Gezeiten – Die Faszination von Ebbe und Flut
Ein Kunsttransport
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Gezeiten – Die Faszination von Ebbe und Flut

Im gleichbleibenden Takt schlagen die Wellen ans Ufer. Woher weiß ich, ob wir Ebbe oder Flut haben? Und wie funktionieren eigentlich Gezeiten

Frau mit schulterlangem Haar und geblühmten Oberteil lächelt in die Kamera
23. Nov. 2020
6 min Lesezeit
Der Gezeitenrechner von 1915 in der Detailaufnahme.

Es ist Sonntag. Um nochmal ein wenig frische Luft zu schnappen, habe ich mich dazu entschiedenen, einen kleinen Ausflug an den Deich zu machen. Nur fünf Gehminuten entfernt erwartet mich jedes Mal ein kleines Abenteuer. Ich liebe es, wenn meine Schritte sich kurz vor dem Deich verlangsamen. In freudiger Erwartung stapfe ich dann die Treppenstufen hoch und bin jedes Mal aufs Neue überrascht. Ist Ebbe? Ist Flut? Was sind eigentlich Gezeiten?

Bevor ich meine Runde drehe, bleibe ich immer einen Moment stehen, blicke auf die Weser und verfolge mit meinen Augen die Wellen. Im gleichbleibenden Takt schlagen sie immer wieder ans Ufer. Wasser ist da, zumindest ein wenig. Ob wir nun Ebbe oder Flut haben, weiß ich jedoch noch immer nicht.

Autorin Mareike Heger an der Nordsee, im Hintergrund Ebbe.
Ob Ebbe oder Flut: Am glücklichsten bin ich bei Wind am Meer. Hier an der Nordsee nördlich von Bremerhaven. © Mareike Heger

Der Blick aufs Wasser

Mit großen Schritten nehme ich die Treppenstufen am Lohmanndeich und nähere mich dem Wasser. Ich biege nach rechts ab und laufe Richtung Hafen. Am Steg bleibe ich noch einmal stehen und beobachte das Geschehen im kühlen Nass: Möwen landen immer wieder gekonnt auf der Wasseroberfläche, das Watt schlägt kleine Bläschen und die Schlepper wiegen sich sanft in den Wellen. Ich beobachte das Ufer ganz genau. War nicht eben noch mehr Wasser da? Am Ufer liegt ein großer Ast und wird immer wieder überschwemmt. Ich merke mir diesen Punkt und drehe meine Runde.

Auf dem Rückweg schaue ich erneut nach dem Ast. Mittlerweile liegt er im Trockenen und ich kann mir sicher sein: Es ist Ebbe. Doch was bedeutet das und wie entstehen eigentlich die sogenannten Gezeiten? In der Schule habe ich bereits gelernt, dass sich Ebbe und Flut aus der Erdanziehung und der Mondanziehung ergeben. Bei einem Ausflug nach Otterndorf sind wir durch das Watt gewandert und konnten schon damals die Faszination der Nordsee spüren.

Was sind eigentlich Gezeiten?

Gezeiten werden auch Tiden genannt. Während bei Ebbe das Wasser abläuft und das Watt mehr und mehr zu sehen ist, bezeichnet man Flut auch als auflaufendes Wasser. Dieser Tidenhub dauert circa 12 Stunden, denn sowohl Ebbe als auch Flut dauern jeweils etwa sechs Stunden. Den Punkt, an dem der Wasserstand am niedrigsten ist, bezeichnet man als Niedrigwasser, während umgekehrt der höchste Stand, bevor das Wasser wieder abläuft, Hochwasser genannt wird. Wann diese Zeitpunkte sind, entscheidet sich je nach Stellung des Mondes zur Erde und der Erdrotation. Wie hoch das Wasser dabei steigt beziehungsweise fällt, ist jedes Mal anders. In Bremerhaven sind es beispielsweise immer um die zweieinhalb bis vier Meter.

Die Weser am Lohmanndeich bei Ebbe im Sonnenuntergang.
Die Weser bei Sonnenuntergang bei Ebbe. Eine meiner liebsten Aussichten. © Mareike Heger

Doch woher weiß ich denn nun, wann Ebbe und wann Flut ist, wenn ich beispielsweise eine Wattwanderung machen möchte oder als Fotomotiv das Meer oder die Weser sehen möchte? Mittlerweile werden die Gezeiten durch Computer berechnet und sind online abrufbar. Tidenkalender gibt es in vielen Feriengebieten auch noch immer gedruckt in der Touristinfo. Die Angaben basieren auf verschiedensten Messwerten und Berechnungen. Heutzutage läuft diese Berechnung wie automatisch und so kann jede*r jederzeit schauen, wann Hochwasser und wann Niedrigwasser ist.

