Schlechte Zeiten für den König: Da hat ihm sein Zauberspiegel doch tatsächlich offenbart, dass es einen mächtigeren Herrscher als ihn gibt, irgendwo hinter den sieben Bergen. Ist ja klar, dass er das nicht auf sich sitzen lassen kann, und so beginnt er eine abenteuerliche Reise auf der Suche nach seinem Rivalen. Wie die wohl ausgeht? Das weiß im Moment nur Luca Schmidt. In den detailgetreu rekonstruierten Ausstellungsräumen des Deutschen Auswandererhauses, zwischen der US-amerikanischen Einwanderungsstation „Ellis Island“ und dem New Yorker Bahnhof „Grand Central Terminal“, dreht der Zwölfjährige seinen eigenen Märchenfilm – im Rahmen des Workshops „Märchen goes YouTube“, den das Museum in diesem Jahr mit Unterstützung der Dieckell Stiftung zum ersten Mal veranstaltete.
Märchen und YouTube? Dazwischen liegen für mich erst mal Welten. Bei Märchen denke ich an das dicke, etwas verstaubte Märchenbuch mit den bunten Bildern, das meine Oma vom Speicher holte, wenn ich zu Besuch war. Aber YouTube? Doch, auch hier sind Märchen inzwischen angekommen! Das zeigt mir meine Kollegin Antje Buchholz, die als Museumspädagogin den dreitägigen Workshop leitete. „Jo Digger, kommst du mit, dich in Bremen bewerben, kein Bock, als Salami zu sterben“, sagt da der Esel zum Hund im Musikvideo zu den Bremer Stadtmusikanten von Entertainer Julien Bam. Und in der Comedy-Serie „Ladykracher“ mit Anke Engelke wird die Hexe von „Hänsel und Gretel“ zur Franchise-Unternehmerin, die im „Sterntaler-Café“ ihre Spezialitäten an den Mann oder eben an die Kinder bringt.
(Aus-)Wanderung – auch im Märchen ein Thema
Auch im Workshop präsentierte Antje Buchholz die Videos den 11- bis 15-jährigen Teilnehmern, um anschließend mit ihnen ins Gespräch über eigene Ideen zu kommen. Klar war: Auf eine detaillierte Verfilmung der alten Stoffe kam es nicht an. Die Jugendlichen konnten die alten Geschichten kreativ weiterspinnen, auch die Vermischung mehrerer Märchen war erlaubt. Klar war auch: Migration sollte in den Märchen eine Rolle spielen. Und wer „Migration“ und „Märchen“ in seinem Kopf genauso schwer zusammenbekommt wie „Märchen“ und „YouTube“, der wurde in dem Workshop schnell eines Besseren belehrt. Ob die Bremer Stadtmusikanten der Not entfliehen und in Bremen ihr Glück machen wollen, das tapfere Schneiderlein auszieht, um in der Ferne sein Können unter Beweis zu stellen oder Rotkäppchen sich auf den Weg zu seiner Großmutter macht – Grimms Märchen sind voll von Aufbruch, Reise und (Aus-)Wanderung. Nicht zuletzt deshalb beteiligt sich das Deutsche Auswandererhaus mit dem Workshop am Stadtmusikantensommer 2019, in dem der 200. Geburtstag der Bremer Stadtmusikanten gefeiert wird. Und mit den Ausstellungsräumen des Erlebnismuseums standen auch gleich die richtigen Kulissen bereitet, um Märchen als „Migrationsgeschichten“ neu zu erzählen.
Ein Wolf mit Mascara
Doch bis die Teilnehmer so weit waren, stand erst mal einiges an Vorarbeiten an. Welches Märchen will ich verfilmen, was brauche ich dafür, und wie genau sollen die einzelnen Szenen aussehen? Um diese Fragen ging es am ersten Tag des Workshops. Und so machten sich der zwölfjährige Dominik Crombach und der elfjährige Luis Kremser begeistert an ihre Neuverfilmung von „Rotkäppchen“. Minutiös halten sie die Handlung in einem Storyboard fest und überlegen dabei genau, wie sie zu zweit alle wesentlichen Rollen abdecken können.
