Schnaubende Züge, babylonisches Sprachgewirr, Menschen aus aller Herren Länder. Sie sind angekommen und doch im Aufbruch, bahnen sich einen Weg in Richtung neue Heimat zwischen den Gleisen des Grand Central Terminals in New York. Dieser Ausstellungsraum des Deutschen Auswandererhauses fasziniert mich immer ganz besonders, denn zwischen amerikanischer Flagge und Fahrkartenschaltern entdecke ich die Lebenswege europäischer Auswanderer in den USA. Wie ist das, wenn aus Deutschen US-Amerikaner werden? Welche Erinnerungen und Andenken, welches Erbe bewahren sie? Was erzählen sie ihren Kindern, Enkeln und Urenkeln von der alten Heimat – und was haben die heute für Vorstellungen von Deutschland, dem Land ihrer Vorfahren?
Um genau diese Fragen ging es, als eine Gruppe von Wissenschaftlern des Deutschen Auswandererhauses um Direktorin Dr. Simone Eick im vergangenen Dezember in die USA reiste. In ihrem Projekt in Kooperation mit dem Deutschen Historischen Institut Washington führten sie in Baltimore, Cincinnati und Washington, D.C. Oral-History-Interviews mit Deutsch-Amerikanern und veranstalteten Workshops in verschiedenen Schulen. Sie kamen den USA näher und die USA ihnen – ganz im Sinne des „Deutschlandjahres“, das von Oktober 2018 bis Ende 2019 in den USA stattfindet. Gefördert durch das Auswärtige Amt, realisiert durch das Goethe-Institut und unterstützt durch den Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) finden unter dem Motto „wunderbar together“ in ganz unterschiedlichen Projekten in den USA Deutsche und Amerikaner zueinander.
Deutsches Erbe von Sauerkraut bis Heiligabend
So führten unsere Wissenschaftler 26 Interviews mit Personen, die auf ganz unterschiedliche Arten mit Deutschland verbunden sind: Während die Vorfahren der einen bereits im 19. Jahrhundert ausgewandert sind, sind andere in Deutschland aufgewachsen und haben sich selbst entschieden, in die USA auszuwandern. Auch Auswanderer, die nach dem Zweiten Weltkrieg Deutschland verließen, sowie deren Nachfahren wurden befragt. Was sie heute noch mit Deutschland verbinden? Die Antworten sind so vielfältig wie die Befragten, erzählt Björn Boldt, der die Interviews durchführte: „Manche denken an Essen wie Sauerkraut und Knödel, andere haben bei Eltern und Großeltern deutsche Begriffe wie ,wunderbar´ oder ,Dummkopf´ aufgeschnappt. Und manche feiern nach wie vor am 24. Dezember Heiligabend, anders als die meisten Amerikaner, für die Weihnachten erst am 25. Dezember beginnt.“
Nicht nur Geschichten, auch Gegenstände wurden den Wissenschaftlern anvertraut– zum Beispiel ein Kaffeeservice, das Katja von Schuttenbach ihnen für die Sammlung des Deutschen Auswandererhauses überließ. Ein Wort bringt auf den Punkt, was sie damit verbindet: „Gemütlichkeit“. Die vermisst sie noch immer manchmal in Washington, D.C., obwohl sie bereits Anfang der 1990er-Jahre in die USA auswanderte. Sich auf einen Kaffee mit Freunden zu treffen ist natürlich auch dort nichts Ungewöhnliches, ein gemütlicher Nachmittag mit Kaffee und Kuchen im eigenen Wohnzimmer hingegen schon.
In Workshops der Heimat auf der Spur
Vielleicht erzählt das Kaffeeservice damit ja auch von der Sehnsucht nach Heimat, nach einer Umgebung, die mehr ist als ein bloßes Zuhause. Wer von „Heimat“ redet, bleibt nicht bei abstrakten Begriffen stehen, sondern fängt früher oder später an, von seiner eigenen Geschichte zu erzählen. Kein Wunder also, dass die Wissenschaftler des Deutschen Auswandererhauses den Begriff als Ausgangspunkt nahmen, um mit 13- bis 18-Jährigen an drei verschiedenen Schulen über Migration und Identität zu sprechen. Neben den Interviews mit Auswanderern und ihren Nachfahren war dies der zweite Schwerpunkt der USA-Reise.
Dass Heimat nicht unbedingt an einen Ort gebunden sein muss, davon konnten beispielsweise die Schüler an einer Schule in Baltimore ein Lied singen. „Viele von ihnen haben Eltern, die beim Militär arbeiten, und dadurch bereits mehrere Umzüge erlebt“, erzählt Johanna Knoop von ihren Erfahrungen mit den Schülern. Umso besser konnten sie sich daher auch in die Schicksale von Auswanderern hineinversetzen, die Johanna Knoop und Katie Heidsiek aus dem Deutschen Auswandererhaus mitbrachten. Und so entspann sich aus dem Gespräch über Heimat schnell eine rege Diskussion über Identität, Migration und die eigenen Vorstellungen von Deutschland und den USA.
Zurück mit Geschichten im Koffer
Neben den Interviews und Workshops besuchten die Wissenschaftler des Deutschen Auswandererhauses die sogenannte „German Church of Baltimore“, in der noch heute Gottesdienste in deutscher Sprache stattfinden, erfuhren im „German Heritage Museum“ in Cincinnati mehr über die Geschichte der Deutsch-Amerikaner in Ohio und trafen gemeinsam mit Vertretern des Deutschen Historischen Instituts die deutsche Botschafterin in den USA, Dr. Emily Haber, die sich über das Deutschlandjahr informierte. Nach zehn Tagen kehrten sie mit vielen neuen Erfahrungen und Erinnerungen an spannende und berührende Begegnungen nach Deutschland zurück. Nun geht es darum, auch andere daran teilhaben zu lassen: Teile der geführten Interviews sollen demnächst online zugänglich sein, auf einem neuen Internetportal des Deutschen Auswandererhauses. Damit möchte das Migrationsmuseum seine Sammlung an Familiengeschichten weiter ausbauen. Denn eines ist klar: Das Deutsche Auswandererhaus lebt von den Geschichten, die hier erzählt werden. Wie zum Beispiel am Grand Central Terminal, zwischen USA-Flagge und Fahrkartenschaltern.
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