Das Deutsche Auswandererhaus Bremerhaven hat zwar im vergangenen Sommer einen besonders großen Wachstumsschub gemacht, aber auch die kleinen Wandlungen sind immer wieder eine Entdeckung wert, wie etwa neue Momente in der aktuellen Dauerausstellung. Einer der der neuen, kleineren Impulse hat einen besonderen Platz in meinem Herzen, direkt neben der Erinnerung an den Duft frischen Popcorns. Er ist eng verbunden mit einem der faszinierenden, dem historischen Original getreu nach-inszenierten Museumsräume: das „Roxy“-Kino. Hier kann ich Kurzfilme, die das Migrationsmuseum selbst produziert hat, sehen und mich von bewahrten Momenten, anderen Orten und verlorenen Zeitpunkten amüsieren, rühren oder faszinieren lassen.
Das Kino – ein magischer Ort
Dabei ist das „Roxy“ schon eine historische Momentaufnahme für sich: Die roten Vorhänge, der Samt, die gedimmten Sternlampen… In meiner Heimatstadt gab es ein altes Kino, das die Besitzer*innen mit viel Liebe aufrechterhielten, aber schon lange nicht mehr umdekoriert hatten. Das „Roxy“ sieht aus, wie dieses Kino vor vielen Jahren einmal strahlte. Donnerstags liefen dort, für einen Eintritt, der erklärte, warum neue Sitze nicht im Budget waren, viele der alten Klassiker. Eine andere Welt, in die man eintauchen konnte. Eine andere Zeit…
Das Kino brachte schon lange vor meinem ersten Besuch Nie-Reisende in ferne Länder, Fabrikarbeitende in Galasäle und Ängstliche in die abenteuerlichsten Situationen. Es weckte Träume und Sehnsüchte nach Orten, Begegnungen – und es informierte ganz realistisch über Ereignisse am anderen Ende des Globus: eine gemeinsame, verbindende Weltreise für alle mit einem Ticket, das zeitweise weniger kostete als eine Tafel Schokolade. Für manche Zuschauer*in begann im Kino sogar der Weg in ein reales, neues Leben – durch neue Ideen und Hoffnungen ebenso wie durch die Bilder eines herannahenden Krieges.
Weit über die Grenzen der Leinwand hinweg
Aber auch viele, die vor oder hinter der Kamera diese neuen, fremden Welten für Millionen zum Leben erweckten, bewegte das Kino durch die reale Welt. Nicht selten verband sie die prägende Erfahrung der Migration, der hoffnungsvollen Auswanderung oder der verzweifelten Flucht. Und nicht selten beeinflussten diese Erfahrungen ihre filmische Arbeit. Ihnen ist vor dem „Roxy“ ab dem 07. Februar 2022 auch die Ausstellungswand gewidmet, auf die ich mich bereits jetzt freue und die mich an wunderbare und bemerkenswerte Filme und Hollywoodgeschichten erinnert, die mir vergessene Stars und dramatische Geschichten vorstellt. Alle verbunden mit dem „Goldenen Zeitalter“ des Kinos, auch jenseits von „Hollywood“.
Zwischen Laupheim, Chicago und Los Angeles
Auch wenn „Hollywood“ klar eine Chiffre für die Filmindustrie geworden ist. „Schuld daran“ ist unter anderem ein fleißiger Kaufmann aus dem oberschwäbischen Laupheim: Carl Lämmle, aufgewachsen in einer armen, vielköpfigen jüdischen Familie. 1884, mit 17, kaufte er mit geborgtem Geld ein Ticket von Bremerhaven nach New York. Hier, vor der Tür des Museums, ging er an Bord.
Sein Bruder besorgt ihm in Chicago einen Laufburschen-Job bei der Zeitung und Carl arbeitet sich über viele Ecken hoch, bis er sich 1906 zu einem gewagten Schritt entschließt: er kauft ein Kino. Bald besitzt er die Hälfte der Filmtheater der Stadt und gründet 1912 zudem eine Produktions- und Verleihfirma. Für den idealen Drehort mit viel Licht, gutem Klima, vielfältigen Landschaften und Platz für eine Studiohalle zieht Carl mit der Firma nach Los Angeles, Kalifornien. Die „Universal Studios“ werden Geburtsort unzähliger Filmklassiker. Doch auch auf der anderen Seite der Welt lebend, bleibt der Studioboss seiner Heimatstadt und Europa verbunden. So sehr, dass er nach der Machtergreifung 1933 über 300 Jüd*innen als Bürge die Einreise in die USA ermöglicht. Sein Tod im September 1939 setzt der Fluchthilfe ein tragisches Ende.
