Von den bewegten Zeiten der Passagierschifffahrt.
Wenn ich das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven besuche, drängt sich mir schnell eine Frage auf: Was ist das eigentlich, „Geschichte“? Die Verschiebung von Grenzlinien auf einer Landkarte? Eine Liste von Kriegen und Intrigen mächtiger Leute, die lange wie ihre Väter und Großväter hießen? Oder ist Geschichte nicht eine geteilte Erzählung von vielen über die materiellen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Bedingungen, die sie verbanden und trennten? Wie das Leben und seine Veränderung sie prägte, wie sie Altes wie Neues lernten, erfanden, ertrugen oder schufen?
Menschen machen Geschichte, Geschichte macht Menschen
Das Deutschen Auswandererhaus ist eines der Museen, das vielen Menschen, die Geschichte machten, besonderen Platz bietet. Nicht nur in der Ausstellung. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Dr. Tanja Fittkau schrieb hier nicht zuletzt mit den Schriftstücken in der Sammlung ihre Doktorarbeit: „Vom zusätzlichen Frachtgut zum umworbenen Kunden – Die Überfahrtsbedingungen für Seereisende und ihre Grenzerfahrungen 1830-1932“. Ein spannender, auch für Nicht-Historiker*innen wie mich gut lesbarer Text über die Überseemigration, den ich jetzt, da er in der „edition DAH“ veröffentlicht ist, zu Hause durch-schmökere. Das Museum und seine Direktorin, Dr. Simone Blaschka, unterstützten ideell wie finanziell dieses empathische und wissenschaftlich relevante Projekt, die Stiftung Deutsches Auswandererhaus die Veröffentlichung dieses Buches.
Zeiten und Veränderungen aus Ego-Perspektive
Mein besonderes Glück ist, dass ich die Autorin auch noch ausfragen kann. „Seit meinem Studium interessierte ich mich weniger für die Könige oder Politiker, sondern für die Bauern und Handwerker, Dienstmädchen und Sekretärinnen“ sagt sie. Von denen erfahre ich quasi ganz persönlich von ihrer Migration: durch ihre Briefe, Reiseberichte und Tagebücher, die Tanja Fittkau zusammengesucht hat. Sie handeln von Erfahrungen und lebensverändernden Effekten, die die Seereise für Migrant*innen auf Schiffen aus Deutschland bedeutete.
Den Zeitraum, über den Tanja Fittkau forschte, legte sie – der Titel verrät es mir – zwischen 1830 und 1932 fest. Denn: 1830 begann die Passagierschifffahrt in Bremerhaven. Das Untersuchungsende, 1932, hat düstere Gründe. „Mit der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland beginnt 1933 eine Zeit, in der Migration von Verfolgung, Flucht und Vertreibung bestimmt wird. Für diese Jahre fanden sich im Verhältnis nur wenige ausführliche Berichte von der Überfahrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg verdrängte dann das Flugzeug immer mehr das Schiff für lange Reisen“ erklärt sie mir das andere wichtige Datum für die Arbeit. Der Rahmen der Geschichte der vielen Geschichten ist gesetzt. Und die Sache mit den Grenzerfahrungen?
Übersee-Reisen, eine radikale Entscheidung
Das einzige Transportmittel, das die meisten Menschen zwischen 1830 und den 1930ern sicher über die Weltmeere bringen konnte, war das Schiff. Schon in der Ausstellung im Deutschen Auswandererhaus bemerke ich: grade in den frühen Jahren der Auswanderungsfahrten eine extreme Reisesituation – und lerne im Buch so einige Details. Die kleinen Segler brauchten nach Nordamerika manchmal bis zu zwölf Wochen. Die verbrachten die armen Migrant*innen zusammen mit bis zu 400 Menschen im Zwischendeck: einem einzelnen Raum mit Licht durch Deckenluken, Toiletteneimern, die manchmal tagelang bei schlechtem Wetter nicht geleert werden konnten, und einer Hand voll Pökelfleisch.
Die Nussschale auf dem Meer
Auswandererstädte wie Bremen warben in den 1830ern mit gesetzlichen Regelungen, die dafür sorgten, dass überhaupt Essen für die Passagiere bereit gestellt wurde und dadurch weniger Konflikte zwischen den Reisenden um Proviant entstanden. Bremen konnte sich außerdem rühmen durch seine Regelungen für eine geringe Anzahl an Todesfälle auf der Überfahrt zu sorgen als einige andere Häfen.
Der Schiffszwieback wird alle 8 Tage ausgetheilt, ist rauh und schwarz wie Lohkuchen oder Torfstücke, auch voller Mehlwürmer und so hart, daß man ihn mit Holzstücken oder Hammer zerschlagen muss.
Brief vom 6. November 1852, Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Crueger, S.2).
Na toll…
Alles bleibt anders?
Gut für all diejenigen, die auf den besser technisierten, großen Dampfschiffen oder Ocean Linern der späteren Zeit reisten, oder nicht? Tanja Fittkau bestätigt mir für die Verpflegung: „Auf den Seglern klagen noch 73 Prozent aller Reisenden über das Essen, 1914 noch 39 Prozent, und die meist im Zwischendeck.“ Ich bin skeptisch.
Betritt man so eine Schlaf-Abteilung auf einem Auswandererschiff, so wähnt man sich anfangs in einer Menagerie versetzt und glaubt eine Anzahl Käfige vor sich zu sehen.
