Als ich im Deutschen Auswandererhaus den Museumsteil zur Auswanderungsgeschichte hinter mir lasse und über den Transit in den Saal der Debatten schreite, werden sofort meine gesamten Sinne angesprochen – dieser Ausstellungsraum zieht mich direkt in den Bann. Soll ich zuerst zu der Personengruppe mit Plakaten rechts von mir am großen Fenster gehen oder doch zu der Glasvitrine mit den spannenden Objekten? Die Schilder am Eingang helfen mir jedoch und zeigen mir, dass der Rundgang am runden Multimedia-Tisch direkt wenige Schritte vor mir beginnt. Ich bin sehr gespannt, was dieser Ausstellungsraum für mich bereithält und was ich hier Neues zum Einwanderungsland Deutschland entdecken kann.
Im Saal der Debatten
Am runden Tisch kann ich aus vier gesellschaftlichen Debatten zur Migration auswählen, die seit 1949 in Deutschland von Bedeutung waren: Nach kurzen Überlegungen entscheide ich mich für eine, die sich mit der Frage beschäftigt „Sind alle Arbeitnehmer*innen gleichberechtigt?“. Nach meiner ersten Station an der politischen Bühne führt mich mein Weg direkt zu einer weiteren Station an einem großen Bücherregal. Ich stecke meine eigenen Kopfhörer ein und erfahre mehr über das Thema der Arbeitskämpfe – über eingewanderte Arbeitskräften und die schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen dieser Menschen.
Arbeiten in einem fremden Land…
Seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland stieg der Bedarf an Arbeitskräften in Deutschland immer mehr an, sodass die Regierung ab 1955 mit anderen Ländern (wie zum Beispiel mit Italien oder der Türkei) mehrere „Anwerbeankommen“ abschloss, damit Arbeitskräfte aus dem Ausland angeworben werden konnten. Deutschland verstand diese Einwander*innen als sogenannte „Gastarbeiter*innen“, die Gäste in Deutschland waren und nicht für immer bleiben sollten. Ich merke schnell, dass das Wort „Gastarbeiter“ keineswegs wertschätzend klingt. Denn deutsche Unternehmen hatten die Hoffnung, Arbeitskräfte einzustellen, denen sie niedrige Löhne bei schlechten Arbeitsbedingungen zahlen konnten und die nur so lange blieben wie nötig – für sie war der wirtschaftliche Nutzen der Arbeitenden wichtig. Gleichberechtigt zu deutschen Arbeitnehmer*innen klingt das für mich auf jeden Fall nicht. Die Einwander*innen erhofften sich die Chance auf guten Lohn, um nach kurzer Zeit doch wieder in die Heimat zu der eigenen Familie zurückzukehren. Andere interessierten sich dafür mehr von der Welt zu sehen oder eine Ausbildung in einem anderen Land zu absolvieren. Und viele von ihnen blieben auch in Deutschland und gründeten dort eine eigene Familie.
…und für Gleichberechtigung einstehen
Diese widersprüchliche Interessenslage zwischen verschiedenen Akteuren in Deutschland fällt mir auch direkt auf als ich weiterhöre. Aufgrund der nicht vorhandenen Gleichberechtigung organisierten migrierte Arbeitnehmer*innen ab den 1960er Jahren Arbeitskämpfe: Streiks und Proteste, bei denen sie die schlechten Lebensbedingungen kritisierten und sich bessere Arbeitsbedingungen erhofften. 10 Jahre nach dem ersten Abkommen, im Jahr 1965, verabschiedete die deutsche Regierung das „Ausländergesetz“, das Migrant*innen dazu aufforderte eine Aufenthaltsgenehmigung für die Dauer ihrer Tätigkeit einzuholen. Und 1973 kam mit dem Anwerbestopp ein weiteres Gesetz, welches das „Anwerbeabkommen“ beendete. Die Medienstation bei der Stadtbücherei gibt mir die Möglichkeit Videos von Expert*innen anzuschauen, die mich über den aktuellen Forschungsstand aufklären und diese Debatte aus der Perspektive der Wissenschaft kennenzulernen.
Erfahrungen aus erster Hand in der Stadtbücherei
Als ich von der Medienstation aufschaue, blicken mich von der Regalwand kleine und große Bücher, mal mit vielen Seiten und mal mit weniger vielen, farbenfrohe und schlichte Werke an. Ein typischer Teil einer Stadtbücherei mit einer Vielzahl an Büchern, wie ich sie noch aus meiner Kindheit kenne. Hier kann ich in ausgewählten Büchern lesen, mir Lesetipps in Bezug auf Arbeitsmigration holen und mehr zu den Erfahrungen von Eingewanderten entdecken. Aber wie hat es diese Vielzahl an unterschiedlichsten Werken überhaupt in das Museum geschafft? Eine Antwort darauf finde ich beim Künstler Fruttuoso Piccolo, der selbst als Arbeitsmigrant nach Deutschland kam.