Gezeiten berechnen – damals und heute

Noch zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts war es sehr viel schwieriger, vorherzusagen, wann Hoch- und Niedrigwasser an einem bestimmten Ort ankamen. Computer, wie wir sie heute kennen, gab es damals noch nicht. Dabei war es schon damals sowohl für die Fischerei und Schifffahrt, als auch besonders für Marinemanöver wichtig zu wissen, wann in Küstennähe genügend Wasser zum Aus- und Einlaufen war. Ward ihr zum Beispiel schon einmal in Wremen? Bei Niedrigwasser liegen die Schiffe fast auf dem Trockenen. So bewegt sich sicherlich keine Schiffsschraube …

Der Gezeitenrechner von 1915 in der Detailaufnahme.
Der Gezeitenrechner von 1915 in der Detailaufnahme. © DSM / Annica Müllenberg

Die Berechnung der Gezeiten haben früher Gezeitenrechenmaschinen übernommen. Zwei dieser Maschinen stehen bei uns im Deutschen Schifffahrtsmuseum im Erweiterungsbau in der aktuellen Sonderausstellung SEA CHANGES. Direkt neben dem Gezeitenrechner aus DDR-Zeiten, der an der Fensterseite seinen Platz hat, konnte in den vergangenen anderthalb Jahren beobachtet werden, wie einer der ältesten analogen deutschen Computer restauriert wird: Der Gezeitenrechner von 1915 ist ein wahres Schmuckstück. Dutzende Rädchen greifen ineinander und haben schon im frühen 20. Jahrhundert die Gezeiten vorausgesagt. Während die Technik sich immer weiter verbesserte, gab es irgendwann keinen Einsatz mehr für die Maschine. Zunächst war der Rechner in Wilhelmshaven in Betrieb, machte anschließend Halt in Greifswald und Hamburg, bevor ihn unser Museum im Eröffnungsjahr 1975 übernahm. Funktionstüchtig war er zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Die Mechanik im Inneren war verharzt und die Rädchen ließen sich nicht mehr drehen.

Restaurator Tim Lücke vor dem Gezeitenrechner zu Beginn der Restaurierung.
Restaurator Tim Lücke vor dem Gezeitenrechner zu Beginn der Restaurierung 2019. © DSM / Lea Heißenbüttel

Von Zahnrädern und Schrauben

Um den alten Gezeitenrechner wieder in Bewegung zu setzen, waren 18 Monate Arbeit nötig. Finanziert von der Kulturstiftung der Länder, vom Deutschen Stiftungszentrum, unserem Förderverein und von privaten Spendern, wurde die Maschine aufwendig restauriert. Immer wieder war Restaurator Tim Lücke vor Ort und hat live Schrauben gedreht, Rädchen gesäubert und Metalle poliert. Nun sind die Arbeiten abgeschlossen und das gute Stück dreht sich wieder – das erste Mal, seit er dem Museum gehört.

Der restaurierte Gezeitenrechner.

Auf den ersten Blick ist es schwierig, sich zu erschließen, auf welche Weise die Gezeiten mithilfe des komplizierten Räderwerks vor mehr als 100 Jahren berechnet worden sind. Wir wissen zwar, wie der Rechner mechanisch funktioniert, eine Bedienungsanleitung gibt es jedoch nicht. Sich zu erschließen, welche Idee dahinterstand, ist also entsprechend schwierig. Wichtig ist jedoch: er ist wieder funktionsfähig. Sogar das Druckwerk ist wieder instand und erstellt eine Kurve, die auf eine große Rolle gedruckt wird und die Tiden abbilden soll. Damit die Gezeitenrechenmaschine auch weiterhin funktionsfähig bleibt und vorgeführt werden kann, muss sie einmal im Monat bewegt werden. Dies passiert aktuell noch recht aufwendig durch unsere Restauratorin, die die Rädchen von Hand betreibt. In Zukunft soll dies mit einer Kurbel vereinfacht werden.

Faszination Naturgewalt

Die Gezeiten bestimmten schon seit jeher das Leben der Menschen an der Küste. Dem Rhythmus von Ebbe und Flut passte sich das Leben an. Sicherlich haben wir im Laufe der Jahre dazugelernt und die digitale Berechnung ist heutzutage viel genauer. Doch zu sehen, mit welch ausgeklügelter Raffinesse sich schon früher mit den Naturgewalten auseinandergesetzt wurde, finde ich unfassbar faszinierend. Vorerst könnt ihr euch den Gezeitenrechner nur digital in unserem Video anschauen, doch wir freuen uns schon jetzt darauf, euch bald wieder in der Ausstellung begrüßen und euch das Wunderwerk der Technik einmal im Monat live und in Rahmen von Führungen vorstellen zu dürfen. Denn mit den Gezeiten ist es wie mit der aktuellen Situation. Gute Zeiten kommen und gehen und es ist heute wie damals: Die Natur gibt vor, der Mensch passt sich an. Machen wir das Beste draus.

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