Wie Auswanderungs- zu Einwanderungsgeschichte wird
Einwanderungsgeschichte in einen Staat oder in ein Land zu erzählen ist gar nicht so einfach. Nicht mal für erfahrene Migrations-Museums-Macher*innen wie meine Kolleg*innen im Deutsche Auswandererhaus.
Eigentlich sichtbar …
Das wird mir etwa bewusst, wenn ich über die vielen Interviews mit Einwander*innen im Museum nachdenke: Menschen, die einwandern, wurden lange nicht als Teil des Landes und damit auch nicht als (wichtiger) Teil seiner Geschichte begriffen. Sichtbar wurden sie in der Geschichtsschreibung lange nur als „Großgruppen“ und dann vor allem als „Herausforderung“ oder „Bereicherung“ für die bestehende Gesellschaft, selten für und mit ihrer eigenen Geschichte. So blieben die Einwander*innen nach Deutschland oft die Expert*innen für dieses, ihr, Stück deutscher Geschichte. Und so sind sie wichtige Erzähler*innen in der 2021 neu eröffnet Dauerausstellung im Deutschen Auswandererhaus über die Einwanderung nach Deutschland. Und sie sollen in den kommenden Jahren noch wichtiger werden – auch bei der Frage wie Ausstellungen aussehen sollen.
… und naheliegend manchmal weit weg
Mit einer solchen Herausforderung der Einwanderungsgeschichte beschäftigt sich auch grade das Projekt „Deine Geschichte“: Die Reiselinien der einzelnen Menschen, deren Geschichten im Mittelpunkt stehen, beginnen eben nicht an der Grenze der heutigen Bundesrepublik. Und sie hinterließen jenseits dieser Grenze Spuren, die man bei ihren dort gebliebenen Familien, Freund*innen und in den Orten, von denen ihre Reise begann, noch finden kann – manchmal über Generationen. Man könnte also behaupten, dass ein Stück deutscher Migrationsgeschichte notwendig an ganz anderen Orten der Welt zu finden ist. Und nach genau solchen Spuren und den vielen Fragen, die daran hängen, forschen meine Kolleg*innen im Projekt grade.
Mir diese Zusammenhänge konkret vorzustellen, ist erstmal ein Angang, aber es gibt ja zum Glück noch einen Teil des Museums, der von Auswanderung aus Europa in Staaten wie die USA erzählt. Hier bekomme ich eine bessere Idee, worum es geht, denn jede dieser Auswanderungsgeschichten ist ja naheliegenderweise auch eine Einwanderungsgeschichte.
Also, so denke ich mir, ist es vielleicht auch US-amerikanische Einwanderungsgeschichte, die wir dann erzählen?
Auf der Durchreise
Doch schon im ersten Ausstellungsraum, der rekonstruierten Kaje von Bremerhaven von der es über 3200 Seemeilen über den Atlantik bis zur Mündung des Hudsons sind, komme ich ins Grübeln. Kein Zeichen von USA weit und breit, außer vielleicht auf den Tickets der Reisenden.
Ist es also doch vor allem europäische oder deutsche Auswanderungsgeschichte, um die es geht?
Für viele Menschen war diese Kaje eine wichtige Station auf ihrer Reise in die USA. Die Erfahrungen, die sie hier machten, nahmen sie mit sich. Aber sie sammelten nicht nur Spuren in ihrer Erinnerung, sie hinterließen sie auch in der Welt: Für die Auswandernden entstanden damals große Unterkünfte in der Stadt an der Weser, die ursprünglichen „Auswandererhäuser“, denen das Museum seinen Namen verdankt.
Es ist also beides: Ein Stück US-Einwanderungsgeschichte, das eine Hafenstadt in Norddeutschland mitprägte und ein Stück norddeutsche Geschichte einer so wichtigen biographischen Station, dass manche Nachfahr*innen der damaligen Neu-Amerikaner:innen diesen Ort auf der Suche nach ihrer Familiengeschichte einplanen.
Also Reiserouten sind offenbar Spuren, denke ich, und erinnere mich an einen Artikel, den ich vor einigen Jahren gelesen haben: Zum 50. Jahrestag des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens fuhren 34 ehemalige sogenannte „Gastarbeiter“ mit der Bahn von Istanbul nach München, die Route, die sie Jahrzehnte zuvor das erste Mal in die Bundesrepublik brachte. Und ja, selbst, wenn es die Bahnschienen zuvor schon gab, diese über die Jahre große Gruppe an Reisenden auf dem Weg nach Deutschland (und zweitweilig zu Besuch oder irgendwann für immer zurück) wird Stationen, Fahrtfrequenzen und vieles mehr beeinflusst haben.