Berliner Illustrierte Zeitung 1902, hier zit. N. Armgort 1991, S.64
Klingt auch 1902 nicht nach Luxus? Die armen Reisenden jedoch finden auch noch 1929:
Die Kajüte, die wir haben ist auch sehr schön, sauber und grohs, sie ist für 6 Personen, schlafen tun wir sehr gut
Brief vom 28. Juni 1929, Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Familie Wagner, o. Pag
Vielleicht sollte ich das alles relativ sehen.
Für eine Flasche Bier, die bei uns 20 Pfg. kostet, zahlt man […] 75Pfg.
Brief vom 31. Juli 1882, Kammeier 1994, S.245f.
Ok, manch‘ Gutes wie Ärgerliches ist schon leicht für mich nachzuvollziehen.
Im Buch finde ich viele lustige, traurige, gruselige und poetische Zitate, die mir vom stetig besser werdenden Leben an Bord berichten, von der Schönheit der ruhigen, belebten See und von einer Welt, von der ich – und wir – kaum etwas wüssten, wenn sie hier nicht erzählt würde.
Zum Tanz!
Über die besser werdende Verpflegung, von Tees und Sandwiches als Zwischensnack –
[Ich trinke] verschiedene Tassen auf Vorrat
Reisebericht 1925, Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Eckhard Quitmann, S.3
gibt Walter Krämer 1925 erfreut zu – und von Wasserspülungen auf den Toiletten schwärmen irgendwann auch die Passagiere der Dritten Klasse, – und von privateren Unterbringungen, über das Verschwinden der Langeweile und der Einzug der Unterhaltungsmusik an Deck.
Die findet sogar recht bald einen Platz auf der Überfahrt
so wurde alsbald ein kleines Tanzvergnügen arrangiert u. tanzten alsbald die jüngeren Damen des Zwischendeckes mit den Matrosen
Reisetagebuch 1862/63, Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Brigitte Landes, S.19
denn die „norddeutschen Bauernjungen“ haben zu viel Sorge beim schwankenden Schiff zu stolpern, amüsiert sich Karl Robert Koch 1862. Bibliotheken, Schachspiele, Fitnessräume und Rauchersalons für die reicheren Gäste folgen nur wenige Jahrzehnte später und machen die Überfahrt langsam, für einige, zu einem eleganten Vergnügen.
Doch Neptun bleibt ein gefürchteter Herrscher
„Aber nicht alles wandelte sich notwendig zum Positiven“, mahnt Tanja Fittkau meinen Blick, den ich langsam mit den Passagieren teile. Wer von der deutschen Küste aufbrach, war zur Reise mit dem Schiff gezwungen. Egal, ob er schon einmal das Meer gesehen hatte oder grauenhaft seekrank wurde.
Abends zum Dinner waren wir nur noch 3 Personen, welche Stand gehalten hatten
Reisebeschreibung 1888, Sammlung Deutsches Auswandererhaus, Schenkung Horst u. Walter Köbsch, S. 8
berichtet der Techniker Albert Ebenreuter 1888. Und die große Angst vor dem Tod auf See, der Naturgewalt Meer und dem Ertrinken konnte auch eine Ocean Liner nicht notwendig beruhigen. Auch wenn die Passagiere der späteren Dampfer, anders als die der langsamen Segler, ihre verstorbenen Lieben nicht auf See lassen mussten, geschluckt von der Tiefsee. Las man doch viel leichter in der Zeitung von Unglücken weltweit, wie der Titanic.
Sonabend erfolgte ebenfalls ein Krach durchs ganze Schiff als wen Alles in der Mitte auseinander borste, den Schreck kann man nicht mit Worten sagen […]
Brief vom 12. Juni 1902, Forschungsbibliothek Gotha, Hüttig/Petzold, S.1
gruselte sich Lina Gröbe 1902 bei einem Motorenschaden.
Geschichte, das undurchdringbare Gewebe
Es ist fesselnd, wovon ich auf den 350 Seiten lese. Viele Details entfalten sich. Ich entdecke Menschliches und Unmenschliches, Natur und Technik, Gedanken über das Meer und die Entdeckung der Freizeit. Alles war real und für die Menschen von ernsthaften Folgen. Ja, diese Reisen veränderten sie, durch körperliche und seelische Erschütterungen, Hunger, Krankheit und Verlust, ebenso wie durch Freundschaften, Begegnungen, Chancen und Erfahrungen, die sich an Bord auftaten. Ich verstehe Tanja Fittkaus Idee zu fragen, welche Effekte die Überfahrt auf den Verlauf der Migration hatte, wie Glück und Unglück auf der anderen Seite des Meeres auf See schon Form bekam. Auch wenn ein Stück der Geschichten auch für Forschende wie Lesende immer das Geheimnis vergangener Geschichten, nein, gegenwärtiger Geschichte bleiben wird.
Von Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Vom zusätzlichen Frachtgut zum umworbenen Kunden. Die Überfahrts-bedingungen für Seereisende und ihre Grenzerfahrungen 1830 – 1932
von Tanja Fittkau
Herausgeber: Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Bremerhaven: edition DAH, 2020
348 Seiten, Soft Cover
ISBN 978-3-9817861-9-4
Die neu erschienene Ausgabe gibt es für 26 Euro sowohl direkt im Shop des Museums, per E-Mail an info@dah-bremerhaven.de oder im Online-Shop von dah-bremerhaven.de
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
www.dah-bremerhaven.de
Öffnungszeiten:
März bis Oktober: 10 bis 18 Uhr (montags bis sonntags)
November bis Februar: 10 – 17 Uhr (montags bis sonntags)
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