Sonnenschein und glasklare Herbstluft. Ein paar Wattewolken lassen sich vom Wind über den blauen Himmel pusten. Ein guter Tag für eine Entdeckungstour am Neuen Hafen! Mit dem neuerschienenen Buch „31 x Ankommen“ in der Hand möchte ich endlich die Geschichten der Menschen besser kennenlernen, deren Porträts ich fast täglich an der Fassade des Deutschen Auswandererhauses bewundere.
Stelldichein am Neuen Hafen
Auf einer breiten Holzbank direkt am Hafenbecken lasse ich mich nieder. In meinem Rücken liegen Eisbrecher „Wal“ und Dampfschiff „Welle“ fest vertäut. Zwischen uns flattern Fahnen vergnügt im Wind. Ich bewundere das Wechselspiel des Lichts, das immer neue Details an der weißen Fassade des Erweiterungsbaus von 2021 hervortreten lässt. Zunächst muss ich etwas suchen. Dann entdecke ich sie: feine Linien, streifenförmig in die Betonplatten eingraviert, bilden dreidimensionale Reliefs. Eine Frau mit Pagenkopf, ein freundlich lächelndes Ehepaar, ein junger Mann mit Matrosenkragen und fragendem Blick. Eine ganze Gruppe hat sich hier versammelt. Mal allein, mal zu zweit, heben sich ihre Gesichter zwischen den quadratischen Fensteröffnungen ab.
Ein Mosaik aus weißem Beton
Seit 2021 zieren die Porträts von 34 Menschen mit Migrationsgeschichte auf 31 verschiedenen Betontafeln den Erweiterungsbau des Deutschen Auswandererhauses. In dem weißen Quader aus der Feder des Architekten Andreas Heller sind die neuen Museumsräume zu finden, die aus vielfältigen Perspektiven vom Zusammenleben im Einwanderungsland Deutschland erzählen. Auch die Academy of Comparative Migration Studies hat hier Platz gefunden, in der Migrationsgeschichte erforscht und vermittelt wird. Wie vielschichtig die Erfahrungen derjenigen sind, die in Deutschland auf die Suche nach einem neuen Zuhause gingen und gehen, lässt mich auch die Fassade erahnen. Im Mosaik der weißen Betonplatten leuchten einzelne Porträts auf. Für einen Augenblick treten sie klar zutage. Dann scheinen sie wieder abzutauchen, als wollten sie anderen die Bühne überlassen.
31 Geschichten vom Ankommen
Die Porträts erinnern mich an die Pflastersteine vor dem Museumseingang. Dort sind Namen, Auswanderungsjahre und Zielländer historischer Auswander:innen eingraviert. Sie stimmen auf die vielen Lebensgeschichten ein, die sich in der Ausstellung verfolgen lassen: Agnes Seidensticker, 1846, USA. Alfred Seidel, 1923, Brasilien. Peter Hessel, 1952, Kanada. Ganz anders treten mir die Eingewanderten auf der Fassade entgegen. Hier kenne ich zunächst keine Namen. Lediglich Haarschnitt und Kleidung lassen Rückschlüsse auf bestimmte Jahrzehnte zu. Zum Glück bin ich ja gut ausgerüstet mit der jüngsten Veröffentlichung der edition DAH, in der die Lebensgeschichten der Porträtierten anekdotisch und mit großformatigen Fotos vorgestellt werden.
