Wir spielen wieder für Sie! Der Spielplan 2020/2021 ist prall gefüllt und viele Vorstellungen sind bereits ausverkauft. Das gab es noch nie in der gesamten Geschichte des Theaters! Alles Schlechte hat eben auch sein Gutes. Nach Corpus Delicti im Kleinen Haus feierte am 19. September das Musical Chicago Premiere.
Von A wie Anfang bis P wie Premiere
Beruflich komme ich aus dem Bereich Fernsehen. Das ist zwar auch irgendwie Theater, aber digital, nicht analog. Da ich meine Tätigkeit am Stadttheater pünktlich zur Pandemie begonnen habe, konnte ich bisher noch keinen echten Theater-Betrieb kennenlernen. Keine Produktion gesehen, gehört, begleitet. Die Große Bühne ein dunkles Loch, still ruhte – frei nach Heinrich Pfeils Volkslied – das Haus. Doch nun als Marketingleitung habe ich die Chance. Endlich. Mein Name soll nicht Hase sein, wenn meine Vertretungszeit im kommenden Jahr abläuft! Also überlege ich mir: Mit welcher Premiere aus welcher Sparte kann ich mir das beste Rundum-Gesamtbild machen? Ich entscheide mich für Chicago. Denn bei dem Musical wirken fast alle Sparten mit – von Musiktheater und Orchester, über Ballett bis hin zum Chor.
Den Anfang macht die Konzeptionsprobe
Bevor es überhaupt ans eigentliche Proben geht, gibt es so etwas wie eine erste Zusammenkunft zwischen Ensemble, Regisseur*in, Bühnenbildner*in, Kostümbildner*in und Dramaturg*in. Meist kennen sich alle schon aus früheren Produktionen. Chicago-Regisseur Felix Seiler zum Beispiel hat am Stadttheater Bremerhaven in der vergangenen Spielzeit Der Graf von Monte Christo inszeniert. Auf Konzeptionsproben werden zunächst Hintergrundinformationen ausgetauscht. Was ist das Besondere an dem Stück, wie ist es einzuordnen? Es hat ein bisschen etwas von einem lockeren Uni-Seminar über Musik-Geschichte. Ich sitze abseits der Runde und lausche und lerne.
Chicago beruht auf wahrer Begebenheit
So erfahre ich gleich zu Beginn von Regisseur Felix Seiler, dass Chicago 1975 zum ersten Mal als Musical uraufgeführt wurde. Die Geschichte beruht auf einem Schauspiel aus den 1920er Jahren, das nach wahren Gerichtsakten geschrieben wurde. Diese Geschichte ist demnach über 100 Jahre alt, doch die angesprochenen Themen sind aktueller denn je: Es geht in dem Stück um den Gebrauch von Schusswaffen, Selbstdarstellung, Fake-News. Und natürlich um die Liebe.
Was ist los in Chicago?
Roxie Hart, ein verkapptes Sternchen, ist frustriert und gelangweilt vom Leben allgemein und vom Gatten insbesondere. Da sie keinen Ausweg aus ihrer misslichen Lage sieht, flüchtet sie sich in eine Affäre. Doch der Geliebte Fred Casely ist seinerseits sehr schnell der jungen Blondine überdrüssig. Ohne lange zu fackeln, erschießt Roxie ihren Liebhaber: Denn: Niemand macht Schluss mit Roxie Hart! Nun ist allerdings doppelt Schluss mit Fred, und Roxie muss ins Gefängnis. Dort trifft sie auf das stadtbekannte Showgirl Velma Kelly. Sie sitzt ein wegen des Doppelmordes an Ehemann und Schwester. Die beiden Frauen wissen, sie müssen irgendwie die Presse auf ihre Seite bekommen, um der drohenden Todesstrafe zu entgehen. Billy Flynn ist der perfekte Rechtsverdreher für diese knifflige Aufgabe. Er manipuliert vortrefflich die Journaille und zieht so die Strippen, dass am Ende gut alles gut ist. Sonst wäre es ja auch nicht das Ende.
Zurück zur Konzeptionsprobe von Chicago
Nun hat Bühnenbildner Hartmut Schörghofer das Wort. Er hat die Große Bühne als kleines Modell gebaut und mitgebracht. Als er seine Ideen vorstellt, kommt es mir so vor, als hätte dieser Mann nicht nur Tonnen an Berufserfahrung, sondern auch den berühmten siebten Sinn. Sein Bühnenbildentwurf für Chicago ist so luftig und mit sehr viel Platz für die Darsteller*innen geplant. Er muss schon vor Monaten geahnt haben, dass zurzeit alle Produktionen auch auf der Bühne mit Abstand vonstattengehen müssen. Ich erfahre, dass es drei bewegliche Brücken auf der Bühne des Großen Saals geben wird. Mehr sei an dieser Stelle jedoch nicht verraten. Schaut es euch mit eigenen Augen an. Deshalb übergibt in meinem Text an dieser Stelle der Bühnenbildner auch den Rede-Stab an die Kostümbildnerin. Oder ist es eher ein Zauberstab? Denn auf einmal wird es jetzt schon ganz „Vogue“ auf der Bühne.
