„Was machst du eigentlich Silvester?“ fragt mich eine Kollegin, die ich am Eingang zum Deutschen Auswandererhaus treffe. Keine Frage wird mir momentan häufiger gestellt. Darauf antworten kann ich dieses Jahr Mitte Dezember noch immer nicht. Lust auf Sonne und Wärme hätte ich bei den aktuellen Temperaturen in Bremerhaven, aber vermutlich wird es eher ein Ausflug in die Therme als eine Reise in die Südsee.
„Etwas zieht mich in die Ferne…“
Bei einem Rundgang durch die Ausstellung des Deutschen Auswandererhauses streife ich durch die Galerie der 7 Millionen. Ich denke an die vielen Schiffe, die von Bremerhaven aus gestartet sind. Die Menschen haben damals, im 19. Jahrhundert, zumeist nicht aus Reiselust, sondern hauptsächlich in der Hoffnung auf ein besseres Leben das Land und ihre Heimat verlassen. Oft mit der sicheren Überzeugung, nie wieder zurück zu kommen. Denn die Überfahrt war verhältnismäßig teuer, und viele mussten sehr lange darauf sparen. Doch die Bedingungen haben sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Stück für Stück so sehr verbessert, dass aus dem notwendigen Transportmittel für Auswander:innen um die Jahrhundertwende auch ein lukrativer Reiseort für Tourist:innen wurde.
Kreuzfahrt und Kaviar
Während ich weiter durch die Ausstellungsräume des Deutschen Auswandererhauses gehe, fallen mir die Menükarten im Speisesaal des Ocean Liners ins Auge. Da läuft mir gleich das Wasser im Munde zusammen: Krebssuppe, Röstkartoffeln, Eis und Gebäck – ich bin ein Beilagen-Typ – das würde ich mir so auch bestellen. Die Speisekarten der Passagierschiffe in den 1920er Jahren scheinen auch für die einfachste Klasse keinen Gourmet-Wunsch offen zu lassen. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts wird zunehmend auch Rücksicht auf Sonderwünsche und persönliche Bedürfnisse genommen, wie beispielsweise die koschere Verpflegung für jüdische Auswander:innen samt komplett koscherem Geschirr.
Ich erfahre, dass die Ausstattung an Bord zunehmend luxuriöser wird, was die Überfahrt immer angenehmer gestaltet. Es soll den Passagier:innen während der langen Fahrt auf See an nichts fehlen: Konzerte werden den Passagieren der 1. Klasse bereits Ende des 19. Jahrhunderts angeboten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kommen auch sportliche Aktivitätsmöglichkeiten hinzu. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg halten dann die ersten Ballsäle Einzug an Bord. In den 1920ern ermöglichen mobile Projektoren erste Filmvorführungen und ab den 1930ern gibt es feste Bordkinos.
Highlight zum Jahresabschluss
Schifffahrten zu Silvester stehen also nicht erst heutzutage hoch im Kurs. Als großes Highlight zum Jahresabschluss konnten zunächst wohlhabende Passagier:innen den Jahreswechsel auf hoher See mit einem üppigen Dinner und Tanz genießen. In den 1920er Jahren entdeckten die Reedereien dann, dass die Mittelschicht auch eine mögliche Zielgruppe für Vergnügungsreisen war und passten ihr Angebot dementsprechend an.
Meine Kollegin Dr. Tanja Fittkau, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Sammlungsleiterin am Deutschen Auswandererhaus, zeigt mir, wie schon vor Jahrzehnten auf hoher See Silvester gefeiert wurde. Ich sehe mir einige Prospekte aus dem Archiv an und bekomme sofort Fernweh.
„Frohe Fahrt ins Neue Jahr“
Die Reederei Home Lines wünscht auf ihrem Flyer eine „Frohe Fahrt ins Neue Jahr“ für die Weihnachts- und Silvesterfahrt, die am 21. Dezember 1955 von Cuxhaven Richtung Halifax und New York startet. Auf der „MS Italia“ wird ein spezielles Menü für den Weihnachtsabend sowie eine glanzvolle Silvesterfeier mit großem Silvesterball angeboten. „Die Küche der ITALIA ist bekannt für Güte und Reichhaltigkeit; Getränke und Rauchwaren stehen in reicher Auswahl zu besonders günstigen Preisen zur Verfügung“, lese ich da. Dieses Erlebnis der besonderen Art verspricht „eine stimmungsvolle, unvergeßliche Erholungsreise zur See“ und einen „frohen Auftakt für das neue Jahr und die Neue Welt.“
Auch der Prospekt des Norddeutschen Lloyd von 1963 spricht mich sofort an. Am liebsten würde ich gleich buchen: Angeboten wird eine Vergnügungsreise in den Süden mit der „MS Berlin“. Am 21. Dezember 1963 startete die Weihnachts- und Silvester-Fahrt von Bremerhaven aus. Bis zum 7. Januar 1964 werden Villagarcia (Spanien), Casablanca (Marokko), Teneriffa (Kanarische Inseln), Funchal (Madeira) und Lissabon (Portugal) angesteuert, bevor es zurück nach Bremerhaven geht. In den jeweiligen Orten werden Landausflüge angeboten, aber auch das Programm an Bord ist nicht zu verachten: kulinarische Genüsse, Bälle, Kostümfeste, ein ausgewähltes Unterhaltungsprogramm sowie der „Glanz des Brillantfeuerwerks unter dem sternenklaren Himmel von Madeira“ versprechen einen fantastischen Jahreswechsel. Das klingt nach einer tollen Reise, finde ich – und könnte es mir bei den aktuellen Temperaturen in Bremerhaven auf jeden Fall als Silvesterplan vorstellen!
