„Kurz nach ihrer Geburt erkrankt Freida Sima schwer…“ Sie beginnt dramatisch, die reale Lebensgeschichte von Freida Sima Enzenberg, die ich gerade im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven verfolge. Gespannt lausche ich an den Hörstationen in Räumen, die mit den Stationen ihrer Auswanderung verbunden sind, wie sich Freidas Leben entwickelt. Für mich eine besondere Begegnung durch das Medium einer Geschichte.
Dabei ist das Deutsche Auswandererhaus in vielerlei Hinsicht ein besonderes Museum. Eben nicht nur, weil es Migration und Flucht aus so unterschiedlichen Perspektiven thematisiert und mit seiner Multimedialität ein überaus „sinnliches“ Museum ist. Sondern auch, weil es die Kunst des Geschichten-Erzählens in so vielen Formen nutzt, erkundet und versteht.
Die schöne Idee vom friedlichen Erzählen
Auf seine Art ist das Museum so auch mit dem 20. März, dem Weltgeschichtentag, verbunden: Der Göteborger Ulf Ärnström, selbst Geschichtenerzähler und Psychologe, erdachte ihn 2003, in der Zeit des umstrittenen Irakkrieges. Am 20. März, an dem Tag und Nacht genau gleich lang und im Gleichgewicht sind, wollte er das Gleichgewicht zwischen Erzählen und Zuhören feiern. Seine Idee war, dass Menschen, die einander gleichermaßen erzählen und zuhören, sich viel schlechter feindlich begegnen können. Seit 2004 gibt es in Schweden und später in vielen anderen Ländern Veranstaltungen, an denen sich Profi-Fabulierer*innen und Freizeit-Bard*innen Wahres und Erfundenes, Trauriges und Heiteres zu einem bestimmten Thema mündlich vortragen. Dieses Jahr ist das Motto „Lost and Found“.
Im März 2022, mitten während des Ukraine-Krieges, klingt Ulf Ärnströms Idee vom großen Frieden für meine Ohren leider ein bisschen zu optimistisch und einfach. Aber die Idee ist natürlich schön. Und hat einen wahren, rettenswerten Kern. Denn Erzählen und Zuhören ist ein Moment menschlicher Begegnung, in dem wir über unser Einzelwesen-Sein nachdenken müssen und es zugleich überwinden. Wir haben nur eine Möglichkeit, „das in unserem Kopf“ mit anderen zumindest etwas zu teilen: Indem wir Sprache(n), Bilder und Symbole nutzen, die beide Seiten durch eigene Erfahrungen und kulturelles Wissen verstehen können. Das ist dann auch der Moment, der das Deutsche Auswandererhaus und den Feiertag verbindet. Ein wichtiger Moment für beide.
Großartige, ganz normale Geschichtenerzähler*innen
Das liegt nicht zuletzt daran, dass das Museum im Wesentlichen die Geschichten „ganz normaler Leute“ sammelt. Immerhin ist Migrationsgeschichte ganz wesentlich auch die Geschichte der vielen Menschen, die aus- und einwandern. Und das sind Menschen, die nicht selten viele materielle Familienspuren in einem anderen Land zurücklassen mussten, weil man auf der Flucht nicht so viel mitnehmen konnte. Oder deren Familie schon lange in einfachen Verhältnissen lebte und einfach andere Prioritäten haben musste als aufwändige Familienchroniken, die man als Nachfahre mit ins Ausland nahm. Was sicher mitkam sind ihre Erinnerungen, familiären Anekdoten und Berichte, die Generationen verbinden. Diese Menschen haben zwar ganz unterschiedliche Berufe gelernt und ausgeübt, die meisten haben aber wenig mit dem kreativen Schreiben zu tun. So sehen sich nur selten als Schriftsteller*innen, die ihre Biographie aufschreiben können. Aber sie trauen sich zu, zu erzählen.
Die Forschungsmethode, in der das Interview, der persönliche, mündliche Bericht, im Mittelpunkt steht, nennt sich „Oral History“. Dabei werden die Gespräche und Erzählungen zwischen erzählenden Menschen und zuhörenden, fragenden Forscher*innen idealerweise auch in Tonaufnahmen oder im Film festgehalten, um alle Details lange zu bewahren. Und um die besondere, persönliche Art des Erzählens festzuhalten, die auch viel verrät, was den Erzählenden wichtig ist, was sie bei bestimmten Themen empfinden und was sie nicht so gerne besprechen. Etwas, das in der schriftlichen Form oft viel zu kurz kommt. „Oral History“ hat damit eine besondere Tiefe und Detailreichtum für konkrete Momente, die sonst kaum Geschichtsschreibung leisten kann. Dabei brauch sie lediglich eine*n Erzähler*in und eine*n aufmerksame*n Zuhörer*in (und ein gutes Diktiergerät).