Das alte Zuhause
Was die Menschen an der Bremerhavener Kaje, deren Namen ich zum Teil in der „Galerie der Millionen“ finde, an ihren alten Wohnorten hinterließen, ist dabei sehr unterschiedlich.
Für manche galt: Das Ticket war teuer und das Geld für den Neuanfang bitter nötig. Hatten sie beispielsweise einen kleinen, unergiebigen Hof oder etwas Land für die Selbstversorgung und war die Abfahrt länger geplant , wurde der Grund an reichere Bauern verkauft, die dank technischem Fortschritt diese nun großen landwirtschaftlichen Einheiten ohne die bisherige Menge zusätzlichen Arbeitskräfte betrieben und so zu relevanten Versorger*innen in ihrer Region wurden und sich zugleich die Lebens- und Verdienstmöglichkeiten auf dem Land zunehmend veränderten.
Andere mussten etwa vor dem Nationalsozialismus fliehen und hatten durch diskriminierende Gesetze, Zollregulierungen und/oder heimliche Flucht kaum Möglichkeit aus ihrem Besitz noch Reserven zu schöpfen oder Liebgewonnenes mitzunehmen. Ihr Besitz war für sie oft entschädigungslos verloren und in den Händen, Haushalten und Museen derer, die sie verfolgt und vertrieben hatten oder untätig dabei zusahen. Scheinbar erst einmal Kapitel europäische Geschichte, die von Migrationsgründen und Lebensgeschichten erzählen, die ich hier in der Ausstellung kennen lerne. Es sind aber auch zwei Gruppen, die die Geschichte der USA verändert haben. Altes Zuhause und neue Wohnung erzählen gleichermaßen davon.
Aber was wurde etwa aus den Wohnhäusern, die Menschen, die unter ganz unterschiedlichen Bedingungen nach Deutschland kamen, zurückließen? Gibt es diese Orte und Gebäude noch? Wer lebt heute in Ihnen? Wissen diese Menschen von der Geschichte der Orte, der Möbel und Haushaltswaren? Spannende, bewegende Fragen, über die ich hoffentlich bald noch mehr im Deutschen Auswandererhaus lernen kann, wenn meine Kolleg*innen fleißig weiter gesammelt haben.
Ah, Sie kommen aus Frankfurt?
Für manche hatte die Migration sogar „namenhafte“ Spuren, die über ihre Rückkehr nach Deutschland hinausgingen: der Philosoph, Soziologe und Komponist Theodor Ludwig Wiesengrund, der neben anderen Exilautor:innen im Museum porträtiert wird, ergänzte eigentlich aus ganz persönlichen Gründen Teile des italienischen Nachnamens seiner Mutter auf dem Umschlag seiner Publikationen. Doch als er vor den Nationalsozialist*innen in die USA fliehen musste, markierte ihn sein Geburtsname zum einen als jüdisch, zum anderen als deutsch. Beides machte das Leben damals – auch in den USA – auf unterschiedliche Art und Weise anstrengender. Als er, eingebürgert in die USA, 1949 nach Deutschland zurückkehrte, um an der Universität in Frankfurt zu lehren, stand in seinem Pass „Theodor W. Adorno“.
Die Fehlenden
Wer sein*ihr altes Zuhause verlässt, der*die lässt nicht selten einen großen Teil seiner*ihrer Familie, Freund*innen, Gemeinden oder auch Vereine zurück. Viele, wie der Schneider Paul Lemke, holen einzelne Menschen nach. (In Pauls Fall seine große Liebe Agnes) Damals war es für die beiden eine Reise von vielen Wochen von Deutschland nach Honolulu, viel zu weit weg für ein „einfach mal auf Besuch vorbeischauen“.
Im 19. Jahrhundert zog durch Briefe und Empfehlungen so viele Menschen in der Hoffnung auf Arbeit und Land gen Nordamerika – und das nicht nur aus dem selben Ort, sondern auch wieder in den selben Ort – das eine Karte im Museum viele vertraute Stadtnamen wie Frankfurt, Bremen oder Hannover auf dem nordamerikanischen Kontinent zeigt (denn was liegt näher, als unsere neue Stadt „Bremen“ zu nennen, wenn alle unsere Nachbar*innen schon Bremer*innen sind?).
Aber was geschah eigentlich mit den kleinen Dörfern in Europa aus denen so viele Menschen wegzogen? Viele verloren mit den jungen Leuten, die auswanderten, einen wichtigen Teil ihres Charakters, bestimmter Läden und Insitutionen. Nicht alle dies Orte existieren heute noch.
