In Hamburg wurde sie geboren, in den USA gewann sie 1997 den Pulitzer-Preis. Dennoch ist die Lyrikerin Lisel Mueller in Deutschland nahezu unbekannt. Einer kennt sie allerdings gut: Benno Schirrmeister, Redakteur der taz – Die Tageszeitung. Er kuratierte gemeinsam mit Lina Falivena, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Auswandererhaus, die Ausstellung „,So far, so good.‘ Die vergessene Pulitzer-Preisträgerin Lisel Mueller“, die seit dem 9. August und bis zum 5. Januar 2020 in dem preisgekrönten Erlebnismuseum zu sehen ist. Mit ihm treffe ich mich zu einem Gespräch, um mehr über die Dichterin zu erfahren.
Herr Schirrmeister, „Lisel Mueller“ erinnert ein bisschen an „Lieschen Müller“….
Ja, eigentlich kann man mit diesem Namen ja nur vergessen werden… Ich glaube, sie hat sich selbst darüber im Gedicht Fulfilling The Promise etwas lustig gemacht, in dem es genau um die Vorbedeutungen von Namen geht. Aber im Ernst: Der Name verrät schon einiges über Lisel Muellers Lebensgeschichte. Geboren wurde Lisel Mueller nämlich als Elisabeth Annelore Neumann. Das war im Jahr 1924 in Hamburg. Ihr Vater, Fritz C. Neumann, war Lehrer und unterrichtete an der Lichtwarkschule in Hamburg. Seine reformpädagogischen und politischen Ansichten standen in radikalem Gegensatz zum Nationalsozialismus, und so wurde er bereits 1933 aus dem Schuldienst entlassen. Er selbst wanderte 1937 in die USA aus, seine Frau, Lisel und ihre Schwester kamen 1939 nach. 1943 heiratete sie dann den US-Amerikaner Paul E. Mueller. Und so wirkt ihr Name auf den ersten Blick deutsch, obwohl er eigentlich amerikanisch ist. Ich spreche ihn allerdings aus, wie auch die Amerikaner ihn aussprechen: nicht „Müller“, sondern „Mjuller“.

1939 ausgewandert, 1943 schon geheiratet: Das klingt so, als hätte sich Lisel Mueller in den USA ziemlich schnell eingelebt. Stimmt das?
In der Tat: Sie berichtet zwar, dass es ihr am Anfang schwerfiel, Metaphern zu verstehen, aber sie muss sehr sprachbegabt gewesen sein. Schließlich begann sie bereits 1942 ein Soziologie-Studium an der University of Evansville in Indiana, das sie 1944 mit einem B.A. abschloss. Ihre Gedichte schrieb sie später nur auf Englisch. Allerdings war sie zeit ihres Lebens in beiden Sprachen zu Hause – so arbeitete sie auch als Übersetzerin: Sie hat Gedichte und Erzählungen von Marie Luise Kaschnitz ins Englische übertragen.
Dass man als Soziologin Gedichte schreibt, liegt allerdings nicht unmittelbar auf der Hand, oder?
Ja, das Schreiben lernte Lisel Mueller autodidaktisch. Sie beschäftigte sich viel mit anderen Dichtern und ihren Werken, zum Beispiel Carl Sandburg, T.S. Eliot oder William Butler Yeats, aber auch mit deutschen Dichtern wie Rainer Maria Rilke oder Bertolt Brecht. Sie las alles an Lyrikzeitschriften und Gedichtbänden, was sie in die Hände kriegen konnte. Dabei half ihr, dass sie in Bloomington in der städtischen Bibliothek jobbte: so konnte Lisel Mueller dort die neuesten Erscheinungen auf dem Literaturmarkt beobachten. Paul war in Bloomington ab 1948 an der Uni in Musikwissenschaft eingeschrieben, Lisel belegte Kurse in Literaturwissenschaft. Diese Universität hatte auf diesem Gebiet schon damals einen ausgezeichneten Ruf.

