waren – ist das sechsjährige Patenkind meines Freundes, auf das ich ab und zu aufpasse. Für heute habe ich mit ihr einen Ausflug in das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven geplant, wo ich zurzeit ein Praktikum absolviere. Trotz etwas Widerstand lasse ich mich nicht von meinem Vorhaben abbringen – vielleicht gelingt es mir ja, die Sechsjährige für Kultur und Geschichte zu begeistern.
Angekommen im Auswandererhaus bekommen wir unsere Boarding Pässe mit einer für Kinder geeigneten Aus- sowie Einwanderungsbiographie ausgehändigt, deren Spuren wir auf unserem Besuch folgen. Maya begleitet mich in die Ausstellungsräume, wo wir in die Rolle eines Auswanderers schlüpfen werden. Noch scheint sie nicht ganz überzeugt zu sein.
Ein Rundgang aus einer anderen Perspektive
„Was macht denn die kleine Ratte dort unten?“, fragt mich Maya, während ich gerade dabei bin, die Inhalte verschiedener Auswandererkoffer zu studieren. Im ersten Moment entdecke ich nichts, was einem kleinen grauen Nagetier nahekommt. „Na dort unten!“ Ich beuge mich hinunter und da – tatsächlich – schaue ich in das Gesicht einer kleinen Ratten-Figur. Trotz meines Praktikums hier und einiger vorheriger Besuche war mir dieses Ausstellungsstück bisher entgangen. Das liegt wohl daran, dass mein Blickfeld als Erwachsene viel weiter oben angesiedelt ist als das einer sechsjährigen Grundschülerin. Doch nicht nur die Größe unterscheidet unsere Sicht auf das Museum. Als Kind staunt Maya über ganz andere Dinge, begeistert sich für kleine Details, die sie aus ihrem Alltag kennt, und freut sich über alles, was angefasst, gedrückt oder auf andere Weise spielerisch erfasst werden kann. Ich beschließe das Museum heute einmal aus der Perspektive eines Kindes zu entdecken und mich von der Sechsjährigen durch die Ausstellung führen zu lassen. Ob denn nun wirklich alle Museen „total langweilig“ sind?
Proviant ertasten und Kennenlernen mit Martha
Maya zieht mich zu den Fässern, in denen sich Proviant ertasten lässt. Gar nicht so leicht, findet sie. Fasziniert scheint sie auch von dem rekonstruierten Mittelteil des Dampfschiffes „Lahn“ zu sein, der wie eine riesige schwarze Wand nach oben ragt. „Wow, gehört das zu einem echten Schiff?“ Nachdem ich ihr erklärt habe, dass es sich dabei nur um einen ziemlich gut gelungenen Nachbau handelt, begeben wir uns in die „Galerie der 7 Millionen“. Hier wartet die erste Hörstation zu ihrer Auswandererbiographie auf uns. Maya lauscht konzentriert der Stimme aus dem Hörer, der aussieht wie ein altes Telefon. Sie lernt die Geschichte von Martha Hüner kennen, die 1923 mit gerade mal 17 Jahren ihre Eltern und Schwestern in Bremerhaven zurücklässt, um nach Amerika auszuwandern. Maya macht große Augen. „Ganz schön mutig“, meint sie.
Die Fahrt über den Ozean
Ein klein wenig gruselig wird es dann im dunklen Zwischendeck des Segelschiffs „Bremen“ mit den schnarchenden und hustenden Passagieren, die auf ihren Holzbetten kauern. Auf so ein Schiff würde sie ja nie freiwillig gehen, sagt Maya sofort. Dass eine solche Überfahrt auf einem Segelschiff bis zu zwölf Wochen, also doppelt so lang wie die Sommerferien, andauern konnte, und die Menschen an Bord dabei meist den ganzen Tag unter Deck bleiben mussten, schreckt sie noch mehr ab. Hier gäbe es ja nicht einmal eine Toilette! Da würde sie sogar lieber die nächsten zwei Sommerferien in der Schule verbringen und Mathe lernen. Eine Überfahrt auf dem Ocean Liner „Columbus“ sei dann schon eher was für sie. Am liebsten natürlich in den schönen Räumen der ersten Klasse, deren Bilder wir durch ein Guckloch bestaunen.
Während ich gerade versuche, Maya etwas über die Überfahrt auf einem Dampfschiff zu erklären, hört sie schon gar nicht mehr zu. Sie hat eine Familie entdeckt, die gerade dabei ist, sich an der Fotostation als Auswanderer zu verkleiden. Das will sie natürlich auch ausprobieren. Sobald die Familie ihren Platz verlässt, rennt die Erstklässlerin zu der großen Truhe. Begeistert durchwühlt sie die verschiedenen Kleidungsstücke und macht sich zurecht. Einige Outfit-Wechsel später knipsen auch wir ein hübsches Bild. Sie hat sich für einen dunklen Mantel und eine Mütze entschieden. „Jetzt sehe ich aus wie Martha!“, bemerkt sie stolz.
Vor dem großen Kofferberg überlegt Maya, was sie alles einpacken müsste, würde sie auswandern. Ihre Decke, ihren Pyjama und ihre Zahnbürste, immerhin müsse sie ja auf dem Schiff übernachten, überlegt die Grundschülerin. Und ihre zwei liebsten Kuscheltiere, die müssten auf jeden Fall auch mit.
Wir dürfen einreisen!
