Der Name Marie Juchacz ist heute nur wenigen Menschen in Deutschland geläufig – zu Unrecht. Denn die Sozialpolitikerin prägte vor 100 Jahren die Weimarer Gesellschaft mit und ihr Lebenswerk ist auch heute noch Teil unseres Sozialsystems. Selbstverständlich ist das nicht, denn während der NS-Zeit schien ihre Arbeit zerstört.
„Die Dinge auf dem Kriegsschauplatz laufen schlecht, wenn solche Nachrichten wie in den letzten Tagen kommen, fühle ich es doch recht schmerzhaft, dass ich hier sehr abseits von jeder Gelegenheit zu politischem Gedankenaustausch sitze.“
(Marie Juchacz 1942 an den Sozialpädagogen Walter Friedländer, AWO-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn)
So schreibt die sich offenbar isoliert fühlende Marie Juchacz am 5. Juli 1942 an ihren Bekannten Walter Friedländer in Chicago. Zu diesem Zeitpunkt ist Juchacz 63 Jahre alt und lebt seit etwas mehr als einem Jahr im Exil in den USA – auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ist sie allerdings schon seit 1933.
Marie auf Spurensuche von Marie
Wer ist das überhaupt, Marie Juchacz? Für die aktuelle Sonderausstellung „,Und mitten in dem Ganzen stehen die Frauen der Welt.‘ Exil und Rückkehr der AWO-Gründerin Marie Juchacz“, die (wenn das Museum nach Corona wieder seine Pforten öffnet) bis zum 31. Juli 2020 im Deutschen Auswandererhaus zu sehen ist, habe ich mich mit dieser nicht ganz einfach zu beantwortenden Frage beschäftigt.
Marie Jachacz und das Frauenwahlrecht
Vor ziemlich genau einem Jahr tauchte Marie Juchaczs Name öfter in den Medien auf – denn sie war die erste Frau in Deutschland, die 1919 nach Einführung des Frauenwahlrechts vor der Weimarer Nationalversammlung eine Rede hielt. Und letztes Jahr, 2019, wurde dieses Frauenwahlrecht 100 Jahre alt. Ich finde es spannend, dass ausgerechnet dieser eine kurze Augenblick, diese eine Rolle in Juchaczs Leben so oft das Wichtigste ist, womit sie in Verbindung gebracht wird. 1969 zum Beispiel erhielt Marie Juchacz aus Anlass von 50 Jahren Frauenwahlrecht Platz auf einer Briefmarke, dasselbe passierte noch einmal letztes Jahr.
Medien und auch wir Historiker*innen stehen vor der Schwierigkeit, einen langen Zeitraum von Ereignissen auf den Punkt bringen und verständlich machen zu müssen. Symbolische Augenblicke wie eine erste Rede helfen dabei, große Wendepunkte in der Geschichte unserer Gesellschaft zu verstehen. Auch Marie Juchacz selbst war sich während ihrer Rede der symbolischen Tragweite dieses Augenblicks bewusst:
„Meine Herren und Damen! Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volke sprechen darf (…). Mit Recht wird man erst jetzt von einem neuen Deutschland sprechen können und von der Souveränität des ganzen Volkes.“
(aus Marie Juchaczs Rede am 19. Februar 1919 in der Weimarer Nationalversammlung)
Perspektivwechsel
Aber wenn wir die Geschichte eines Menschen nachvollziehen wollen, ist es oft hilfreich, auch einmal die Perspektive zu wechseln – Lebensgeschichten bestehen ja nun nicht nur aus einem Moment; und vor allem interpretieren wir unser Leben und die einzelnen Ereignisse darin zu unterschiedlichen Zeiten sehr verschieden. Verlassen wir also den berühmten Augenblick im Jahr 1919 und gehen stattdessen mitten hinein in eine Zeit, in der Juchacz keine bekannte Politikerin mehr ist, sondern eine so gut wie mittellose Geflüchtete. In ihrem Lebenslauf, den sie 1941 vermutlich in Vorbereitung auf Bewerbungen verfasst, erwähnt sie ihre berühmte Rolle am 19. Februar 1919 nicht – dafür nimmt ein Drittel des Textes die Jahre 1933 bis 1941 ihr ein: Sie beschreibt sich selbst als Geflüchtete, unterwegs von einem Ort zum nächsten, aber als eine Geflüchtete, die weiterhin politisch aktiv ist gegen den Nationalsozialismus.