Doch die Rollenverteilung ist nicht die einzige Herausforderung bei der Umsetzung – schließlich soll der Wolf, der Rotkäppchen im Bett der Großmutter erwartet, auch nach einem Wolf aussehen. Da helfen die Kostüme, die das Deutsche Auswandererhaus bereitstellt. Aber wo bekommt man Schminke her, wenn weder Karneval noch Halloween bevorstehen? Kein Problem für die beiden Jugendlichen – sie behelfen sich kurzerhand mit Mascara.
Mit dem Zug zu den sieben Bergen
Überhaupt bin ich beeindruckt von der Kreativität und dem Engagement, mit denen die jungen Filmemacher ans Werk gehen. Märchen verbinden sie, genau wie ich, mit ihrer Kindheit – doch ob auch sie dabei an das staubige alte Märchenbuch von ihrer Großmutter denken? Womöglich liegen für sie Märchen und YouTube gar nicht so weit auseinander, denke ich. Viele von ihnen haben früher schon Videos gedreht – und so machen sie sich auch jetzt in der Ausstellung ans Werk. Der Held aus Lucas Video, der von seinem Rivalen hinter den sieben Bergen erfahren hat, sitzt inzwischen einer gruseligen Hexe mit weiß-grüner Haut und verfilzten Haaren gegenüber, die sich als Verkäuferin entpuppt. Ob sie denn wohl eine Fahrkarte zu den sieben Bergen für ihn habe, fragt der König höflich. „Ich glaub, Sie sind im falschen Märchen“, blafft ihn die Hexe an – bei ihr gibt’s nur Flugtickets.
Das war wohl eine Einbahnstraße für den König, doch was wären Märchen ohne solche Umwege und Hindernisse? Auch Rotkäppchen in Dominiks und Luis‘ Video bleibt nicht davon verschont. Konzentriert gehen sie bei ihrem Dreh vor, proben schon vor dem Filmen die einzelnen Szenen und drehen viele Episoden etliche Male, bis wirklich alle Details aufeinander abgestimmt sind. Rotkäppchen muss in ihrer Geschichte auf dem Weg zur Großmutter erst mal dringend auf Toilette, wo ihr ein finsterer Geselle aufwartet, der sich auf seinem Handy eifrig Notizen macht – und am Ende als böser Wolf entpuppt. Der erwartet sie später schon im Bett der Großmutter und erschlägt das Mädchen kurzerhand mit einem Kochtopf.
Nach und nach setzt sich bei den Workshopteilnehmern die Handlung zusammen. Am dritten Tag steht dann das Schneiden der Videos auf dem Programm und am Abend ihre Präsentation. Ich muss zugeben, ein bisschen Bauchschmerzen bereitet mir dieser Zeitplan ja schon. Ob wohl alle Videos rechtzeitig fertig werden? Doch auch hier habe ich die Rechnung ohne die Jugendlichen gemacht, denn viele von ihnen haben schon Erfahrungen mit Videoschnitt, und so kann abends pünktlich die Verleihung des „Digital Märchen Award“ des Deutschen Auswandererhauses beginnen. Wer das Preisgeld in Höhe von 250 Euro mit nach Hause nimmt, entscheidet am Ende die Jury – und die kürt das Video von Ariane Heuer und Kirsa Scheper, in dem sie alte und neue Fassungen von Märchen einander gegenüberstellen.
Für mich ist jetzt vor allem der Moment gekommen, in dem ich erfahre, wie die Geschichten der Jugendlichen zu Ende gehen – und so begegne ich dem König aus Lucas Video wieder. Noch immer ist er auf der Suche nach seinem Rivalen hinter den sieben Bergen, dieser ominöse Herrscher, der angeblich viel mächtiger ist als er. Und erneut befragt er seinen Spiegel: „Also, Spiegel, wer ist jetzt dieser Möchtegern-Mächtige hinter den sieben Bergen?“ „Es tut mir leid, aber ich weiß nicht, was du meinst“, antwortet der Spiegel lapidar. Wie die Reise des Königs weitergeht, das sehen wir nächstes Mal, verspricht Luca seinen Zuschauern. Ich bin gespannt.
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