Als Praktikantin im Deutschen Auswandererhaus Bremerhaven nehme ich nun seit zwei Monaten Tag ein, Tag aus meinen Arbeitsplatz im historischen Seeamt ein. Das hübsche klassizistische Gebäude steht dem Museumseingang direkt gegenüber und beherbergt heute die Pressestelle, die Abteilung Wissenschaft und die Bibliothek zur deutschen Ein- und Auswanderungsgeschichte des Deutschen Auswandererhauses. Aber wie ist eigentlich der historische Hintergrund zum Seeamt?

Ursprung der Seeämter
Über unsere Bibliothek erfahre ich, dass dieser Raum früher als Gerichtssaal diente. Denn Seeämter waren unter anderem für die Verhandlung von Schiffsunfällen zuständig. Als 1875 ein deutsches Passagierdampfschiff in der Themsemündung strandete und 75 Menschen bei diesem Unglück zu Tode kamen, musste der Fall in Großbritannien bearbeitet werden, da es in Deutschland noch keine Möglichkeit dazu gab. In Folge dessen wurde die Notwendigkeit deutscher Seeämter deutlich und so entstand 1898 unter anderem eines in Bremerhaven, dass 1949 dann in dieses Gebäude einzog. Neben dem Gerichtssaal gab es dort drei Arbeitszimmer sowie eine Wohnung für den amtierenden Richter im Obergeschoss.

Der „Einzelfall“ Titanic
Wie vermutlich die meisten von uns, denke ich bei dem Thema Schiffsunglücke sofort an die „Titanic“: das Schiff, das als unsinkbar galt und es doch nicht war. Durch die Popularität, die dieser Fall unter anderem dank des gleichnamigen Films erfährt, scheint es fast, als wäre er die einzige Katastrophe in der Geschichte der Passagierschifffahrt gewesen. Bei einem Rundgang durch das Deutsche Auswandererhaus merke ich schnell, dass das bei der großen Anzahl an Auswander*innen, die im 19. und 20. Jahrhundert den Atlantik überquerten, nicht der Fall sein kann. In den originalgetreu nachgebauten Schiffsräumen der Ausstellung frage ich mich, was ein Schiff zu dieser Zeit in Seenot gebracht hat und wo hier die Unterschiede bei Seglern, Dampfern und den großen Ocean Linern liegen.

Meine Kollegin Dr. Tanja Fittkau, Historikerin am Deutschen Auswandererhaus, erklärt mir, dass Reedereien und Schiffskonstrukteure alles daran setzten, die Überfahrt so sicher wie möglich zu gestalten. Auf eine Komponente hatten sie allerdings kaum Einfluss: die Gewalt der Natur. Vor allem für Segler konnte schlechtes Wetter eine große Gefahr darstellen. Stürme und hohe Wellen hatten die Schiffe aus Holz schnell im Griff und brachten sie häufig in die Manövrierunfähigkeit.
Das Land ist nah und doch so fern
Ein Schicksal, das auch die Dreimastbark „Johanne“ am 6. November 1854 auf ihrer Jungfernfahrt von Bremerhaven nach Baltimore vor Spiekeroog ereilte. Es ist der Morgen des 2. Novembers, als die „Johanne“, unter gesetzten Segeln und mit 216 hoffnungsvollen Auswander*innen an Bord, ihre große Fahrt antritt. Kapitän Oldejans und seine Mannschaft haben von Anfang an mit schlechtem Wetter zu kämpfen. Doch in der Nacht auf den 5. November wird der Sturm immer stärker und das Schiff kann nicht mehr auf Kurs gehalten werden. Die „Johanne“ läuft am 6. November vor Spiekeroog auf eine Sandbank auf und kentert zur Seite.

Bildquelle: ©Sammlung Deutsches Auswandererhaus/Dauerleihgabe Initiativkreis Deutsches Auswandererhaus
Wasser strömt in den Schiffsraum und meterhohe Wellen schlagen über das Deck. Das macht es für die Passagier*innen immer schwerer sich an Bord zu halten. Erst mit dem Abflauen des Sturms und dem Einsetzen der Ebbe können die Bewohner*innen der Insel Spiekeroog zur Hilfe kommen und insgesamt 139 Passagier*innen und Besatzungsmitglieder retten. Mindestens 77 Reisende wurden Opfer der rauen Nordsee. Die Inselbewohner*innen nehmen die Überlebenden auf und versorgen sie – trotz Knappheit an Unterkünften und Nahrung. Am 9. November 1854 findet eine gemeinsame Beisetzung der geborgenen Opfer statt.
Eisen und Stahl, ein Gefühl von Sicherheit
Ich hoffe, dass eine Überfahrt mit dem Dampfer gegen Ende des 19. Jahrhunderts sicherer war als die vorigen Reisen mit dem Segelschiff. Tanja Fittkau erzählt mir, dass diese Hoffnung auch in den Köpfen vieler Auswander*innen verankert war. Allein der Materialwechsel von Holz zu Eisen und Stahl sorgte für ein höheres Sicherheitsgefühl. Außerdem wurde die Überfahrt durch die Dampfmaschine kürzer und planbarer. Allerdings brachte die Reise auf einem Dampfer neue Risiken mit sich. Durch ihre enorme Masse und höhere Geschwindigkeit war das Untergangsrisiko bei einer Kollision mit anderen Schiffen oder im Nebel versteckten Eisbergen deutlich höher.

