Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven ist in vielerlei Hinsicht wie eine große Zeitmaschine. Doch von der Maschine merke ich wenig, denn die meisten Räume, die ich als Besucherin betreten kann, haben die Aura einer Zeit, die ich selbst nie erlebt habe. Trotz all der Medienstationen in der Ausstellung fühlt sich das Wort „digitale Vernetzung“ hier irgendwie ein bisschen merkwürdig an. Und doch dreht sich das neueste Ausstellungsstück des Museums um die Verbindung von Zeiten, Dingen und Menschen auf einem Bildschirm, gleich einem Fenster in der Zeitmaschine oder einem Dimensionsportal, das in einen Garten aus Geschichten blickt. Oder wie mir das Banner dahinter verrät: ein „Biographien-Portal“. Wie und was dort funktioniert? Heute probiere ich es aus.
Eine digitale Museums-Chimäre
Eigentlich ist das „Biographien-Portal“ etwas rein Digitales, ein Datennetzwerk. Doch muss es im Museum greif- und bedienbar werden. Die Vitrine, die es birgt, steht ruhig zwischen den Koffern der Auswander*innen, die mit dem Schiff nach New York einreisen, und den Bildschirmen der „Familienrecherche“. Nichts verrät von weitem, dass von hier aus ein ganzes Netz durch Zeiten und Ideen wächst. Doch andererseits ist die Vitrine selbst schon eine Chimäre, ein eigentümliches Mischwesen zwischen den historischen Erinnerungen, die hier im Museum wieder real werden, und den ganz persönlichen Beziehungen zum Thema Ein- und Auswanderung, die viele Besucher*innen durch die Namen ihrer Verwandten in der „Familienrecherche“ suchen. Zur einen Seite präsentiert die dunkle Holzvitrine ganz klassisch ein Objekt, zur anderen Seite den Touchscreen; vor dem stehen zwei Regiestühle. Ich setzte mich und berühre den Bildschirm.
Wachstumspflege vom Stromnetz bis in die historischen Äste
Wie alle fabelhaften Chimären und Gewächse hat auch dieses eine bewegte Vorgeschichte: Schon lange setzen sich die Forscher*innen des Deutschen Auswandererhauses mit digitalen Medien im Museum auseinander. Das taten und tun sie zum Glück nicht alleine, sondern in einem bundesweiten Verbundprojekt namens „museum4punkt0 – Digitale Strategien für das Museum der Zukunft“. Daran arbeiten etwa die Staatlichen Museen zu Berlin oder das Deutsche Museum in München mit, gefördert wird es durch die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien. Also viel Material und Köpfe, die da zusammenkommen, um eine Idee aufkeimen zu lassen: Können uns digitale Medien helfen, wissenschaftliche Erkenntnisse, Kultur und Geschichte näher zu bringen oder Empathie zu wecken? Und wenn ja, wie tun sie das?
Sich in Bits und Bites einfühlen
In den Räumen des Deutschen Auswandererhauses kann ich mich durch die original rekonstruierten Schauplätze in die Erlebnisse der Aus- und Einwandernden einfühlen. Ich sehe, fühle und höre Dinge über die Medienstationen, die mich mit allen Sinnen mit den Geschichten, die ich kennen lerne, verbinden. Und die realen Biographien machen die Erlebnisse im Museum zu etwas persönlichem, etwas, das ganz konkrete Menschen betrifft, deren Spuren ich hier finde. Geschichte trifft hier in meinen Bauch, mein Herz, meine Nerven – und das Gefühl verbindet sich mit Wissen, das ich nun neu und anders verstehe. Aber geht das auch, wenn ich Dinge nur auf dem Bildschirm sehe? Oder bleiben sie nicht notwendig irgendwie „platt“?
Blüten eines Sammel-Suriums
Der Touchscreen zeigt mir eine Anordnung unterschiedlichster Bilder – wie aufgedeckte Memory Karten, die ich mit dem Finger herunterscrollen kann: Erinnerungsfotos und Dokumente, Screenshots von Filmen und sorgsam abfotografierte Gegenstände. Ein kleines Kind neben einem Kürbis, ein Filmstill mit einer älteren Frau, eine schlanke, lange Flöte, ein Ausweis eines jungen Mannes mit dunklem Haar. Moment. Ich kenne den Ausweis. Er ist auf der anderen Seite der Vitrine in dem kleinen Glaskasten vor mir ausgestellt. Ok, ich habe entschieden, wo ich anfange. Ich bin neugierig, was hinter dem Ausweis steckt. Mit einem Fingerdruck öffnet sich die Informationsseite zum Foto.