Ernsthafte Karrierechancen für Weltenbauer*innen
Der Ort, den er seit den 1910ern mitgeschaffen hat, zieht bis heute unzählige Film-Talente aus aller Welt an. 1922 etwa emigriert Berlins Ernst Lubitsch nach einigen honorablen Regieerfolgen mit Stummfilmkomödien an die Westcoast. Eine filmgeschichts-trächtige Entscheidung: Das Multitalent schafft in der US-Tonfilmproduktion sein eigenes Komödiengenre mit tragisch-komischen Klassikern wie „Ninotschka“ (1939) mit der Schwedin Greta Garbo als sowjetische Agentin, oder „Sein oder Nichtsein“ (1942), in dem eine polnische Schauspieltruppe die NS-Besatzer*innen überlistet.
Aber nicht alle migrieren „für“ Hollywood. Regiekollege Josef von Sternberg kam schon als kleiner Junge namens Jonas Sternberg mit den Eltern von Krakau nach New York. Er arbeitet sich in Hollywood vom Regieassistenten hoch und wird ein Meister düster-komplexer und magisch-künstlicher Momente. Seine Filme erzählen vom Verlorengehen in einer über-vollen Welt. 1929 ging er, angeworben durch UFA-Produzent Erich Pommer, für einige Projekte nach Deutschland: Seine Verfilmung von Heinrich Manns „Professor Unrat“ mit dem Titel „Der blaue Engel“ wurde zum großen Aufstieg einer jungen Schauspielerin mit einnehmender, glamouröser Aura.
Ein blauer Engel fährt übers Meer
Marlene Dietrich folgt 1930 auf einem Schiff – von Bremerhavens Columbuskaje aus – von Sternberg in die USA. Die beiden werden noch einige Projekte miteinander drehen, doch auch sonst ist sie in kürzester Zeit in ganz Hollywood gefragt und arbeitet mit Regisseuren wie dem in Galizien geborenen Samuel „Billy“ Wilder. Der floh erst 1916 als Kind aus Krakau, 1933 aus Berlin nach Paris. Oder dem Briten Alfred Hitchcock. Dessen letzter Film in England wurde von – ja, eben genannten – Erich Pommer produziert.
Pommer verließ Deutschland, nachdem er aufgrund seiner jüdischen Abstammung 1933 seine führende Position bei UFA (die im Übrigen länger „Universum-Film Aktiengesellschaft“ hieß) verlor – und kehrte erst 1946 als oberster Filmoffizier der amerikanischen Militärregierung zurück. Dabei war es auch sein Talent, Talente zu entdecken und zu fördern, das aus der Filmindustrie der Weimarer Republik einige Zeit eine der einflussreichsten der Welt machte.
Stille Schönheit in einem Berliner Vorort
Seit 1917 zogen die Babelsberger Studios Stummfilm-Superstars an: Pola Negri (geboren im polnischen Teil des Russischen Kaiserreiches), Lya de Putti, Ungarin mit italienischen Wurzeln, die mit nur 34 Jahren in New York starb, und Iwan Mosschuchin, der 1919 das revolutionsgeschüttelte Russland verließ, entschieden sich für einige Zeit für den Berliner Stadtrand. Mosschuchins Bild an der Ausstellungswand ist dramatisch: Seine Verkörperung des Pater Sergiu und sein „Casanova“, eine russische Exilproduktion von 1927, machten ihn berühmt. Doch der Tonfilm und sein starker Akzent vertragen sich nicht, seine Karriere leidet unter der technischen Innovation.
Unpolitische Lieder in deutschen Tankstellen
Keine Sorge für die deutsch-britische Lilian Harvey, Geburtsname Pape, die in „Die Drei von der Tankstelle“, auch eine UFA-Produktion, zum Star wurde. Den englischen Akzent aus der frühen Schulzeit hört man kaum, ihr Deutsch klingt beinah überkorrekt und das deutsche Publikum liebt die zierliche Frau, die vor mir im knappen gold-blauen Kostüm auf der Wandtafel schwebt. Andere Stars, wie Regisseur Fritz Lang, lehnen Angebote seitens des Propagandaministeriums strikt ab. Viele, wie der ungarisch-jüdische Charakterdarsteller Peter Lorre oder der Filmkomponist und Kommunist Hans Eisler müssen nach Frankreich, England oder eben in die USA fliehen. Lilian Harvey dreht – nach kurzer Zeit in Paris – auch zwischen 1935 und 1939 in Deutschland. Als sie von der Gestapo überwacht wird, verlässt aber auch sie das Land, das ihr 1943 die Staatbürgerschaft aberkennt.