Manches kann man nur selber sagen
Ein paar Ausschnitte dieser vielen gesammelten Interviews kann ich sogar im Museum selbst hören. Insbesondere im „Saal der Debatten“, wo ich vier große Debatten um Migration aus der Geschichte der Bunderepublik kennen lerne. Und kaum etwas gibt mir so gut eine Vorstellung, wie es sein muss Zeug*in der Ereignisse zu werden. Beispielsweise das Interview mit einer ehemaligen sogenannten „Gastarbeiterin“, die in den 1970ern als junge Frau zusammen mit anderen für fairere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen für die migrantischen Arbeitskräfte gestreikt hat. Sie ist mittlerweile eine gestandene Dame, aber wenn sie erzählt wie sie den Rest ihres Lebens ab und an Angst hatte, des Landes verwiesen zu werden, dann erst ahne ich, wieviel Mut es gekostet haben muss, für seine Rechte einzustehen.
Oder der ältere Herr, der auch mit einem Arbeitsvertrag nach Deutschland kam, hier seine Frau kennen lernte und von der Irritation und dem mangelnden Vertrauen in seine ehrlichen Absichten durch ihre Familie berichtet. Er lacht, gerade über letztere Zweifel an ihm. Ich denke nur, wie anstrengend manche Momente gewesen sein müssen. Wie froh ich wäre, davon in Vergangenheitsform sprechen zu können.
Meist äußern sich die Menschen in den Interviews im „Saal der Debatten“ zu Sachthemen wie der Asyldebatte der 1980er und 1990er oder ihren Erfahrungen mit der oft auch persönlich komplizierten Fragestellung zur doppelten Staatsbürgerschaft. Und sagen manchmal Überraschendes, das mich die „reguläre“ Geschichtsschreibung und die „üblichen“ Argumente zu politischen Fragen gar nicht hätten ahnen lassen. Weil sie eben Expert*innen sind – für sich selbst ebenso wie für die Frage, wie die Debatte sie berührt hat.
Zuhören ist ein aktives Verb
Ich kann hier im Museum zudem im gesamten Rundgang und fast jedem Raum mehr über die Auswanderung aus Bremerhaven, die historischen und politischen Hintergründe der Einwanderung in der Bundrepublik oder andere spannende Fakten mit den Ohren erfahren – und ich kann sowohl im Auswanderungs- wie auch im Einwanderungsteil der Ausstellung neue Kapitel der Lebensgeschichte von Migrant*innen aufschlagen. Bekannte Schauspieler*innen, vertraute Stimmen, lesen sie mir vor, was den Lebensgeschichten noch mehr Tiefe beim Zuhören gibt.
Man könnte jetzt meinen, dass andere erzählen lassen eine überaus passive Sache ist. Aber nein, überhaupt nicht. Die Geschichten berühren mich, ich höre bewusst zu, lasse mich auf den anderen Menschen ein, schaffe Raum in mir für seine Geschichte. Ganz unrecht hat Ulf Ärnström schon in der Hinsicht nicht. Ich muss den Menschen, denen ich wirklich zuhöre, auch wirklich entgegenkommen. In ihrer Sprache, ihren Empfindungen. Genauso wie sie sich im Erzählen öffnen. Selbst wenn sie die Geschichte etwas drehen, um sie zu pointieren. Um den lustigen Satz von ihrem Lieblingsonkel an das Ende der Geschichte zu setzten oder die Minusgrade im Bericht übertreiben, um sicher zu sein, dass ich weiß, wie sie gefroren haben.
Sie kommen mir entgegen, gestalten und inszenieren Ideen und Empfindungen, damit ich besser verstehe. Manchmal sagen sie einfach, was ihnen einfällt. Sie versuchen dabei immer eine Sprache zu sprechen, die sie gleichzeitig ausdrückt und die ich auch deuten kann. Miteinander sprechen und sich zuhören ist auf seine Art, wenn es denn gelingt, immer ein diplomatischer Akt. Auf seine Art erzählt so auch die ganze Inszenierung in den Museumsräumen von der Migration. Nur eben nicht individuell, sondern über-individuell.
Geschichten weitertragen
In Ärnströms Idee kann und soll jede*r zum*zur Erzähler*in werden. Naja, dem Museum etwas zu erzählen, scheint trotz der Abstimmungsmöglichkeiten in den Critical Thinking Stations erst einmal eine Herausforderung – zumindest in meiner ganz persönlichen Sprache. Auch weil ich keine Migrationsgeschichte habe, die ich den Forschenden mitteilen kann (dafür hat das Museum im Ausstellungsraum „Forum Migration“ im digitalen Biographien-Portal sogar eine eigene Kontaktseite). Aber ich kann etwas anderes tun, außer ihm bewusst zu lauschen. Ich kann die Geschichten und Gedanken, die ich hier gefunden habe, als Geschichten mit hinaus in die Welt nehmen, berichten, wie sie mich berührt haben und so in einer eigenen Erzählung über eine wahre Geschichte mir und anderen begegnen. In einer neuen Erzählung über die Welt, in der ich lebe. Eine ganz persönliche Geschichte in meiner Sprache, gefunden und entdeckt in den Geschichten der Menschen in diesem Museum. Und wer mir dann bewusst zuhört, dessen Welt berührt auch diese. Neu, anders und menschlich. Vielleicht gibt es ja doch mehr Hoffnung für Ärnströms Idee als ich dachte.
Von Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus
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