Tausend Welten auf der Größe eines Touchscreens …
Digitale Medien im Museum können nicht nur schick oder nah am Alltag vieler Menschen sein. Sie könnte ein Problem lösen, das die meisten Museen haben: In den Schränken ihrer Sammlung liegen kleine Schätze, unfassbar viele sehenswerte Dinge und damit hörenswerte Geschichten. Selbst wenn man ein gigantisches Museum baute und einfach alles zeigte – irgendwann liefe ich als Besucherin doch achtlos an all diesen wunderbaren Sachen vorbei. Dinge zu finden, die mich individuell interessieren, und doch nicht in einer „Bubble“ zu enden, sondern Neues zu lernen, einem Ast der mich interessiert zu folgen, um seine Blüten neu zu entdecken, das wäre ideal – auch aus Sicht vieler Museen. Wohin mich der Ausweis führt, weiß ich noch nicht.
… tausend Leben am Ende einer Fingerspitze …
Im Deutschen Auswandererhaus gibt es zudem viele Interview-Aufnahmen und -Videos mit Schenker*innen und Zeitzeug*innen. Sie sind Migrationsgeschichte aus erster Hand. Deswegen ist es für die Forscher*innen so wichtig mehr Kontakt zu Menschen zu haben, die selbst (oder ihre Vorfahr*innen) Migration erlebt haben. Denn das bedeutet mehr Wissen über ein Stück Geschichte, das man nie ganz über Daten oder Statistiken verstehen könnte. Aber wie diesen Kontakt herstellen, außer beamen? Digital, über das Internet, Videotelefonie oder eben über ein Portal.
… und die Geschichte eines Einzelnen im Anderswo
Die Funktion „Meine Geschichte“ lädt deswegen mit einem kleinen Briefsymbol dazu ein, die eigene oder familiäre Migrationsgeschichte zu erzählen und so Kontakt mit den Wissenschaftler*innen aufzunehmen. Wenn das „Biographien-Portal“ im Dezember auf der Seite des Deutschen Auswandererhauses online geht, können auch diejenigen, die grade in Australien, leben das Portal ausprobieren, ihre eigenen Erfahrungen beitragen und Teil dieses außergewöhnlichen Projekts werden. So wächst das Portal nicht zuletzt mit denen, die es benutzen.
And not all those who wander …
Die offene Portal-Seite verrät mir: Der junge Mann auf dem Studentenausweis heißt Hasan Barlas Foçali. Ich erfahre, wie er in den 1960er in Deutschland Zahnmedizin studierte und sich zurück in der Türkei in eine deutsche Touristin verliebte. Der nächste Umzug nach Deutschland folgt, erst nach Berlin, dann gemeinsam mit ihr nach Lippstadt. Ich bin entzückt. Das alte Blatt Papier ist Grundlage für eine Liebesgeschichte.
Unter Hasans Geschichte stehen Kategorien: Migrationsart und -gründe, der Zeitraum seiner Einwanderung und die Folgen seiner Einwanderung. Über ihm ein allgemeines Verzeichnis der Kategorien. Aber ich habe Lust in „seiner“ Zeit zu bleiben und drücke „1946 – 1989“. Vielleicht bekomme ich noch eine Lovestory aus den 60s? Ich scrolle die Liste herunter. Doch das nächste Icon, das ich anklicke, erinnert mich: Für viele waren es auch traurigere Zeiten. Die Kindertasse ist weniger heiter als gehofft.
… are lost
Eine Ausreisegeschichte aus der DDR. Erika Wohlers will eigentlich Archivwissenschaften und Geschichte in Berlin studieren, aber das Regime wirft ihr eine pro-westliche Haltung vor, verurteilt sie zur Haft. 1974 verlässt sie die DDR zusammen mit ihrem Ehemann für immer, die Tasse ist ein Erinnerungsstück an ihre Eltern. Danach wechsele ich von Ein- zur Auswanderung: Der Bierkrug, den ein Arbeitsmigrant auf dem Dampfer des Norddeutschen Lloyd gen USA als Souvenir hat mitgehen lassen, heitert mich da fast automatisch auf. Von ihm aus finde ich mehr Geschichten von Auswander*innen in die USA, lustige, abenteuerliche, dann – über das Interview mit einem Herrn namens Peter L. Levin – wieder auf die traurigen und düsteren Geschichten von antisemitischer Verfolgung.
Geahnt, vernetzt, eine Verbindung mitgenommen
Es ist ein merkwürdiger verwinkelter Garten voller Licht und Schatten. Und dazwischen berührende, beeindruckende, erstaunliche Blüten, unterschiedliche Dimensionen von dem, was Ein- und Auswanderung bedeuten kann. Aber irgendwie verweisen sie alle aufeinander. Das Wurzelwerk unter meinen Füßen wird ahnbar. Das Portal hat seine Grundlage weit über den Bildschirm hinaus. Wenn ich den richtigen Strang wiederfinde, dann vielleicht auch Hasan, Erika, Peter oder doch jemand völlig neuen. Es ist oft trotzdem der richtige Strang.
Als ich aufstehe ist es mir etwas peinlich. Wie lange habe ich hier gesessen? Nun gut. Unauffällig rutsche ich vom Regiestuhl. Andere Leute wollen ja auch.
Von Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
www.dah-bremerhaven.de
Öffnungszeiten:
März bis Oktober: 10 bis 18 Uhr (montags bis sonntags)
November bis Februar: 10 – 17 Uhr (montags bis sonntags)
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