Und worum geht es dann in ihren eigenen Gedichten?
Da kommen ganz unterschiedliche Themen zur Sprache. Faszinierend an ihrer Dichtung finde ich, dass sie die unterschiedlichsten Themenbereiche miteinander verbindet. In ihren Gedichten geht es um ihren Alltag, aber auch um zeitgenössische technische Entwicklungen, um Politik, Medizin, Natur… Oft verknüpft sie diese Themen auch mit Motiven aus Märchen und Mythen, was ihnen eine ganz neue Bedeutung gibt. So schreibt sie zum Beispiel ein Gedicht über Facelift. Das war eine damals ganz neue, breit diskutierte schönheits-chirurgische Technik, und sie stellt darin Verbindungen zu dem Narziss-Mythos her.

Spielt in ihren Gedichten auch ihre eigene Migrationsgeschichte eine Rolle?
Über ihre eigene Geschichte, wie sie als Jugendliche in die USA gekommen ist, schreibt sie gar nicht so oft. Und doch klingt das Thema der Migration in ihren Werken immer wieder an – explizit wie in den „Two Poems Written in the Age of the Great Migrations“, die 1976 im Band The Private Life veröffentlicht werden, oft aber auch diskreter: Es gibt da zum Beispiel ein Gedicht, das heißt „Testimony“. Hier spricht, auch wenn das in dem Gedicht nicht explizit so gesagt wird, die Göttin Venus. Der Mythos sagt ja von ihr, dass sie im Meer geboren wurde und in einer Muschel an Land angeschwemmt wurde. Venus wurde in der Kunstgeschichte häufig aus einer sehr erotisierenden Perspektive dargestellt. Doch in dem Gedicht wirft sie ihren Malern vor, dass diese sie überhaupt nicht richtig getroffen haben. Sie sagt, in Wirklichkeit seien ihre Haare voller Seetang gewesen, ihre Haut zerschnitten von Muschelschalen und Felsen, sie habe furchtbar gefroren und sich verloren gefühlt. Und bei diesem Bild denke ich unweigerlich an die Menschen, die heute über das Mittelmeer nach Europa flüchten. In den 1970er-Jahren gab es ähnliche Bilder im Südchinesischen Meer.

Venus als Migrantin – eine überraschende Perspektive!
Ja, Lisel Muellers Wahrnehmung von Migranten ist sehr empathisch. Sie sieht sie nicht in erster Linie als Opfer, sondern schaut auf sie mit einem sehr ermächtigenden Blick. Und gleichzeitig hat sie eine äußerst realistische Perspektive auf das Thema. Sie macht deutlich, dass Integration auch eine leidvolle Erfahrung sein kann. Ich denke da zum Beispiel an das Gedicht „Asylum“, auf Deutsch „Asyl“, das auch in der Ausstellung gezeigt wird. Hier spricht eine Einwanderin davon, wie sie ihr Gedächtnis und ihre Sprache mit in ein fremdes Land nimmt. Für sie sind sie wertvoll, doch in der Ferne werden sie zum Stigma, zu einer Leprarassel, die sie mit sich schleppt. Ich glaube, dass dieser nüchterne Blick auf Migration gerade auch in Diskussionen rund um das Thema heute sehr hilfreich sein kann.
Hatten Sie dann auch die Idee, im Deutschen Auswandererhaus eine Ausstellung zu Lisel Mueller zu machen?
Ich bin bei beruflichen Recherchen auf Lisel Mueller gestoßen, als ich auf der Suche nach Autorinnen war, die einen Bezug zu Norddeutschland haben und vom Vergessen bedroht sind. Ihre Gedichte haben mich sofort unheimlich beeindruckt. Und so habe ich immer weiter recherchiert, ihre Tochter Jenny Mueller kontaktiert, mich intensiv mit ihrem Leben und Werk beschäftigt. Ich habe dann für die taz einen Essay über sie geschrieben, aber dachte auch, dass man Lisel Muellers Geschichte da erzählen könnte, wo schon viele andere Migrationsgeschichten erzählt werden: im Deutschen Auswandererhaus. Und daher kam ich mit der Museumsdirektorin, Dr. Simone Eick, ins Gespräch. Sie war begeistert von der Idee, nicht nur die Lebensgeschichte von Lisel Mueller zu zeigen, sondern auch ihre Gedichte. Denn so wird deutlich, wie ihre Biographie mit größeren Themen verbunden ist, die auch noch für uns heute relevant sind: Migration, aber auch zum Beispiel politische und technische Entwicklungen. Sie schlug vor, eine Ausstellung zu Lisel Mueller zu machen, und lud mich ein, gemeinsam mit einer der wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen des Deutschen Auswandererhauses, Lina Falivena, die Ausstellung zu kuratieren.

