Neue Ausstellung im Deutschen Schifffahrtsmuseum: Wie zersägt man ein PLAYMOBIL-Schiff und was ist eine Kogge-Bibel?
Dicke Glasscheiben lehnen an der Wand neben dem Eingangsbereich. Längliche Vitrinen-Podeste zieren die Ausstellungsfläche auf drei Etagen und durch das milchige Weiß großer Kunststoffkisten schimmern bunte Teile aus einer PLAYMOBIL-Welt. Bereits eine Woche vor der Eröffnung begrüßt eine rot gekleidete Großfigur mit Zylinder die Museumsgäste. Sie weist ihnen den Weg entlang der originalen Schiffsteile der mittelalterlichen Kogge und des riesigen Portraits eines Playmobil-Tauchers. Von außen gut sichtbar an den Fensterscheiben zu erkennen, macht er schon von Weitem auf die Sonderausstellung „KOGGE trifft PLAYMOBIL – Die Geschichte eines Schiffes neu erzählt“ aufmerksam.
In den Tagen vor der Eröffnung laufen die Aufbauarbeiten auf Hochtouren: die einen legen Blaue Planen aus, andere streuen feinen Sand darüber. Hier entsteht ein Strand, dort ein Meeresboden, weiter drüben eine Sandbank. Mit großen Kinderaugen sehe ich die volle Pracht der mitgebrachten Sammlungsstücke von Oliver Schaffer. Er platziert diese liebevoll bis ins Detail durchdacht auf den Planen. Ein Schiff mit rot-weißem Segel, noch ein Schiff mit weißem Segel – und ist das etwa ein Piratenschiff? Eine Seeschlacht entbrennt in meinem Kopf, die Flotte vor meinen Augen. Ein Schuss vor den Bug, ein weiterer folgt und trifft die Planke. Oh Nein, der Wasserstrudel bricht ins Innere unter Deck. Hilfe, wir sinken! Mein Blick landet auf der glatten blauen Oberfläche und ich frage mich, was wohl noch alles auf diesem Meeresgrund schlummert. Ein Seeungeheuer streckt seine Tentakel nach mir aus. Puh, zum Glück handelt es sich nur um Spielzeug! Oder etwa nicht?
Historische Hintergründe der Kogge werden in PLAYMOBIL-Schaulandschaften dargestellt
Kuratorin Helga Berendsen wirft prüfend einen Blick aufs Arrangement. Viele wissenschaftliche Fakten und historische Beiträge hat sie über Monate gesammelt und mit Schaffer diskutiert. Welche eignen sich am besten für die Darstellung im PLAYMOBIL-Diorama, um die Geschichte(n) der Kogge neu zu inszenieren? Die Entscheidung fiel auf zwölf thematisch gerahmte Szenen, die vom mittelalterlichen Bau- und Handelsgeschehen bis zur heutigen Rezeption und Forschung rund um die Kogge reichen. Da dürfen die tief im Meer schlummernden Gefahren nicht fehlen. Deren Erzählung beruht zwar weniger auf historisch belegbaren Fakten, sondern auf fantasievollen Abbildungen von Seeeungeheuern auf der berühmten Seekarte der Carta Marina. Doch schließlich sind auch diese Veranschaulichungen ein Stück Geschichte und deshalb wert, in der Ausstellung thematisiert zu werden.
Die bestehende Ausstellung zur Kogge ist spielerisch um viele zusätzliche PLAYMOBIL-Geschichten ergänzt worden, die in unmittelbarem Zusammenhang mit den Objekten vor Ort stehen und diese mit der farbigen Welt des Spielzeugs verbinden. Nicht nur für die geschichtsbegeisterten PLAYMOBIL-Fans oder die PLAYMOBIL-affinen Schifffahrtsinteressierten ist gesorgt.
Im Zentrum der Ausstellung stehen sechs Figuren, die uns mit auf die Reise nehmen in eine reizvolle Darstellung, wie es vielleicht war oder gewesen sein könnte. Der Hansekaufmann zeigt uns, wie die Kogge gebaut wird. Die Seeräuberin, wie man sie einnimmt. Und der Taucher ihren Fund in der Weser. Der Marinemaler begleitet uns ins 19. Jahrhundert und lässt uns an der damals neu aufkommenden Begeisterung für die Marineschifffahrt durch Kaiser Wilhelm teilhaben. Die Besucherin auf der SAIL zeigt uns die Begeisterung für diese Themen heute und nicht zuletzt gibt uns die Wissenschaftlerin Einblick ins Forschungsgeschehen zur Kogge damals und heute. Aber wie? Gibt es überhaupt alle historischen Figuren und benötigten Teile von PLAYMOBIL?
