In jeder Spielzeit spielt die Niederdeutsche Bühne Waterkant im Kleinen Haus in Bremerhaven drei Produktionen auf Plattdeutsch. Mit 20 bis 25 Aufführungen pro Inszenierung. Die NDB Waterkant ist eine der wenigen plattdeutschen Bühnen, die derart stark, dauerhaft und treu von einem Städtischen Theater unterstützt wird. Das sucht in der Theaterlandschaft seinesgleichen. Ein ganz besonderer Bund – geschlossen für mehrere Leben.
Kurzes geschichtliches Vorspiel
Am 24. August 1920 wird die Waterkant-Speeldeel von den Lehrern Fritz Husmann und Heinrich Rahmeyer gegründet. Die beiden Herren sind sehr heimatverbunden und große Förderer der Niederdeutschen Sprache. Sie formulieren klar und deutlich, welches oberste Ziel die Niederdeutschen Bühne Waterkant verfolgen soll:
Dat schall kene lichte Kost to’n Lachen un Aaperee wesen, sonnern wi schööt uns mal wedder op dat gode Ole besinnen, wie unse Vöröllern leeft un schafft hebbt, un daar dat Gode un Bodenstännige rutsöken, wat not deit daarmit wi uns op unse Heimat un Stammesaart besinnt.(…)
Fritz Husmann & Heinrich Rahmeyer, Gründer der Niederdeutschen Bühne Waterkant
Die Niederdeutsche Bühne Waterkant soll kein Affentheater, sondern im Spiel das bodenständige Leben der Vorfahren zeigen. Nordisch by nature sozusagen. Inzwischen ist das Ziel der beiden Gründerväter mehr als erreicht: Die NDB Waterkant ist heimatverbundenes Amateurtheater auf hohem Niveau.
Plattdüütsch is een Spraak – keen lustig Dialekt
Ik snack fief Spraken. Man, keen Plattdütsch. Das maakt jüst bloot Onkel Google mööglich. Auch ich passe somit in einer Umfrage des Instituts für Niederdeutsche Sprache im Ergebnis-Tortendiagramm in das große, türkisfarbene 42 % Stück: Zero Plattdeutsch-Kompetenz. Ich bin keine Ausnahme. Dabei ist Platt so typisch norddeutsch. Und so divers. Je nach Region gibt es ungefähr zwei Dutzend Sprachfärbungen. Ein Friese zum Beispiel sagt zu kleines Mädchen „Lüdde Wicht“. Hier bei uns heißt es „Lüdde Dern“. Also, einmal mit der Fähre über die Weser gejuckelt, schon schnacken die Menschen anders Platt. Die Niederdeutsche Bühne Waterkant hat sich auf in und um Bremerhaven herum verständliches Plattdeutsch geeinigt.
Love and marriage go together
like horse and carriage (…).
Try, try, try to separate them, it’s an illusion (…).
James van Heusen, Sammy Cahn
Hochzeit mit Hindernissen
Die Anfänge zwischen dem Stadttheater und der NDB Waterkant erinnern mich an Prinz Charles und Herzogin Camilla. Das Kennenlernen beginnt still und leise. Es gibt Jahre der Ons und Offs, um dann endlich, endlich unter einem Dach zu landen. Am 2. März 1925 hat die Niederdeutsche Bühne Waterkant Cili Cohrs von Gorch Fock und De Straf von Alma Rogges ihr erstes Gastpiel am Stadttheater Bremerhaven. 15 Jahre (!) später – 1940 – holt der damalige Intendant Hans Press die NDB zum ersten Mal ganz ans Stadttheater. Kleines Detail am Rande: Press ist mit NDB-Mitglied Erika Grundmann verheiratet. Eine Doppelhochzeit. Doch im verflixten 7. Jahr ist die Nachfrage an Plattdeutschen Produktionen so groß, dass die NDB Waterkant in die Aula der Leher Schule zieht. Erst 20 Jahre (!) später kommt sie zurück ans Stadttheater. Ab 1972 ist die NDB Waterkant endgültig im Kleinen Haus unter dem großen Dach des Stadttheaters.