Figurinen wie in den großen Modeateliers
An der Wand hinter Kostümbildnerin Julia Schnittger sieht es auf einmal aus wie im Pariser Atelier von Karl Lagerfeld: Papierblätter mit gezeichneten Kostüm-Entwürfen und Collagen – im Fachjargon Figurinen genannt – hängen neben- und untereinander. Ich bin hin und weg – denn unter uns, und wir sind hier ja unter uns – ich bin schon lange wild entschlossen, in meinem nächsten Leben irgendetwas mit Mode „zu machen“. Julia Schnittger ist eine zarte Person mit einer ruhigen Ausstrahlung. Aber sie steckt alle auf der Bühne sofort mit ihrer Begeisterung und Leidenschaft für ihr Metier an.
Chicago der 20er: Glamour, Glitzer & Co.
Da die Geschichte zur Zeit der Prohibition in den USA spielt, spiegelt sich der Zeitgeist der 20er Jahre auch in den Kostümen wider. Federschmuck und Schiebermütze, Negligé und Pelzmantel sind auf den Figurinen zu erkennen. Die Arbeit fing für die Kostümbildner*in schon ein halbes Jahr vor der Premiere an. Julia Schnittger hat sich sorgfältig vorbereitet; Filme angeschaut, Fotomaterial gesammelt und für jede Chicago-Figur einen eigenen Ordner angelegt.
Oft fangen die Proben in den Kostümen erst zwei Wochen vor der Premiere an. Da zeigt sich erst, wo es noch zwickt und zwackt und welche Änderungen noch schnell in der Schneiderei vorgenommen werden müssen.
Weiter geht’s zur Bühnenprobe
Was der Stundenplan für die Schule, ist die Disposition für das Theater. Hoheitsrecht und Überblick darüber hat der Künstlerische Betriebsdirektor. Er ist das Bindeglied zwischen Ensembles, Produktion, Dramaturgie und Technik. Und mein personal translator, wie sich gleich herausstellen wird. In den Tagesplänen ist genau aufgeführt, wer, wann, wo und für was probt. Null Problemo, denke ich. Frisch, fromm, fröhlich, frei suche ich mir auf dem Tagesplan meine erste Probe für Chicago raus – und verstehe nur Bahnhof.
Personal translator, please!
nr. 35 f. , nr. 5 – dz., Ende Gerichtsszene + Nr. 34-36. Ich habe direkt den Song Foxtrot – Uniform – Charlie – Kilo von Bloodhound Gang im Ohr. Lalalaaa, mit dem Nato-Alphabet komme ich hier allerdings nicht weiter. Abgesehen davon, dass ich es auch nicht beherrsche. Ich greife zum Hörer und wähle die Nummer meines personal translators, aka Künstlerischen Betriebsdirektors: „Duhuu, Sebaastiaaaan, was bedeuten denn die Hieroglyphen?“ In Sekundenschnelle erweitert dieser mein Theater-Vokabular: Alle Szenen, Arien oder Songs sind durchnummeriert. Die Musik ist darüber hinaus in nummerierte Takte aufgegliedert. Bevor es zu längeren Durchläufen kommt, wird alles einzeln geprobt. Verstehe. Mein neu gewonnenes theoretisches Wissen möchte ich nun in die Praxis umsetzen. Leise schleiche ich mich in den Großen Saal…
Für mich nur Bahnhof auf der Bühne
Am rechten Bühnenrand sitzen Regisseur und Bühnenbildner. Links steht der Regieassistent, weiter auf der Bühne Choreografin mit den Hauptdarsteller*innen. Die Bühne ist noch recht leer und die Hauptdarsteller*innen tragen legere Kleidung. „Wir können direkt weitergehen. Und zwar die Szene vor und nach Nr. 25.“ , „Du kannst auch auf Null. Und du gehst auf zwei“, sind die Ansagen von Regisseur Felix Seiler. Ich sitze bestimmt zehn Minuten auf meinem Platz Nr. 9 und verstehe gar nichts. In meinem Kopf geht es zu wie Weihnachten 1979. Als ich ein 1000-Teile-Puzzle mit dem Neuschwanstein-Motiv geschenkt bekam und wochenlang den Esszimmertisch meiner Eltern okkupierte. Aber genauso, wie ich mir damals Tag um Tag das Schloss erpuzzlete, fügt sich für mich auch jetzt langsam – Szene für Szene – alles zusammen.
