Beim Anblick von kleinen Tieren wird fast jede*r schwach. So auch ich. Kleine Eisbärchen, Puma-Kätzchen oder Eichhörnchen, sie sind einfach „Zucker“. Sofort haben wir alle die entsprechenden Bilder im Kopf. Aber bei Fischen?! Meine Chefin (Zoodirektorin) Heike ist mit Leib und Seele Aquarianerin und versucht jedes Mal aufs Neue, etwas Begeisterung auch bei mir zu entfachen. Bis jetzt ist ihr das nicht so wirklich gelungen. Bis heute. Heute nimmt sie mich mit in unsere „kalte Kinderstube“. Es geht um Nachwuchs bei den Bewohnern unseres Nordsee-Aquariums.
Süßwasseraquarium vs. Meerwasseraquarium
Kalt deshalb, weil wir Tiere der Nordsee, also aus dem Bereich der kalten Meerwasseraquaristik, zeigen. Zum Vergleich: In der Aquaristik wird zwischen Süßwasseraquaristik (kalt/tropisch) und Meerwasseraquaristik (kalt/tropisch) unterschieden. Für die tropische Meerwasseraquaristik gibt es einen riesigen Markt, da neben fast allen Zooaquarien sehr viele Hobby-Aquarianer von den schillernden Farben der Fische und Korallen der Korallenriffe fasziniert sind. In vielen Geschäften und bei vielen Händlern können Tiere bestellt und gekauft werden.
Verborgene Kinderstube
Die Kinderstube befindet sich nicht direkt im Nordsee-Aquarium, sondern im Backstage-Bereich. Auf dem Weg dorthin erzählt Heike mir, dass das Nordsee-Aquarium im Bremerhavener Zoo erstmals 1913 eröffnete und auch damals schon einen sehr guten Ruf mit der Haltung seltener Arten, wie z.B. dem Hering oder dem gefleckten Seewolf hatte.
Neues Nordsee-Aquarium eröffnete 2013
Beim Neubau des Zoos in den Jahren 2001-2004 war aufgrund städtebaulicher Planungen ein Aquarium nicht vorgesehen. 2013 wurde, 100 Jahre nach der Öffnung der ersten Nordsee-Aquariums, wieder ein Nordsee-Aquarium eröffnet – in einem Hohlraum unter der Eisbären-Landanlage.
Die Becken sind größer, die Technik moderner und es gilt, wie bei anderen Zoobewohnern auch, Tiere nachhaltig zu pflegen und sich daher auch der Nachzucht zu widmen. Dabei steht der Zoo am Meer im engen Kontakt zu den wenigen Kaltwasser-Aquarien, um Informationen über Haltung und Nachzucht auszutauschen, aber auch um Tiere zu tauschen. Einige Tierarten werden von Fischern als Beifang aus dem Wasser gezogen, aber auch die Nachzucht spielt eine immer größere Rolle. Immer mehr Tierarten können mittlerweile gezüchtet werden, aber es bleibt noch viel zu tun. Umso stolzer ist Heike, dass zurzeit drei Arten, die Seehasen, die Seestichlinge und die Seenadeln, in der Kinderstube aufwachsen.
Erster Stopp: Die kleinen Seehasen
Im Backstage-Bereich angekommen, zeigt Heike mir zuerst die Seehasen. Wieder einmal wird mir bewusst, wie aufwendig die Aquaristik ist. „Mal eben“ ein Aquarium hinstellen, Wasser einfüllen und ab und zu Futter reinschmeißen? Damit ist es nicht getan. Eins vorab: Die Seehasen sind wirklich sehr niedlich! In dem Becken ist ein halber, großer Tontopf platziert, da Seehasen sich in der Regel gerne „absetzen“. Auf diesen Tontopf legt Heike Futter und sofort sind sie alle da, fressen ihr förmlich aus der Hand. Sie sind wohlauf, gut genährt und man kann ihnen beim Wachsen quasi zuschauen.
Männliche Seehasen sind kleiner und rot gefärbt
Heike erklärt mir, dass die Seehasen in einem Becken mit den Seewölfen bei 10 °C gehalten werden und wie es zur Befruchtung kommt. Die Männchen sind kleiner und rot gefärbt, die Weibchen blaugrün gefärbt, größer und dicker, wenn sie voll mit Laich sind. Das Männchen gräbt eine Grube und lockt das Weibchen dort hinein. Das legt die Eier ab und das Männchen befruchtet sie. Arbeitsteilung! Das Männchen bewacht dann vehement das Gelege.
Eier werden zum Schutz aus dem Becken entnommen
Da ein Teil des Geleges trotz der männlichen Bewachung von den Seewölfen gefressen wurde, wurde der Laich zehn Tage nach der Eiablage abgesaugt und in ein Becken im Backstage-Bereich ausgelagert. Da die Eier, wenn man sie aus dem Becken nimmt, sehr schnell verpilzen und dann kaum eine Chance zur Entwicklung besteht, wurde direkt ein Anti-Pilzmittel hinzugegeben. Und siehe da, es funktionierte! Am Anfang waren die Eier leicht orange und klar, nach 17 Tagen konnte man bereits zwei schwarze Punkte in jedem Ei, die Augen, sehen.
Nach 28 Tagen schlüpften die ersten kleinen Seehäschen
Die ca. 0,5 cm großen Fischen sahen eher aus wie Kaulquappen, ein kleiner, runder Körper mit einem Schwänzchen. Sie wurden am Anfang mit selbst gezüchteten vitaminisierten Salzkrebschen (Artemien) gefüttert, mit der Zeit gewöhnten sie sich an Stückchen von Seelachs, Garnelen und Tintenfisch. Einige von ihnen wurden an andere Aquarien abgegeben. Wenn die verbleibenden eine Größe von ca. 5 cm haben, dürfen sie in das „Nordsee-Aquarium“ umziehen, was bald soweit sein dürfte.
