GPS, Google Maps und andere Online-Karten weisen uns heute den Weg. Ohne die Orientierungsprofis traut sich kaum ein Wanderer in den Wald oder ein Segler aufs Meer. Wie gelang die Navigation im analogen Zeitalter? Die neue Sonderausstellung „KARTEN WISSEN MEER. Globalisierung vom Wasser aus“ im Deutschen Schifffahrtsmuseum erinnert daran, wie sich Abenteurer die unbekannte See zu bekannten Fahrwassern erschlossen – mit maritimen Karten und ganz viel Mut.

Volle Kraft in Richtung Kartenmeer
Ganz ohne Kompass, dafür mit der größten Vorfreude darauf, mich im Papiergeraschel des Kartenmeeres zu verlieren, nehme ich Kurs auf den Erweiterungsbau des DSM, in dem die KARTEN WISSEN MEER-Wanderausstellung auf der Galerie im ersten Stock bis 14. März 2021 vor Anker geht. Nach knapp einem Jahr ohne Urlaubsziele kitzelt mich die Reiselust – wenn es schon nicht in die Ferne geht, dann wenigstens in der Fantasie zu fernen Orten. Fünf Themeninseln wollen in der Schau entdeckt werden. Auf ihnen gibt es verschiedene maritime Karten, Schiffsmodelle und Navigationsinstrumente zu erkunden. Hinter jedem Exponat verbirgt sich mindestens eine spannende Geschichte. Forschende aus dem DSM, der Universitäten Bremen, Erfurt, des Forschungszentrums Gotha und der Sammlung Perthes/Forschungsbibliothek Gotha gingen ihnen auf den Grund.
Karten faszinieren mich. Wo immer ich Welt- oder Landkarten sehe, ziehen sie mich sofort in ihren Bann. Nur ein schneller Blick: Liegt Paris noch dort, wo ich es vermute? Ist Afrika merkwürdig langgezogen wie auf anderen Karten? Teilen Boston und Bremerhaven denselben Breitengrad? Zack, reist mein Finger von Land zu Land, legt geschwind einen Zwischenstopp am Nordpol ein, um mich kurz an Bord der POLARSTERN zu schmuggeln. Irgendein Mikrodetail zwischen der nördlichen und südlichen Erdkugel bringt mich garantiert ins Grübeln. Doch zurück zum Kartenmeer.

Am Anfang stand die Kühnheit
Am Start geht es erst einmal zurück in die Geschichte. Mein Blick bleibt am ältesten Exponat der Sammlung hängen – einer Karte von 1780. Sie zeigt die südliche Hemisphäre, wie James Cook sie sah, als er 1775 von seiner zweiten Weltumsegelung heimkehrte. Jahrelang war der Brite von Wasser, Wind und Wellen umgeben. Im Herzen trug er die vage Vorstellung, einen noch unentdeckten Kontinent zu finden. Man nahm an, dass dieser als Gegengewicht zu den Landmassen der Nordhalbkugel für Balance auf der Erde sorgte. Im Gepäck hatte der Entdecker neben unvollständigen Seekarten, vor allem Ambition, Forscherdrang und Kühnheit. Den vermeintlichen Kontinent fand er nicht, dafür mehrere Südseeinseln, die er kartografierte.
Ich bin beeindruckt von den zarten Zeichnungen – zwar stehe ich nicht vor dem 240 Jahre alten Original, aber wenn der Geist von James Cook mitschwingt, dann ist Ehrfurcht gefragt. Obwohl die Schau sich auf Karten aus dem 19. Jahrhundert fokussiert, verrät mir der Kurator Dr. Frederic Theis, dass sich das Erscheinungsbild der „Wegweiser“ über die Jahrhunderte enorm änderte. Im 18. Jahrhundert offenbarten sich dem Betrachter farbenfrohe Gemälde mit fantasievollen Zeichnungen. Gepackt von überschwänglicher Weltgewandtheit fantasierten die zeichnenden Geografen Inseln, ganze Kontinente und in der Tiefe lauernde Ungeheuer dazu. Geografisch ein Fake, künstlerisch sehr unterhaltsam.