Was können Besucher in der Ausstellung denn entdecken?
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht ein Gedicht von Lisel Mueller: „Curriculum Vitae“, auf Deutsch „Lebenslauf“. Natürlich ist das kein klassischer Lebenslauf, sondern sie beschreibt darin in poetischer Form ihre Lebensgeschichte. Das Gedicht ist über die ganze Fläche der Ausstellung aufgehängt, und so erkunden Besucher mit dem Gedicht auch gleichzeitig Lisel Muellers Werk und Leben. Das können sie auf ganz unterschiedliche Arten: Zu sehen sind Fotos, Werke auf Englisch und in deutscher Übersetzung, von denen manche bisher unveröffentlicht sind. Zu hören sind Lesungen, in denen sie ihre Gedichte rezitiert, und auch Vertonungen ihrer Werke. Und wir zeigen Erinnerungsgegenstände von Lisel Mueller, zum Beispiel die Brosche ihrer Großmutter, neben einem Gedicht, das sie genau über diese Brosche geschrieben hat. Bei einer Ausstellung über eine Pulitzer-Preisträgerin darf natürlich auch der originale Pulitzer-Preis nicht fehlen, der ihr 1997 verliehen wurde.
A propos Pulitzer-Preis: Wie erklären Sie es sich eigentlich, dass Lisel Mueller in Deutschland fast gar nicht bekannt ist, obwohl sie diesen bedeutenden Preis gewonnen hat?
Das ist wirklich sehr erstaunlich. Natürlich, Lyrikerinnen erhalten oft, im Vergleich zu Schriftstellern anderer Sparten, besonders wenig Aufmerksamkeit. Und um von den Medien wahrgenommen zu werden, reicht dichterische Qualität alleine oft nicht aus. Lisel Mueller führte ein sehr zurückgezogenes, beschauliches Leben. So etwas lässt sich schlecht medial vermarkten. Aber spätestens bei der Verleihung des Pulitzer-Preises im Jahr 1997 hätten die deutschen Medien auf sie aufmerksam werden müssen, und es hätten mehr Übersetzungen ihrer Werke herauskommen müssen. Denn noch immer sind die meisten ihrer Gedichte nicht ins Deutsche übersetzt! Ich verstehe nicht ganz, warum das nicht passiert ist. Umso mehr hoffe ich, dass bei den Besucherinnen und Besuchern der Funke überspringt und sie in der Ausstellung neugierig werden auf diese faszinierende Schriftstellerin.
[bre_box title=“Die Ausstellung im Deutschen Auswandererhaus“ „soft“ box_color=“#002c4c“ radius=“5″] „,So far, so good.‘ Die vergessene Pulitzer-Preisträgerin Lisel Mueller“ ist bis zum 5. Januar 2019 im Deutschen Auswandererhaus zu sehen. Zusätzlich zur Ausstellung bietet das Deutsche Auswandererhaus ein Begleitprogramm mit einem Vortrag und Kuratorenführungen an. Der Eintritt in die Sonderausstellung ist im Eintrittspreis für das Deutsche Auswandererhaus enthalten. Sie kann nicht separat besucht werden. Die Ausstellung wurde ermöglicht mit Unterstützung der Stiftung Deutsches Auswandererhaus. Weitere Informationen: finden Sie hier[/bre_box]