Und die blondgelockte Marika Röck, die zwischen Kairo, Budapest und Paris erwachsen wurde, bleibt auch nach 1939 in Deutschland – und avanciert mit Filmen wie „Wunschkonzert“ nun zu einer der populärsten Schauspielerinnen bis weit über das Ende des Nationalsozialismus und den Heimatfilm der 1950er Jahre hinaus. Ihren letzten Auftritt hat sie erst 1996 bei „Volksmusik mit Carmen Nebel“.
Ins Dunkel der Kinoleinwand gestoßen
Dagegen schien die Geschichte anderer vor dem „Roxy“ Porträtierter für lange Zeit fast vergessen: Bayume Mohamed Husen etwa. Geboren in Deutsch-Ostafrika (heute Tansania), kämpft er als Junge für das Deutsche Reich und kommt in den 1920ern nach Deutschland. Die militärische Ehrung wird dem neokolonialen Askari aufgrund seiner Hautfarbe verwehrt, aber nach einigen Jahren als Sprachlehrer für Swahili an der Berliner Universität bekommt er zwischen 1934 und 1941 diverse Filmrollen und berät Dreharbeiten mit seinen Fremdsprachenkenntnissen. Nach einer Beziehung zu einer deutschen Frau wird er jedoch wegen „Rassenschande“ ins KZ Sachsenhausen gebracht, wo er kurz vor Kriegsende stirbt. Seine Rollen waren jeher von Rassismus geprägt.
Ebenso wie die seines berühmterer, erfolgreicherer Schauspiel-Kollegen Louise Brody aus Kamerun, mit dem er in „Die Reiter von Deutsch-Ostafrika“ auftritt. Brody, der schon in Stummfilmen von Fitz Lang auftrat, äußerte sich jedoch öffentlich – etwa im Rahmen des Afrikanischen Hilfsvereins – gegen die Diskriminierung. Seine große Popularität schützt den Jazzmusiker und Artisten vor Schlimmeren. Und bindet ihn an Filmprojekte von denen viele Propaganda gegen seine eigenen Überzeugungen darstellt. Bis zu seinem Tod 1951 wird er erst bei UFA, dann nach dem Krieg bei den DEFA Studios arbeiten, die 1945 im Ostberliner Babelsberg gegründet werden.
Unversöhnte Blicke zurück über den Atlantik
In den USA tat es Marlene Dietrich, der emigrierte Star aus Berlin, einige Zeit zuvor nach Möglichkeiten Carl Lämmle gleich: Sie hilft Menschen aus Deutschland zu fliehen. Seit Ausbruch des Krieges nutzt sie auch ihr Talent und ihre Popularität direkt: mit Liveauftritten für die Truppen der Alliierten. In Deutschland wird sie nie wieder leben wollen.
Ihre aus Österreich stammende Schauspielkollegin Hedwig Eva Maria Kiesler, bekannt als Hedy Lamarr, die lange nur das „hübsches Beiwerk“ spielte, nutzt im Kampf gegen die Nationalsozialist*innen sogar ihre naturwissenschaftliches Begabung: sie entwickelte einen Funksteuerung für US-Torpedos, die viele Jahre später noch als Grundlage für Mobiltelefone genutzt wurde.
Aber nicht mehr ganz wie die Mobiltelefone, auf denen wir heute ihre Filme bei langen Fahrten im Zug zwischen den Stationen sehen können. Die funktionieren anders. Nicht nur weil die Filme in klein etwas trauriger wirken, als sie müssten.
Von Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Der neue Teil der Dauerausstellung „Wie Eingewanderte das GOLDENE ZEITALTER des Films prägten“ kann ab dem 07.02.2022 besucht werden.
Das „Roxy“-Kino steht allen Besucher*innen des Deutschen Auswandererhauses während der Öffnungszeiten ohne Aufpreis offen.
Alles Wichtige über das Deutsche Auswandererhaus, seine Ausstellung, Filme, Öffnungszeiten und mehr erfahren Sie unter: www.dah-bremerhaven.de
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