Herausforderungen von wissenschaftlicher Genauigkeit und handwerklicher Präzision
Um die historischen Hintergründe authentisch darstellen zu können, eignet sich das Spielzeug hervorragend. Mit viel künstlerischer Freiheit wird hier ein Kürbis oder dort eine Piratin ergänzt. Manche PLAYMOBIL-Teile werden umgewandelt und neu verbaut, angesprüht oder zurecht gesägt mit einer japanischen Spezialsäge. Da muss auch schon mal ein PLAYMOBIL-Piratenschiff zur Kogge umgebaut werden. Glücklicherweise ähnelt eine Variante des Freibeuter-Seglers tatsächlich der Form der historischen Handelsschiffe. Denn auf historische Vorlagen wird in der Ausstellung viel Wert gelegt. So werden die Schaulandschaften mit entsprechendem Bildmaterial verglichen, das aus dem Buch „Sternstunden der Archäologie“ stammt. Dies bezeichnet das Ausstellungsteam auch als „Kogge-Bibel“. Außerdem müssen viele Detailfragen geklärt werden, die über Form und Funktion von Koggen hinausgehen.
Maßanfertigungen für die Ausstellung
Saß Kaiser Wilhelm wirklich schon in einem Auto oder war es doch eine Pferdekutsche? Wurde die Kogge mit einem Saugbagger geborgen oder war es doch ein Tauchglockenschiff? Und welche Teile von PLAYMOBIL können verwendet werden, um so etwas zu bauen?
Miniatur-Kürbisse gibt es, aber waren damals noch nicht in als Lebensmittel entdeckt worden. Entsprechend können sie doch nicht auf dem Deck des mittelalterlichen Handelsschiffs liegen. Und die Piratin ist in Wirklichkeit eine Seeräuberin, denn die Piraterie beschreibt ein anderes historisches Kapitel, das aber in dieser Vitrine nicht dargestellt wird. Eine weibliche PLAYMOBIL-Figur mit Augenklappe zu finden ist eine Sache, die Sammler-Edition der Wissenschaftlerin Marie Curie zu einer Seeräuberin umzudekorieren die persönliche Handschrift von Oliver Schaffer. Auch der Handelskaufmann enthält mehrere Kleidungsstücke prominenter PLAYMOBIL-Figuren: Umhang und Hut stammen von Martin Luther, das Hemd hingegen von einem der Heiligen Drei Könige. Auf dem Weg durch die Ausstellung begegnen ihm die Museumsgäste immer wieder und können sich in seine Welt entführen lassen.
Team-Arbeit auf allen Ebenen für eine gelungene Ausstellung – analog und digital
Hammerschläge und Bohrgeräusche dringen durch die Kogge-Halle. Beim Aufbauen der großen Vitrinen wird viel Kraft benötigt, beim Bau der Schaulandschaften ist dagegen buchstäblich eine Menge Fingerspitzengefühl gefragt. Die gesamte Mannschaft der Museumswerkstatt ist zu Gange. Jede helfende Hand wird gebraucht, um die schweren großen Glasscheiben der Vitrinen einzusetzen. Stück für Stück werden sie um die länglichen Podeste herumgesetzt. Zu dritt und zu viert heben die Kolleg*innen aus der Werkstatt die Teile an und fügen sie vorsichtig an die fertigen Landschaften. Ein kurzer Klopftest des Sammlers bestätigt, dass nichts umfällt. Jetzt kann nichts mehr verändert werden. Oder doch? Die vordere Seite der Vitrinen bleibt noch geöffnet. Die beiden Kollegen aus dem Team des Web-Specials machen sich mit ihren Kameras an die Schaulandschaften. Sie suchen nach der geeignetsten Perspektive, um diese in fotografische Panoramen zu übersetzen, die auch im Netz vielfältige Impressionen der Ausstellung aus Mikroperspektive übermitteln.
Foto rechts: PLAYMOBIL-Figuren stellen die Realität dar. (Foto: Karolin Leitermann)
Web-Special als Ergänzung zur Ausstellung
Eine digitale Erweiterung der Ausstellung ins Virtuelle ist ebenfalls ab dem 26. Juni unter dem Titel „Kogge trifft PLAYMOBIL – online“ zu erleben. Mit Hilfe von Panorama-Aufnahmen können Interessierte direkt in die Rolle einer PLAYMOBIL-Figur schlüpfen und sechs Dioramen virtuell besuchen. Ein Suchspiel ist sowohl analog vor Ort als auch im Web-Special enthalten. Dabei werden auch die unterschiedlichen Perspektiven zum Erlebnis. Im Museum lassen sich die Schaulandschaften besser überblicken, das Web-Special lässt dagegen einen genaueren Blick auf Details zu. Denn für echte Entdeckungen braucht es immer mehrere Perspektiven. Und dann bleibt immer noch ganz viel Platz für die eigene Fantasie, um Geschichten erzählen.
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