Persönliche Erfahrungen sicht- und hörbar machen
Während der vergangenen Monate konnte ich häufig beobachten, wie meine Kollegin Magdalena Gerwien die Manuskriptseiten studierte, letzte Textanpassungen vornahm, Details von Druck und Bindung klärte. Viele Stunden Interviews und Berichte aus erster oder familiärer Hand, die die Wissenschaftler:innen des Museums über zwei Jahre zusammengetragen haben, hat sie für jede der persönlichen Geschichten in erzählerische Texte gefasst. „Mir lag sehr am Herzen, dass sich die Porträtgeber:innen in ihren Texten als Person wiederfinden und persönlich sicht- und hörbar werden“, berichtet sie. Deshalb haben die Porträtierten beziehungsweise ihre Angehörigen alle Texte gegengelesen und ihre Änderungswünsche einfließen lassen. Schließlich war es soweit: Die ersten frischgedruckten Exemplare trafen im Museumsshop des Deutschen Auswandererhauses ein. Hier erhalten Museumsbesucher:innen, aber auch spontan interessierte Hafenflaneure das Buch zur Fassade.
Ein Zuhause am Wasser
Mit dem Buch in der Hand lasse ich meinen Blick über die Fassade wandern. Eine Wolke schiebt sich vor die Sonne. Im gedämpften Licht erscheinen die Klaren Züge einer älteren Dame fast wie auf einem Foto-Negativ am oberen Rand des Gebäudes. Ihren wachen Blick scheint sie weit über das Hafenbecken und den Deich hinaus schweifen zu lassen. Hat sie Butjadingen im Blick – oder das offene Meer im Norden? Ich lese, dass ihr Heimatort Balga an der Ostsee im Zweiten Weltkrieg restlos zerstört wurde. Als 13-Jährige trat sie mit ihrer Mutter eine lange, schwierige Flucht an. Erst Jahre später fand sie mit beiden Eltern vereint in Bremerhaven ein neues Zuhause – diesmal an der Mündung der Weser. Bewegt schaue ich einen Moment den kleinen Wellen nach, die der Wind an die Kaje treibt.
Eine ganz eigene Sprache
Als die Sonne wenig später hinter einer Wolke hervorkommt, staune ich, wie viel Strahlkraft die Fassadenporträts in diesem Licht gewinnen. Jetzt zeichnen sich die Gesichter auf der rechten Seite des Gebäudes so klar ab, als seien sie gedruckt. Zwei Jungen lächeln mir entgegen, die Augen schmale Schlitze, als blinzelten sie in die Sonne. Während berufliche Chancen ihre Eltern aus den Niederlanden in die USA und wieder zurück über den Ozean nach Bremerhaven führen, entwickeln die beiden Brüder ihre ganz eigene Sprache. In einem einzigen Satz wechseln sie manchmal sie von Englisch auf Niederländisch zu Deutsch, lese ich beeindruckt.
Lebenswege erforschen
Ich blättere weiter, lasse mich von den eindrucksvollen Erzählungen fesseln und suche die passenden Porträts an der Fassade. Eine Karte im vorderen Teil des Buchs hilft mir dabei. Sie ordnet die Porträtplatten am Bau den Biographien zu. So entdecke ich schnell die richtigen Stellen. Spaziergänger:innen gehen an meiner Bank vorüber und kommentieren die Schiffe im Hafen auf Englisch, Deutsch, Spanisch. Manche folgen meinem Blick und weisen sich überrascht auf die Porträts hin, an denen sie beinahe vorbeigeschlendert wären. Zwischendurch winkt mir ein Kollege von seinem Schreibtisch an der großen Glasfront im ersten Stock zu. Was für ein passender Arbeitsort, denke ich: Eingerahmt von den Porträts der Menschen, deren Lebenswege sich in Bremerhaven kreuzen, die vielfältigen Erzählungen über das Aufbrechen, Ankommen und Zusammenleben zu dokumentieren, zu diskutieren und weiterzugeben – Migrationsforschung in bester Gesellschaft.
Hanna Lippitz, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
edition DAH 2022
Zum Preis von 9,90 € erhältlich:
– im Museumsshop im Deutschen Auwandererhaus
– per Bestellung unter Tel. 0471 / 90 220 – 0 oder per Mail an info@dah-bremerhaven.de
Mehr zum Museum, aktuellen Ausstellungen, Tickets und Öffnungszeiten:
www.dah-bremerhaven.de
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