Und gewiss gibt es diese Phänomene auch in anderen Ländern? Fotos, auf denen die Schulklassen durch nachgeholte Familien von Jahr zu Jahr kleiner werden? Oder familiäre Bindungen über die Ortsgrenze wie die der Bewohner*innen der Insel Föhr? Diese zogen zeitweilig in so großer Zahl nach New York , sodass auf der Insel vermutlich zeitweilig mehr Menschen Verwandte in den USA als im wenige Stunden entfernten Hamburg hatten. Gibt es das in Städtchen in Italien oder Griechenland vielleicht auch? Das können mir vermutlich diejenigen Erzählen, die noch Familie oder Freund*innen in einem solchen Ort haben.
Zur Unterstützung
Es gibt auch Spuren wie etwa eine Vereinsflagge der „Amt Hagen Society“, die beide Seiten des Atlantiks sehr unmittelbar verbinden und auch viel mit eben benannten kleinen Städtchen zu tun haben. Gegründet in New York City, wurde die Society geschaffen, um die Zurückgelassenen nach einem großen Brand zu unterstützen. Die Flagge entstand viele Jahre später in dem traditionsreichen Verein am Hudson, doch das Geld ermöglichte schnell Reparaturen weit entfernt in Norddeutschland.
Finanzielle Unterstützung für die Lieben war und ist ein ganz typisches, normales Phänomen, fällt mir auf. Jetzt bin ich etwas neugierig: Was haben sich Angehörigen von dem Geld der Verwandten aus Deutschland Dringendes, Hilfreiches oder Schönes gekauft? Haben die Sender*innen davon erfahren, es vielleicht sogar selbst irgendwann genutzt?
Post für die Liebsten
Aber wenn alle persönlichen Objekte, die möglich waren, mit über den Atlantik auswanderten, muss ich dann schließen, dass zumindest die ganzen persönlichen Erinnerungsobjekte im Museum alle direkt von Übersee kommen? Ich merke schnell: Nein. Für vieles, das ich finden kann, ist dies der Fall, aber die Verbindungen ins alte Zuhause hat nicht nur eine pragmatische Geldform: Es gingen und gehen Briefe, Fotos und manchmal sogar ein besonderes Geschenk um die Welt. Eine modische Silber-Handtasche finde ich in der Ausstellung, die 1911 vom Bruder in den USA an die kleine Schwester in Bremen ging – als Glückwunsch für die bestandene Ausbildung. Eigentlich kein typisches Exportprodukt der Zeit, doch die Einwanderung des Bruders brachte sie an den Arm der jungen Frau in Norddeutschland.
Von Hier nach Dort und zurück
Und kehrte die Menschen – kurz oder für immer – zurück, brachten sie wiederum vieles mit: Rita Bendler, die mit den Eltern auswanderte und noch hinreißende Fotos aus ihrer Kindheit in Chicago hatte, aber in Deutschland Erwachsen wurde.
Anders herum: Aygül Bağci, geboren in der Türkei, verdiente als junge Frau Geld in Bremerhavener Fischfabriken, kaufte sich aber im Alter vom mühsam Ersparten wieder in der Türkei eine Wohnung. Wichtige Fotos und Erinnerungsstücke kamen natürlich wieder mit ihr.(Die Spuren, die ihre Familiengeschichte in Deutschland hinterlassen hat, sind aber auch vielfältig. Einer ist das Porträt ihrer Mutter Serife, die mit ihr in der fabrik arbeitete, auf der Wand des Deutschen Auswandererhauses.)
Oder auch Martha Hüner. Sie zog als junge Frau in die USA, um Arbeit zu finden. Im hohen Alter kehrt sie als Witwe in ihren Heimatort Wulsdorf zurück, brachte Fotos und Briefe, Erinnerungsobjekte an die Familie, die sie ein Leben lang begleiteten, und viele Geschichten mit. Ihr Grabstein, den ich im Museumsraum „Transit“ entdecke, zeigt die Freiheitstatue. Eine Spur eines Lebens und einer Liebe für New York. Danach beginnt der Teil des Museums, der von der Einwanderung nach Deutschland erzählt. Ich freue mich auf das, was ich dort herausfinden kann, aber ach, dass die Kolleg*innen schon wieder zu vielen weiteren Fragen arbeiten…
Das Deutsche Auswandererhaus sucht nach Geschichten und Objekten, die die Einwanderung nach Deutschland aus einer neuen Perspektive erzählen. Gesammelt werden diese als Beispiele, um die Spuren von Einwanderung nach Deutschland, die sich außerhalb Deutschlands befinden, sichtbar zu machen.
Interessierte melden sich unter dem Stichwort „Deine Geschichte“ telefonisch unter 0471 / 90 22 0 203 oder per Mail an deine.geschichte@dah-bremerhaven.de. Ihre Objekte oder Geschichten werden vom Team des Projekts „Deine Geschichte“ persönlich aufgenommen.
Adresse DAH: Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de, www.dah-bremerhaven.de
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