Angekommen auf „Ellis Island“, der kleinen Insel vor New York, läuft Maya sofort zu einem der schwarzen Tische „Guck mal, das hat einen Touchscreen, wie bei unserem Tablet! Das will ich auch machen.“ Wie echte Auswanderer können wir hier einige Fragen eines Einwanderungstests beantworten, die darüber entscheiden, wer einreisen darf und wer nicht. Wir haben Glück – da Maya sich bester Gesundheit erfreut, noch nie im Gefängnis war und sogar lesen und schreiben kann, wird auch unsere Einreise genehmigt.
Weiter geht es im „Office of the New World”. Die vielen Schubladen, in denen sich verschiedene Ausstellungsstücke verstecken, gefallen der neugierigen Entdeckerin. Wir finden Briefe, Fotos und Postkarten, die von der Neuen Welt berichten. Als nächstes macht Maya vor der großen USA-Karte Halt, die europäische Städtenamen in den Staaten anzeigt. Ihr waren die vielen Knöpfe aufgefallen, die selbstverständlich gedrückt werden müssen. „So viele Berlins gibt es?“, fragt sie ungläubig, „Ich dachte immer Berlin gäbe es nur einmal.“ Ich erkläre ihr kurz, dass damals wohl Menschen aus Berlin nach Amerika auswanderten, die ihre neu gegründeten Städte nach ihrer Heimat benannten. Vielleicht aus Stolz, vielleicht aus Heimweh. Heimweh, das kennt Maya.
Mittlerweile haben wir uns bis zum „Grand Central Terminal“, dem Nachbau des großen New Yorker Bahnhofs, vorgearbeitet. Die Grundschülerin wird auf drei Figuren aufmerksam, die in der Mitte des Raumes stehen. Ich erzähle ihr, dass die Auswanderer nach ihrer Ankunft viel Neues erleben und unterschiedlichste Herausforderungen meistern müssen. Hier zum Beispiel versuchen Mutter und Sohn von einem Gepäckträger, einem sogenannten „Red Cap“, zu erfahren, wo der Zug nach Chicago abfährt. Ohne Englischkenntnisse ist das gar nicht so einfach.
„Und was hat Martha gemacht, als sie in Amerika angekommen ist?“ will Maya wissen. Ich lenke sie zu den Ticketschaltern. Hier können wir gemeinsam nachlesen, dass die junge Auswanderin den deutschstämmigen Willy Seegers kennen lernt. Die beiden verlieben sich, heiraten und eröffnen eine eigene Bäckerei. Das freut Maya. Sie erfährt jedoch auch, dass Martha stets mit Heimweh zu kämpfen hatte. „Das kann ich verstehen, sie musste ja auch ihre Eltern und ihre zwei jüngeren Geschwister zurücklassen.“
Detektivspielen in einer Ladenpassage
Vom Grand Central Terminal geht es nun wieder zurück nach Deutschland. Ich folge der Erstklässlerin in den zweiten Teil der Ausstellung, in dem es um die Einwanderung nach Deutschland der vergangenen 300 geht. Maya berichtet, dass auch sie einen Einwanderer kennt. Seit einiger Zeit geht ein Flüchtlingsjunge aus Syrien in ihre Klasse. „Der musste mit einem Schlauchboot über das Meer fahren, wegen den ganzen Bomben in seiner Heimat. Dabei hatten er und seine Familie große Angst. Und seine Oma konnte auch nicht mitkommen, weil die schon zu alt war. Deshalb ist meine Oma jetzt manchmal seine Ersatzoma“, schildert Maya voller Mitgefühl.
Berührt von ihrer Erzählung begleite ich sie über eine Brücke, der uns zu einem Kiosk führt. Er ist Teil des Nachbaus einer Ladenpassage aus dem Jahr 1973. Dass es sich bei den verschiedenen Süßigkeiten, Kaugummis und Limos leider nur um Ausstellungsstücke handelt, die weder verkauft noch verzehrt werden können, enttäuscht Maya dann doch ein wenig. Zum Glück gelingt es mir, sie schnell davon abzulenken. In der Ladenpassage kann sie Detektiv spielen – in jedem Shop sind Spuren zu ihrer Einwanderungsbiographie versteckt. Das ist genau nach ihrem Geschmack. Sie durchforstet die verschiedenen Läden und stößt neben zahlreichen Fotoalben, einem Kinderwagen und einem Eislöffel auch auf ein handgefertigtes Puppengeschirr aus Zinn. Jeannette Connor, die Nachfahrin eines eingewanderten Hugenotten, bekam dies einst von ihrem Vater zum Geburtstag geschenkt. Das hätte sie auch gerne, meint Maya. Besonders gefällt ihr außerdem der Friseursalon. Hier kann sie sich auf dem alten Stuhl mit der Trockenhaube auf dem Kopf wie eine Dame aus den Siebzigern fühlen, die sich ihre Dauerwelle auffrischen lässt.
Damit endet unser Rundgang. Die Familienrecherche lassen wir aus. Maya reichen die vielen Informationen und Eindrücke für heute und wir gehen lieber noch ein Eis essen. Sie plant aber, noch einmal wieder zu kommen, um dann zu schauen, ob sie eventuell auch ausgewanderte Vorfahren hat. Ihren Boarding Pass mit dem Stempel von Martha Hüner möchte sie behalten. „Als Andenken“, sagt Maya. Ich freue mich – Museen sind wohl doch nicht alle „total langweilig“.
Von Lena Kikker
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