Von der Kunst Kultur zu fördern
Eine Antwort darauf finde ich vom Künstler Fruttuoso Piccolo, der selbst als Arbeitsmigrant nach Deutschland kam. Diese Werke hier im Saal der Debatten haben eine ganz besondere Bedeutung. Sie sind Teil einer Schenkung von diesem Künstler, der über 40 Jahre hinweg deutschsprachige Werke von Autor*innen mit Migrationshintergrund gesammelt hat. Piccolo selbst wurde 1953 in der italienischen Provinz Padua geboren und sah als junger Erwachsener keine Perspektive mehr in seinem Heimatland. Sein Bruder, der schon einige Jahre zuvor als Arbeitsmigrant nach Deutschland ausgewandert ist, begleitet den 19-jährigen Fruttuoso Piccolo daraufhin auf seiner Auswanderung nach Hannover im Jahr 1972. Als Kunst- und Kulturschaffender war er für verschiedene Einrichtungen tätig, unter anderem in Hamburg für das „Haus für Alle“. Außerdem gewann er für seine künstlerische Arbeit verschiedene Preise, wie 1988 den Hauptpreis des multinationalen und interkulturellen Kunstwettbewerbs, der vom Initiativenausschuss der ausländischen Mitbürger*innen in Niedersachsen und der damaligen Ausländerbeauftragten des Landes Niedersachsen ausgerichtet wurde.
Schon in seiner Jugend schrieb er Gedichte und führte dieses schriftstellerische Tun auch in Deutschland fort. Seine Erfahrungen als Arbeitsmigrant in Deutschland lässt er in seine Werke in Kunst und Literatur einfließen. Er veröffentlichte eine vielfältige Mischung aus Poesie, Literatur, Collagen, Kunst und Fotografie, oft mit politischer Bedeutung. Doch Fruttuoso Piccolo ist nicht nur an der Veröffentlichung seiner Werke interessiert, sondern auch daran die Beiträge von Künstler*innen mit Migrationshintergrund hervorzuheben. Seine vielfältige Sammlung an Büchern bringt dies zum Ausdruck.
Gesammelte Werke von Bedeutung
Und was sind das eigentlich für 2.800 Bücher genau, die er dem Deutschen Auswandererhaus überlassen hat? Das Ziel eine Sammlung aufzubauen, hatte Fruttuoso Piccolo zuerst nicht verfolgt, vielmehr war er daran interessiert die verschiedenen kulturellen Erfahrungen von Künstler*innen mit Migrationshintergrund in den Mittelpunkt zu stellen. Jedoch wurde seine Sammlung über die gesamten Jahre immer größer und vielfältiger. Die Werke erzählen von Erfahrungen Einwandernder in einem anfangs fremden Land, in Deutschland. Die Idee seine Sammlung dem Deutschen Auswandererhaus zu überlassen, kam ihm nach seinem ersten Besuch des Migrationsmuseums vor wenigen Jahren. In einem persönlichen Gespräch erzählt er mir, wie begeistert er von den vielen Details der Ausstellungsräume war und wie beeindruckt und emotional ergriffen er war, als er gemerkt hat, auf welche Art und Weise die einzelnen Biographien der Migrant*innenen präsentiert werden. Ein Gefühl, dass ich nachvollziehen kann, auch wenn ich durch meine tägliche Arbeit unzählige Male die Aufstellung aufgesucht habe. Trotzdem ist es jedes Mal erneut bewegend den Geschichten der Menschen zu lauschen.
Fruttuoso Piccolos Werksammlung von interessanten Künstler*innen und Denker*innen mit Migrationshintergrund hebt hervor und zeigt, dass diese Literatur bereits heute die deutsche Sprache nachhaltig beeinflusst – eine Art grenzüberschreitende Literatur. Und auch für die Wissenschaftler*innen im Deutschen Auswandererhaus ist diese Schenkung etwas ganz Besonderes: Sie bieten Erkenntnisse für die Literatur- und Sprachwissenschaft und dienen zudem auch Forschungszwecken aus der Migrationsforschung. Ziel ist es, diese Schenkung zu bewahren und damit die verschiedenen kulturellen Werke, die Einwander*innen in Deutschland geschaffen haben, einem breiten Publikum zugänglich zu machen.
Die Geschichte der Arbeitskämpfe und die besondere Schenkung von Fruttuoso Piccolo lassen mich tiefer über diese wichtige Migrationsdebatte nachdenken. Und sie machen mich neugierig, mehr zu diesem Thema zu erfahren und zu lernen. Denn im Museum erwarten mich nicht nur weitere persönliche Kunst-Objekte von Fruttuoso Piccolo, sondern auch die anderen Teilbereiche des Saales der Debatten, wie das Unifoyer oder der Stadtteiltreff. Allzu viel möchte ich jedoch nicht verraten – Wenn ihr neugierig seid, dann kommt doch gerne bei uns vorbei und entdeckt die Vielfältigkeit dieses Ausstellungsraumes und die bewegenden Geschichten von Menschen, die in Deutschland ein neues Zuhause gefunden haben.
Melanie Holz, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr Infos zu der Sammlung von Fruttuoso Piccolo findet ihr unter www.dah-bremerhaven.de/grosszuegige-literatur-schenkung-von-fruttuoso-piccolo
Inge Molitor
Es freut mich sehr , dass die Bücherschenkung so gzt aufgenommen wurde.Eine sehr wichtige Arbeit.Vor Jahren war ich mit meinen Kindern im Auswandererhaus und war begeistert.
Ich werde hoffentlich die neue Einwandererausstellung bald besuchen.
Vielen Dank!!!
Inge Molitor , Obernkirchen
Gastautor Auswandererhaus
Liebe Inge,
vielen Dank für Dein Lob!
Wir freuen uns Dich bald wieder bei uns begrüßen zu dürfen – durch unsere Neueröffnung im vergangenen Jahr wirst Du sicherlich ganz viel Neues entdecken, unter anderem dann auch die Literatur-Schenkung von Fruttuoso Piccolo!
Dein Team des Deutschen Auswandererhauses