Die unsichtbare Gefahr
Am 18. Januar 1883 läuft der Dampfer „Cimbria“ mit 402 Passagieren und einer 100-köpfigen Besatzung in Hamburg aus, um sich über den Atlantik nach New York zu begeben. Doch schon in der ersten Nacht, gerade einmal auf der Höhe von Borkum, wurde ihnen der dichte Nebel zum Verhängnis. Auf der Backbordseite erscheint ein anderes Dampfschiff, das durch die Nebelwand nicht früher erkannt wurde. Beide fahren schneller als es die Wetterlage erlaubt, wodurch eine Kollision nicht mehr zu vermeiden ist.

Der britische Dampfer „Sultan“ reißt ein Loch in die Seite der „Cimbria“, das bis unter die Wasserlinie reicht. Schnell strömen unkontrollierte Wassermengen hinein und das Schiff beginnt zu sinken, bevor alle Rettungsboote ins Wasser gelassen werden können. Bald ragen nur noch die Masten aus dem Wasser. 48 Passagier*innen schaffen es in Rettungsboote und werden von dem britischen Segler „Theta“ aufgenommen oder erreichten selbst die Nordseeinsel Borkum. Als die britische Bark „Diamant“ das Unglück sichtet, kann sie nur noch 17 Personen retten. Mehr hatten die kalte Winternacht nicht überstanden. Insgesamt kamen 437 Menschen ums Leben.
Funk rettet Leben
In der Dauerausstellung des preisgekrönten Erlebnismuseum stehe ich im detailgetreu rekonstruierten Speisesaal des Ocean Liners „Columbus“. Wären da nicht die Bullaugen mit Sicht auf den weiten Atlantik, vergesse ich hier fast, dass ich mich auf einem Schiff befinde. Doch auch das größte und bestausgestattete Schiff kann in Seenot geraten. Allerdings finde ich heraus, dass eine ganz entscheidende Erneuerung sehr wohl für noch mehr Sicherheit sorgte: der Funk. Ab Beginn des 20. Jahrhunderts waren immer mehr Schiffe mit der technischen Innovation ausgestattet und dadurch nicht mehr vom Festland isoliert. So konnten sie Notrufe absetzen und Warnungen vor Stürmen oder Eisbergen erhalten.

Feuer auf dem Wasser
Wovor allerdings auch der Funkkontakt zum Land nicht schützen konnte, waren schiffsinterne Vorfälle. Das zeigt mir das Unglück der „Volturno“: Am 9. Oktober 1913 gerät sie, während einer Überfahrt von Rotterdam nach New York, mitten auf dem Atlantik in einen Sturm. Durch das heftige Schaukeln kommt es zu einer Explosion von Chemikalien im Laderaum. Das entfachte Feuer breitet sich immer weiter aus und versetzt die 600 Passagier*innen in Panik. Einige Schiffe reagieren auf die telegrafischen Notrufe von Kapitän Inch und wollen der „Volturno“ zur Hilfe kommen. Allerdings erschwert der starke Seegang bei Windstärke 10 die Rettungsaktion enorm. In der Verzweiflung werden vereinzelt Rettungsboote niedergelassen, aber auch diese können dem Wellengang nicht standhalten.
Später folgen weitere Explosionen, die das Feuer immer stärker entfachen. Daraufhin starten die umliegenden Schiffe nach und nach neue Versuche der Rettung. Vereinzelt helfen ihnen an der Schiffswand angebrachte Matratzen, den schweren Seegang abzufedern und keine weiteren Schiffe zu beschädigen. Insgesamt können 541 Menschen gerettet werden. Ein Ergebnis, das ohne die Funknotrufe wohl ganz anders ausgefallen wäre. Dennoch verlieren 136 Passagier*innen und Besatzungsmitglieder in dieser Nacht ihr Leben.

Und nach dem Unglück?
Während ich diese Geschichten erzähle, wird mir erneut bewusst, dass Überfahrt eben nicht Ankunft bedeutete. Ein Schiffsunglück wie die genannten zu erleben, muss wahnsinnig traumatisierend sein. Überlebende hatten teilweise mit schweren psychischen Nachwirkungen zu kämpfen und mussten gleichzeitig mit Verlusten von Familienmitgliedern und ökonomischen Nöten zurechtkommen. Nun standen sie wieder vor der Entscheidung: Wage ich es erneut oder kehre ich in die Heimat zurück?
Wer hätte gedacht, dass mich der Ort, an dem mein Schreibtisch steht, auf eine so bewegende Reise führt. Wenn ich jetzt aus dem Fenster des Seeamts schaue, betrachte ich den Hafen mit anderen Augen. Neben den vielen Auswander*innen, die die Chance bekamen in den USA ein neues Leben zu beginnen, denke ich nun auch an diejenigen, deren Weg schon viel zu früh endete.

Von Miriam Eberhard, Praktikantin des Deutschen Auswandererhauses
[bre_box title=“Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven“ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ title_color=“#FFFFFF“ radius=“5″]Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
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