Alles verjazzt sich zu einem großen Ganzen
Jeder Schnipsel Szene, so wie es auf dem Tagesplan steht, wird ungefähr drei- bis viermal geprobt. Die Stimmung ist locker und gelöst. Scherze fallen, es wird viel gelacht. Was für ein schönes Arbeiten, denke ich. Das ist natürlich nicht zuletzt der Verdienst von Regisseur Felix Seiler. Er hat den Hut auf und trägt diesen mit sehr viel Ruhe und Höflichkeit. „Den ganzen Bogen nochmal?“ „Ja, bitte.“ Nach etwa zwei Stunden Zuschauen habe auch ich langsam den Bogen raus. Das Lied All that Jazz wird von den Darsteller*innen gesungen. Plötzlich erinnere ich mich, dass ich schon Wochen zuvor abends bei einer Chor-Probe zugeschaut habe. Automatisch füge ich dem Gesang jetzt auf der Bühne die Opernchor-Probe hinzu: All…that…Jazzzzzzzzzzzzz….
Exkurs: Übertitel, ein unterschätzter Genuss
Ich bin eine Liebhaberin von Unter- bzw. Übertiteln. Mein ganzer Dank geht stets an alle, die sich auf Netflix und Co. die Mühe machen, schwedische, israelische oder japanische Filme zu übersetzen und untertiteln. Denn durch die Titel bekomme ich sowohl etwas von der jeweiligen Sprache mit – Duktus, Färbung, Zwischentöne – als auch von der Handlung. Das originell Originale bleibt erhalten, aber – nicht unwichtig – ich verstehe auch, worum es geht.
Deshalb bin ich hocherfreut, als mein Blick oberhalb der Bühne im Großen Haus auf ein Übertitel-Display fällt.
Razzle Dazzle und andere sprachliche Hürden
Auch am Stadttheater werden italienische oder französische Opern oder eben ein amerikanisches Musical wie Chicago übertitelt. Die Arbeitsstelle „Opern-Übertiteler*in“ gibt es allerdings nicht. Meiner Meinung müsste es das aber, denn Übersetzen und Übertiteln ist Heidenarbeit. Im Musiktheater ist das Aufgabe der Dramaturgin. Mit sehr viel Recherche und noch mehr Liebe zum Detail übertitelt sie das Musical Chicago bis zur Premiere. Doch schon bei der allerersten gesungenen Zeile von Chicago frage ich mich: Wie übersetzen? „Come on babe, why don’t we paint the town, and all that Jazz…“ Oder: „Give ‚em the old razzle dazzle. Razzle dazzle ‚em.“ Mein Tipp: Wer sich im Stadttheater Chicago oder ein anderes Stück anschaut, unbedingt ab und an einen Blick auf die Übertitel werfen. Es lohnt sich!
Und dann schlägt die Stunde der Premiere
Achtung, ganz hocherhobener Zeigefinger: Erst am Tag der Premiere darf ich allen „Toi toi toi“ wünschen. Bloß nicht vorher! Das ist ein faux pas! Über Monate hinweg haben alle Gewerke sowohl miteinander als auch parallel nebeneinander auf diese Premiere hin gearbeitet. Mit vielen Hürden, die der momentanen Zeit geschuldet sind. So spielt das Philharmonische Orchester nicht wie gewohnt im Graben, sondern sitzt in kleinerer Besetzung auf der Seitenbühne. Aber egal, wo und zu welcher Zeit ich mich im Haus aufhalten habe, an allen Ecken und Enden hämmerte oder sang, spielte oder klopfet es. Eine unbeschreiblich schöne Atmosphäre. Die nun in der Premiere gipfelt.
Analog ist mein neues digital
Aufgehübscht mit Mund- und Nasenschutz sitze ich erwartungsvoll auf meinem Platz. Und merke, wie meine Haare elektrisieren. Warum nur? Weil ich mit Hilfe meines Kleiderstoffes und der Sitzfläche Reibung erzeuge. Keine Frage, auch ich bin aufgeregt. Endlich werde ich Chicago an einem Stück mit allem Drum und Dran sehen. Und dann: Der Vorhang fährt hoch, die 95 Minuten vergehen wie ein Wimpernschlag, ich klatsche mir die Hände rot und merke erst beim Hinausgehen, dass ich total vergessen habe, während der Vorstellung meinen Mund- und Nasenschutz abzunehmen. Mir bleibt nur mein Fazit mit Mama Mortons Worten zu ziehen: Chicago ist „eine rauschende Spritztour in die Hölle“. Überzeugt euch selbst.
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