Weiter geht’s zu den Seestichlingen
Der Laich des Seestichlings ist sicher in einem Nest verpackt, was schon etwas Besonderes ist. Das Männchen bewacht den Laich. Ich bewundere die „Anordnung“ der Eier, denn insgesamt sieht es eher aus wie ein Nest. Beim genauen Hinsehen, sehe ich einige Dinge, die mich an „Nistmaterial“ bei Vögeln erinnern. Feine Fäden, die das Männchen ausscheidet, sind um die Eier gewickelt, kombiniert mit kleinen Teilen einer roten Alge. Immer wieder zubbelt das Männchen hier und da an dem „Nest“, um den größtmöglichen Schutz zu gewährleisten. Verpilzte Eier zum Schutz des Geleges werden von ihm entfernt. Dabei lässt er mich nicht aus den Augen.
Seestichlinge müssen regelmäßig nachgezüchtet werden
Beim Beobachten erzählt Heike mir, dass Seestichlinge nur ein bis zwei Jahre alt werden und daher jedes Jahr nachgezüchtet werden müssen. In der Regel kommen Tiere im Frühjahr zur Balz, wenn das Wasser wärmer und die Tage länger werden. Daher wird die Temperatur im Winter schrittweise von 16°C auf 11°C reduziert, um den Winter zu simulieren, um dann im Frühjahr mit steigenden Temperaturen die Balz zu induzieren. Das klappte dieses Mal leider nicht, denn kaum war die Temperatur bei 11°C begannen die schlanken Männchen mit dem Nestbau.
Männchen bewachen ihr Brutrevier
Laichwillige, dicke Weibchen verharren passiv und werden so wahrscheinlich als potentielle Partnerin erkannt. Die unterschiedliche Balzfärbung bei männlichen und weiblichen Tieren wie bei den „normalen“ Stichlingen gibt es nämlich nicht. Die Annäherung an das Nest erfolgt zügig und ohne aufwendige Rituale. Dort angekommen deutet das männliche Tier mit seiner Schnauze auf den Zugang. Befindet sich das Weibchen dann im Nest, löst das Männchen durch Bisse in den herausragenden Schwanzstiel die Eiablage aus und befruchtet die Eier. Bis kurz vor dem Schlupf verbleibt das Gelege in der Obhut des Männchens. Für den Schlupf und die Aufzucht kommen sie in ein kleines Aufzuchtbecken, da die Futtertierchen in einer sehr hohen Konzentration vorliegen müssen, damit die Jungtiere immer Futter vor dem Maul haben und so schnell wachsen. Von der Eiablage bis zum Schlupf dauerte es ca. 12 Tage.
Fütterung mit kleinen Salzkrebschen
Beim Blick nach rechts entdecke ich zwei trichterförmige Behälter, in denen eine rote Flüssigkeit ist. Heike „zapft“ daraus etwas ab und erklärt mir, dass dort das Futter für sehr viele Jungfischarten, die Salzkrebschen (Artemien), mit Vitaminen und Nährstoffen angereichert werden. Die Flüssigkeit wird natürlich abgesiebt, so dass nur die Krebschen zum Verfüttern übrig bleiben.
Große Seenadeln – kleiner Nachwuchs
Den letzten Nachwuchs, der bereits geboren und munter ist, sind die Großen Seenadeln. Ich finde, das sind Fische, die man in den Becken immer schwer entdeckt. Wie ihr Name bereits vermuten lässt, sind Seenadeln wie Nadeln lang und dünn. Aber trotzdem sehr interessante Tiere. Vor zwei Jahren erhielten wir ein Pärchen Große Seenadeln, das sich schnell im Nordsee-Aquarium einlebte.
Hier ist die Strategie, um Nachwuchs zu zeugen, noch einmal anders als bei den Seehasen oder Seestichlingen. Das Weibchen spritzt die Eier in die Bruttasche des Männchens, die aus zwei Hautlappen an der Unterseite von Bauch und Schwanz liegt. Das führt dazu, dass die Leibesfülle des Männchens durch die Entwicklung der Jungtiere zunimmt.
Die Großen Seenadeln bekamen unerwartet schnell Nachwuchs
Bei unseren Großen Seenadeln ging es dann doch sehr schnell. Zwar hatten unsere Aquarianer die Leibesfülle des 40 cm großen Männchens bereits entdeckt, waren jedoch trotzdem überrascht, beim morgendlichen Kontrollgang mehrere 2 cm lange und 1 mm breite Würmchen auf dem Boden des Aquariums zu entdecken. Für die Aufzucht wurden auch sie in den Backstage-Bereich gebracht. Und dort wachsen jetzt 9 kleine Große Seenadeln heran, wovon einige an andere Aquarien abgegeben werden.
Fische üben besondere Faszination aus
Der Ausflug in unsere kalte Kinderstube war spannend und ich wäre gerne noch etwas dortgeblieben. Zum ersten Mal kann ich die Faszination, die diese Tiere auf unsere Aquarianer und meine Chefin ausüben, besser verstehen. Das ist eine ganz eigene Welt, aber nicht weniger spannend. Einmal mehr hoffe ich, dass diese Unterwasserwelt unsere Besucher:innen begeistert und zum Nachdenken anregt. Ohne den rücksichtsvollen Umgang mit unserer Natur, und dazu gehören auch die Ozeane, die für den Laien weniger zugänglich sind, sowie den Ressourcen werden wir bald vielleicht keine kleinen Seehasen oder Seenadeln mehr beim Aufwachsen sehen können. Was für ein Verlust!
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