Sachlich – klar – wegweisend: Karten des 19. Jahrhunderts
Nüchtern, professionell und zurückgenommen im Design kommen die Meeres- und Seekarten des 19. Jahrhunderts daher. Nicht mehr prächtige Zeichnungen, sondern wissenschaftliche Klarheit drücken sie aus. Ich lasse die stürmischen Gefilde der unbekannten Südsee und James Cook zurück und betrete das Land. Prompt lande ich am Schreibtisch eines Kartografen. Ungefähr so sah wohl der Arbeitsplatz von August Petermann aus. Der Kartograf fuhr nie selbst zur See und stützte sich allein auf die Daten und Berichte der Kapitäne. Dennoch gelten Petermanns Karten bis heute als präzise geografische Vorzeigewerke. Ein paar Schritte weiter liegen ein Schiffstagebuch des Fähnerichs zur See Johannes Weineck und ein Seehandbuch. Blättern lohnt sich – zwar lässt sich die altdeutsche Schrift schwer enträtseln, dennoch bin ich im Geiste an Bord – ganz dicht neben dem Steuerrad – und schmecke förmlich Salz auf den Lippen.
Karten lesen – Selbst ist die Kapitänin
Wer navigieren will, muss Karten lesen können – kann ich? Am Kartentisch wird mir die Nautische Hilfskarte angeboten, um die beste Route von Europa nach Südamerika zu ermitteln. Eine wirkliche Hilfe ist sie mir nicht. Auf dem blauen Grund reihen sich Kreise gefüllt mit Zahlen aneinander – wohin nur? Die Optik dieser Karte ist mir vollkommen fremd. Mein Fazit: Ich lerne lieber den Umgang mit Sextant und Chronometer, den alten Navigationsinstrumenten, die noch heute fester Bordbestandteil vieler Frachter sind – für den Fall, dass die Technik versagt. Neben Karten und Navigationsinstrumenten bleibe ich immer wieder an beeindruckenden Schiffsmodellen stehen. An der ENDEAVOUR beispielsweise. Mit der Bark stach James Cook 1768 in See, um den Pazifik zu erkunden. Alle Exponate stammen aus dem DSM und der Sammlung Perthes in Gotha.

Nächster Stopp: Welt
Mit jeder Themeninsel nimmt sie Form an – die Welt. Schon weit vor dem nächsten Stopp erkenne ich die erste Weltkarte. Sozusagen die Mutter aller Weltkarten. Es handelt sich um ein frühes Exemplar der „Chart oft the World“, gedruckt um 1871. Etliche Linien durchschneiden den Atlantik und den Pazifik – es sind die Routen der Dampfschiffe, die schon zu dieser Zeit ordentlich für Verkehr sorgten. Praktisch faltbar und erstmals für die Allgemeinheit zugänglich, fand sie vom Verlag Perthes den Weg in die deutschen Wohnzimmer. Ganze Familien reisten von nun an in Gedanken vom Wohnzimmertisch in Gotha nach Australien, in die Antarktis und zurück. Kreuz und quer durch die Welt immer der Fingerspitze hinterher, die sich einer Kompassnadel gleich von Land zu Land schob.
Ein Ticket bis nach Feuerland bitte
Auch mich packt das Reisefieber: Von der nächsten Themeninsel weht sanft Fernweh herüber. Ich muss mich nur hinsetzen, den See-Atlas aufschlagen und schon liegt mir die Welt zu Füßen: Eisbergpanorama oder doch lieber Feuerland? Die prächtig gestalteten Reisekarten locken als bunte Verheißung, dem Schriftzug Nordpol sitzt ein Schneehäubchen oben auf, die Fjorde Norwegens wirken zum Greifen nah. Wer sich hier nicht verliert und im Gewimmel der Zug-, Fähr- und Kreuzfahrtpläne nicht aus Versehen die nächste Verbindung sucht und nutzt, kann an der letzten Station vor Anker gehen und sich etwas von den „Reisestrapazen“ erholen.

Am Lesestopp lausche ich den Abenteuern, die schon durch die Weltliteratur bekannt wurden. Schriftsteller waren zu jeder Zeit vom Medium Karte und der Weltentdeckung fasziniert. Mein Blick schweift in Richtung Deich. Nicht weit vom DSM brachen im Sommer 1869 die Forschungsschiffe GERMANIA und HANSA zu einer Polarexpedition auf. Vor meinem geistigen Auge sehe ich begeisterte Menschenmassen, die am Ufer Taschentücher und Hüte schwenken. Ach ja, klar würde ich auch gerne mal wieder ein Ticket in die Ferne buchen, weltenbummeln und globetrotten. Bis es soweit ist, träume ich mich überallhin – mit einem Blick auf die Weltkarte.

[bre_box title=“Aktuelles“ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ radius=“5″]KARTEN WISSEN MEER gastiert bis zum 14. März 2021 im DSM. So lange das Museum geschlossen ist, bieten ein Webspecial, Audioaufnahmen und eine virtuelle Führung erste Einblicke. Infos auf unserer Website.[/bre_box]
Autorin: Annica Müllenberg (DSM)