„Dass ich mich im Saargebiet und in Frankreich selbstverstaendlich an der illegalen politischen Arbeit beteiligte, erwaehne ich hier nur am Rande.“
(aus Marie Juchaczs Lebenslauf, verfasst 1941, AWO-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn)
Sogar mehr als ein Drittel ihres Lebenslaufs beschreibt die Funktionsweise der Arbeiterwohlfahrt, ihr Herzensprojekt aus der Zeit von 1919 bis 1933. Die AW, wie sie sie selbst abkürzt, soll die Menschen dazu befähigen, sich selbst zu helfen: In Werkstätten, in Nähstuben, in Suppenküchen werden in der Zeit der großen Arbeitslosigkeit nach dem Ersten Weltkrieg Grundbedürfnisse gedeckt. Gleichzeitig begreift Juchacz die AW als Mittel, um Frauen dabei zu helfen, den ihnen zustehenden Platz in der Gesellschaft zu erkämpfen. Diese Arbeit – das ist es, was Juchacz 1941 über sich selbst mitteilen will. Den ganzen Lebenslauf im Original findet ihr übrigens in der Ausstellung, er ist einer von den Dokumenten und Briefen von Marie Juchacz, die die Friedrich-Ebert-Stiftung dem Deutschen Auswandererhaus geliehen hat und aus denen ihr Juchacz selbst sprechen hören könnt.
Wenn man zu Beginn der 1940er Jahre fragt „Wer ist eigentlich Marie Juchacz?“, dann könnte man antworten: eine ältere Dame, die vor zwei Jahrzehnten für ihre Zeit Revolutionäres erreicht hat – aber das ist alles zerstört, zudem spürt sie die körperlichen Auswirkungen ihres Alters.
Marie Juchacz – politisch und idealistisch
Im Sommer 1942 ist Walter Friedländer – übrigens ebenfalls ein Geflüchteter aus Deutschland – einer derjenigen, die Briefe von Marie Juchacz erhalten, in denen sie mit ihrer niedergeschlagenen Stimmung nicht hinter dem Berg hält. Juchacz ist ihr ganzes Leben lang ein politischer Mensch gewesen, eine, die anpackt und versucht die Gesellschaft nach ihren Idealen zu gestalten. Sie ist schon politisch aktiv, als dies Frauen noch verboten war. Sie ist es, die 1919 in der Nachkriegszeit, einen bis 1933 stark wachsenden Wohlfahrtsverband gegründet und geleitet hat. Nun lebt sie in einem Geflüchtetenheim in Iowa, irgendwo im Nirgendwo und müht sich damit ab, Englisch zu lernen. Das traurige Ende eines vorher so bedeutsamen Lebens?
„Ich habe einen Herzenswunsch. Ich moechte, dass die Arbeiter-Wohlfahrt – jetzt in der grossen Not – wieder aufsteht und dass ihr geholfen wird, um wieder eine kraeftige und leistungsfaehige Organisation zu werden. Meinen Sie nicht auch, dass damit dem Ganzen, drueben in dem ungluecklichen Land gedient waere?“
(Marie Juchacz an Elsa Brandström im November 1945, AWO-Archiv im Archiv der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn)
Spätestens 1945, als der Krieg zu Ende ist, wendet Juchacz ihre Geschichte noch einmal positiv und erweckt ihr soziales Engagement wieder zum Leben, indem sie in New York erneut eine Arbeiterwohlfahrt mit aufbaut. Was diese Arbeiterwohlfahrt in den USA genau erreicht hat, das könnt ihr in der Ausstellung erfahren.
Marie Juchacz und ihr Herzensprojekt
Wer ist sie denn nun, diese Marie Juchacz? Je nachdem, für wann in ihrem Leben man diese Frage stellt, muss man sie auch unterschiedlich beantworten. Eins habe ich aber für mich als Erkenntnis über Juchacz in ihren unterschiedlichen Lebensphasen mitgenommen: Die Arbeiterwohlfahrt ist für sie seit 1919 immer immens wichtig; es ist ihr Herzensprojekt. Und noch eines zieht sich wie ein roter Faden durch ihr Leben: Sie hatte trotz ihrer nur acht Jahre währenden Volksschulbildung beeindruckende sprachliche Fähigkeiten, um ihre politischen Ziele und ihre jeweilige Lebenssituation auszudrücken. Ich lade euch ein, dieses Talent in der Ausstellung selbst zu erfahren. Nur ein Detail aus ihrem Leben, das verrate ich euch noch vorher: Marie Juchacz gehört zu den Emigrant*innen, die irgendwann in ihre Heimat zurückkommen. Am 2. Februar 1949 läuft die S.S. Raphael Semmes in Bremerhaven ein, an Deck steht Marie Juchacz und winkt den sie empfangenden Arbeiterwohlfahrt-Frauen zu.
Von Marie Grünter, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Auswandererhaus und Kuratorin der Sonderausstellung
Sonderausstellung im Deutschen Auswandererhaus – nach Corona noch bis zum 31. Juli 2020.
Der Eintritt in die Ausstellung ist im Eintrittspreis für das Deutsche Auswandererhaus enthalten. Die Ausstellung kann nur im Rahmen von Kuratorenführungen separat besucht werden. Weitere Infos zur Ausstellung und zum Rahmenprogramm finden Sie unter: www.dah-bremerhaven.de/juchacz.
Die Sonderausstellung entstand mit freundlicher Unterstützung der Stiftung Deutsches Auswandererhaus und in Kooperation mit der AWO Bremerhaven.
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