Pränatal auf den Plattdeutschen Brettern
Bei meiner Recherche in dem kleinen Kabuff schräg über dem Marketing-Büro des Stadttheaters stoße ich in den NDB-Programmheften der 60er Jahre immer wieder auf einen Familiennamen – Wiemken. Moment mal, die erste Vorsitzende der NDB Waterkant heißt doch auch Wiemken….Ich greife zum Hörer. „Bevor ich geboren wurde, war ich schon auf der ND Bühne“, erzählt mir Meike Wiemken lachend. Hä? Ich steh‘ auf der Leitung. „Also, meine Mutter Gitta ist 1957 dem Ruf der NDB Waterkant gefolgt. Parallel ist auch meine Oma zur NDB Waterkant gekommen. Sie hat dann meinen Opa und meinen Vater mit auf und hinter die Bühne gezogen. 1969 hat meine Mutter dann in De lüttje Wippsteert mitgespielt – mit mir ihm Bauch.“ Meike Wiemkes Patentante ist übrigens Erika Press (geb. Grundmann). Ihr erinnert euch? Nein? Scrollt in den vorherigen Absatz.
Es ist ein Geben und ein Nehmen, wie in einer guten Ehe.
Meike Wiemken, 1. Vorsitzende Niederdeutsche Bühne Waterkant
NDB Urgestein – mit Herz und Seel‘ bis heut‘ dabei
Meike Wiemkes Liebe und Begeisterung für die NDB Waterkant hüpft förmlich durch den Hörer, über mein Ohr direkt auch in mein Herz. Mit sieben Jahren hat sie ihren ersten Kompars*innen-Auftritt in De dütsche Michel. 1994 dann die erste richtige „Erwachsenenrolle“ in De latinsche Buer. Und wie in alter Familie-Wiemken-NDB-Tradition, ist auch Meike Wiemken zu dieser Zeit schwanger. Sie schauspielert, macht Inspizienz und ist seit 2013 auch im Vorstand tätig. Meike Wiemken hat sich mit Haut, Haar und Seel‘ der NDB Waterkant verschrieben. „Ich kann das nicht beschreiben. Es ist einfach faszinierend.“ In diesem Moment wird diese wortgewandte Frau verbal zu Mr. Spock von Raumschiff Enterprise. Und ich merke: Meike Wiemken lebt nicht, sie ist die NDB Waterkant.
NDB Besatzung: Next generation? – null problemo!
Während meines flammenden Telefonats mit Meike Wiemken verspüre ich einen Moment des Bedauerns: Verflixt und togenäht, schade, dass ich kein Plattdeutsch kann. Selbst Asterix und Obelix snacken inzwischen Platt! Trotzdem stelle ich es mir schwierig vor, an der NDB Waterkant eine nachfolgende Generation zu etablieren. Zu meiner großen Erleichterung teilt Meike Wiemken meine Sorge nicht. Junge Leute wollen durchaus Plattdeutsch lernen. Und die alten NDB Waterkant – Hasen und Häsinnen – geben ihr Wissen um die plattdeutsche Sprache gerne weiter. Ein win-win für Jung und Alt. Für den Nachwuchs ist die NDB Waterkant nicht nur auf der Bühne reizvoll. Denn jede*r darf sofort ran. Auch an die verantwortungsvollen Jobs, wie Inspizienz, Vorstand oder Leseausschuss.
Plattdeutschparadise für Leseratten
Das Repertoire der NDB sind klassische niederdeutsche, aber auch moderne Stücke. Ich frage mich: Wer übersetzt die zeitgenössischen Bühnenstücke ins Plattdeutsche? Ich lerne: Es gibt eine Menge Theaterverlage, die sich auf Stücke in niederdeutscher Mundart spezialisiert haben. Was dann auf den Spielplan der NDB kommt, entscheidet der Leseausschuss. Er besteht aus acht Mitgliedern aller Altersklassen. Einzige Aufgabe: das gesamte Jahr über Bücher lesen. Selbst entdeckte, von einem Verlag oder anderen Bühnen empfohlene, ganz egal. Einzige Voraussetzung: Spaß am Lesen plattdeutscher Texte. Der Leseausschuss berät dann über die Vorschläge. Ist das Stück spielbar und gut zu besetzen? Sagen wir für „wieder“ „wedder“ oder „Woller“? Die wichtigste aller Fragen aber ist: interessiert diese Produktion das Publikum?