Bräuche und Traditionen
Ich studiere noch mal die üppige Speisekarte des Prospekts. Besonderes Essen und spritzige Getränke sind schon mal eine gute Grundlage für eine gelungene Silvesterfeier, denke ich mir. Das ist heute nicht anders als vor rund 70 Jahren. Doch was gibt es eigentlich noch für Traditionen, die seit Jahrzehnten den Ablauf von Silvesterfeiern bestimmen?
Kulinarisch haben sich beim traditionellen deutschen Silvester Karpfen, Kartoffelsalat, Fondue oder Raclette durchgesetzt. Außerdem Feuerzangenbowle und Berliner – oder wie sie in Berlin genannt werden: Pfannkuchen. Das Verschenken von Glücksbringern gehört ebenso dazu, meist in Form von vierblättrigem Klee, kleinen Marzipanschweinen oder Schornsteinfegern. Auch Bleigießen, bestimmte Fernsehsendungen wie „Dinner for One“ schauen und Neujahrsläufe sind – regional mal mehr oder weniger ausgeprägt – in ganz Deutschland bekannte Traditionen zu Silvester.
„Viel Glück!“
Die meisten Bräuche und Traditionen zu Silvester haben eins gemeinsam: Sie sollen Glück, Reichtum und Gesundheit für das neue Jahr bringen. Das Feuerwerk hilft dem Brauch nach, die bösen Geister zu vertreiben. Und viel Glück konnten auch die Auswander:innen beim Start in ihr neues Leben in einem neuen Land gebrauchen.
Ein Stück Heimat in der Neuen Welt
Den Menschen, die in einem fremden Land eine neue Heimat suchen, helfen oftmals Erinnerungen an zuhause, um sich in neuer Umgebung schneller heimisch zu fühlen. Vertrautes gibt ihnen dabei Halt. Und so finden auch viele Traditionen, Bräuche und Feste ihren Weg mit den Auswander:innen in die Neue Welt und sorgen dafür, dass sich die neue Heimat nach zuhause anfühlt.
Deutlich wird das auch auf einem der Silvester-Fotos, die Tanja mir aus der Sammlung heraussucht: Auf dem Foto vom 31.12.1929 sind die Brüder Erwin und Georg Hobuß zu sehen, die 1926 und 1927 in die USA ausgewandert sind. Neben ihren Frauen Hilde und Martha, die ihnen im Januar 1929 nach Amerika folgten, sind einige Bekannte aus der neuen Heimat mit im Bild. Es scheint als Gruß an die Familie zuhause verschickt worden zu sein. Auf der Rückseite steht geschrieben: „Sylvester-Feier bei den Minkes. Kennt Ihr noch alle? […] Oben links in der Ecke sieht man noch etwas von Hildchens und Orjens Hochzeitsbild. Es gab Pfannkuchen, Rollmöpse, Kartoffelsalat und Würstchen und Fruchtwein ohne Alkohol.“
Kartoffelsalat und Würstchen – da bekomme ich sofort ein heimeliges Gefühl und denke an meine Oma. In dem Foto von Familie Hobuß erkenne ich einige Ähnlichkeiten zu den Feiern bei meinen Großeltern. Und Kartoffelsalat mit Würstchen kommt auch heute noch bei meinen Familienfeiern super an.
Eine Silvesterfeier im kleinen Kreise der Familie erlebt Thomas Kirchhof 1958. Seine Eltern waren mit ihm erst kurz zuvor nach Kanada ausgewandert. Ob er sich noch daran erinnern kann? Gerade mal drei Jahre alt ist er bei seinem ersten Jahreswechsel in der neuen Heimat. Und damit die Erinnerung an diesen Abend nicht verblasst, haben seine Eltern hinten auf dem Familienfoto notiert: „Diese Aufnahme ist nachts um 3 Uhr aufgenommen. Wir alle haben einen tollen Schwips, unser Tommy ist begeistert von seinen lustigen Eltern.“
Guten Rutsch & Prost Neujahr!
Wo ich dieses Jahr an Silvester sein werde, weiß ich zwar immer noch nicht. Vermutlich wird es eine kleine gesellige Runde mit gutem Essen und dem ein oder andern Glas Sekt. Und wo feiert ihr? Wo und wie auch immer – ob mit Kartoffelsalat oder Champagner: Ich und meine Kolleg:innen vom Deutschen Auswandererhaus wünschen euch einen schönen Jahresausklang und einen guten Start ins Neue!
Text: Hilka Baumann, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
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Das Deutsche Auswandererhaus hat Montag bis Sonntag von 10:00 bis 17:00 Uhr geöffnet. Auch feiertags freuen wir uns auf Ihren Besuch. Nur am 24. Dezember hat unsere Ausstellung ganztägig geschlossen und am 31. Dezember 2022 schließen wir bereits um 16 Uhr. Der letzter Einlass ist jeweils eine Stunde vor Ende der Öffnungszeit.
Mehr Infos unter www.dah-bremerhaven.de
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