Plattdeutsche Posse oder Niederdeutsch mit Tiefgang?
Die NDB Waterkant sollte kein Synonym für Affentheater werden (siehe erster Absatz). Doch für viele klingt Plattdütsch auch heute noch wie ein lustiger Dialekt. Ernste Stücke auf den Spielplan setzen? Keine einfache Angelegenheit. In der Spielzeit 1992/1993 startet die NDB Waterkant einen Versuch mit Amanita, ein psychologisches Drama über Mutismus und Missbrauch. Im Vorwort des Programmheftes steht : „(…) ein ungewöhnliches Novum im Rahmen der niederdeutschen Bühnenliteratur.“ Prompt gehen die Zuschauerzahlen in den Theaterkeller. In der Spielzeit 2009/2010 dagegen, schießt die NDB mit Keerls döör un döör! durch die Theaterdecke: vordergründig eine Travestie-Komödie, steckt hinter dem Plot die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den verschiedenen Geschlechterrollen. Das Publikum ist begeistert. Nach den Vorstellungen im Kleinen Haus werden noch drei weitere im Großen Haus drangehängt.
NDB Publikum: Next generation? Auch null problemo!
Ich schaue mir in der Spielzeit 2020/2021 Mien Mann un siene Wiewer an. Obwohl ich kein Platt snacke, verstehe ich doch alles. Ist gar nicht schwer. Während der Vorstellung linse ich diskret nach links, rechts und hinten. Im Publikum sitzen nicht nur die älteren Generationen! Nein, es ist auch junges Volk anwesend. Meike Wiemken bestätigt mir das: „Die Jüngeren wollen nicht nur auf und hinter der Bühne der NDB Waterkant mitmachen. Seit ein paar Jahren kommen auch immer mehr jungen Leute in unsere Vorstellungen.“ Das liegt gewiss auch ein bisschen mit an der Studi-Flatrate, dieser wunderbaren Kooperation zwischen dem Stadttheater und der Bremerhavener Hochschule.
Hundert Jahr‘, immer noch erfolgreich da
Im August 2020 hat die Niederdeutsche Bühne Waterkant ihr 100. Jubiläum. Dirk Böhling hat für diesen doppelrunden Geburtstag eigens ein Stück geschrieben: De letzte Kroog vor Helgoland or de Bratfisch Revue. Alle NDB-Mitglieder und -Schauspieler*innen sollten auf die Bühne. Gebührend krachen lassen wollte es die NDB Waterkant! Doch, aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben – die Spielzeit 2022/2023 ist jetzt für das Jubiläumsstück und die Knaller-Party angepeilt.
Das Geheimnis einer guten Ehe? Einer Serienaufführung immer wieder Premierenstimmung geben.
Max Ophüls
Die NDB Waterkant und das Stadttheater – die Unzertrennlichen
Auch der Bund zwischen Stadttheater Bremerhaven und NDB Waterkant feiert 2022 ein rundes Jubiläum: 50 Jahre. Goldene Hochzeit. Symbol für eine solide, beständige Kraft. Das Band zwischen Stadttheater und Niederdeutsche Bühne Waterkant ist regional unverwechselbar, besonders, authentisch. Ein Stück lebendige Heimat. Eben a perfect match op platt.
Sophia
Die Niederdeutsche Bühne Waterkant ist wirklich etwas Besonderes!! Vielen lieben Dank für diesen unglaublich tollen Beitrag. Es macht so viel Vergnügen, diesen zu lesen! Danke, danke, danke!
Ilka D'Alessandro
Liebe Sophia, ganz herzlichen Dank für deine wohlwollenden, positiven Worte. Glaube mir, ich hatte genauso viel Vergnügen beim Schreiben des Artikels! 🙂 Ja, ich kann auch nur jedem/jeder einen Besuch einer NDB Waterkant Vorstellung im Kleinen Haus empfehlen. In der kommenden Spielzeit 2021/2022 gibt es ja wieder genug Gelegenheit dazu. Und – wie im Artikel erwähnt – man braucht des Plattdeutschen nicht unbedingt mächtig zu sein.