Meist freue ich mich über das Lob zu unserer kostenfreien Fotoausstellung in den Museumsfenstern, wenn es bei uns im Deutschen Auswandererhauses Bremerhaven eintrudelt. „Eine tolle Idee in Corona-Zeiten, das ist mal wieder was Analoges!“ gratuliert ein Kommentar in den Sozialen Medien. Danke. Und ja, es stimmt, einiges an der Ausstellung ist „analog“. Passant*innen können seit dem 13. Januar einfach zu den beleuchteten Fenstern des Museums schlendern und mit „Geschafft! Ausgewanderte fotografieren ihr neues Leben“ nach langem Lockdown wieder eine Ausstellung „zum Anfassen“ ansehen. Aber auch das, was zu sehen ist, die Fotos, entstanden analog und sind trotz von dieser Produktionsform geprägt – von ihrer Farbe ud kleineren Entwicklungsfehlern bis zu den hinterlassenen Zeichen der Zeit.
Vom digitalen Fotoalltag…
Fotos sind durch die Digitalisierung für uns etwas sehr Alltägliches geworden. Oft eine Art Gebrauchsgut. Das kann gut und schlecht zugleich sein, denke ich, wenn ich schon wieder eine Bildnachricht bekomme: „Hey, welches Mehl soll ich kaufen, das rechte oder das linke?“. Eine Statistik von 2016 besagt, dass auf Instagram täglich 60 Millionen Beiträge gepostet wurden. Und die Plattform ist in den letzten vier Jahren gewachsen. Das einzelne Bild wird deswegen nicht notwendig schlecht oder wertlos. Aber während der*die eine oder andere das Selfie vor dem Fenster mit #deutschesauswandererhaus hochlädt, ist das schöne Foto für heute, nicht für immer gedacht. Und das verändert unseren Blick auf Bilder. Die Fotos im Foyer hingegen schon für ihre Produzent*innen ein Schatz gewesen, der nun einer für das Museums geworden ist: die persönlichen Aufnahmen von Menschen kurz nach ihrer Auswanderung. Geschossen, um etwas kostbares zu bewahren.
…zum unersetzbaren Geschichts-Schatz
Manchen mag das heute wundern. Für Museen ist der Wert solcher Fotos wenig überraschend: Es sind seltene, persönliche Dokumente. Sie zeigen uns Details in Mode, Einrichtung und vielem mehr, die nie in Briefen erwähnt werden, weil sie „normal“ sind. Und sie sind für die Fotograf*innen ein Grund gewesen „hinzusehen“, ein Moment der eine Fotografie wert war. Das verrät uns viel über Werte, Bedeutung, Beziehungen, Ästhetik und Ideale dieser Menschen. Und das, was Fotos – gerade für das Deutsche Auswandererhaus – so außergewöhnlich macht, geht noch tiefer.
Geschichte (und Fotografie) wird gemacht
Fotografie und Geschichte haben etwas gemeinsam: Sie sind Erfindungen der Moderne, des 18. und 19. Jahrhunderts. Geschichte ist dabei der Versuch tausende Momente, tausende Erfahrungen und einzelne Geschichten zu etwas zu verbinden, das in seinen Wirkungen und Ursachen logisch miteinander verbunden ist. Sie ist die Suche nach einem Sinn in der Welt. Im späten 18. Jahrhundert, um die Zeit der Französischen Revolution, entstehen erste öffentliche Museen: 1759 eröffnet das British Museum, 1793 das Louvre, bald darauf die Pinakotheken in München. Um 1800 wird im deutschsprachigen Raum der Geschichtsunterricht in Höheren Schulen eingeführt.
Wer malt das Bild der Geschichte?
Mehr Menschen kämpfen in dieser Zeit um eine politische Stimme, um die Möglichkeit ihre eigene Geschichte zu gestalten. Gleichzeitig gründen sich Staaten, entwickelt sich die Idee Nation. Die Geschichtsschreibung entscheidet sich damals für eine Geschichte der Grenzziehungen und Kriege, der Eliten und ihrer Konflikte. Sie stellt sich oft – wie die Maler epischer Schlachtenbilder – in den Dienst der neuerdachten Nationen und sammelt fleißig „Offizielles“, staatliche udn wissenschaft-liche Dokumente und Zahlen. Es entsteht ein Streit, der bis heute anhält: Wer macht Geschichte und wer ist sie bloß? Wer bestimmt, was der rote Faden, die „große Erzählung“ ist? Oder wäre es nicht viel vernünftiger anzunehmen, dass es so etwas wie die eine Geschichte gar nicht gibt? Eine Millionen Fragen und Probleme entstehen daraus, die nicht nur für Historiker*innen wichtige Folgen haben.
Dokumente der Beinah-Übersehenen
Das Deutsche Auswandererhaus hat seinen eigenen Weg durch diese Debatte gefunden. Als Migrationsmuseum hätte es wenig zu erzählen, wären da nicht Abermillionen einzelne Schicksale allein in Bremerhaven, die mit der „großen“ Geschichte auf ganz eigene Art verbunden wären. Menschen, die aus ganz Europa kamen, um vom einst größten Auswandererhafen des europäischen Festlandes in die Neue Welt zu fahren. Und Menschen, die in Deutschland auf ganz unterschiedlichen Wegen landeten und versuchten, sich ein neues Zuhause aufzubauen. Sie hatten viel gemeinsam, doch erst ihre einzelnen Geschichten können uns das verraten. Dieses Stück Menschheitsgeschichte ohne die Stimmen von denen erzählt, die nie selbst Staatsgrenzen zogen, aber sie zumindest überwanden: eine große Leerstelle, die es zu füllen gilt. Aber hätte es in ihrem alten Leben nicht einen Grund gegeben von „Ohnmacht“ zu sprechen, vielleicht wären diese Menschen nie Migrant*innen geworden. Die wenigsten kamen auf die Idee ihre „Memoiren“ zu schreiben. Wie also schreibt man ihre Geschichte mit und nicht nur über sie?
Der beste Beweis ist eine Fotografie
Hier kommt die Fotografie ins Spiel. Es ist nicht ganz zufällig, dass sie in derselben Zeit entsteht, in der viele Menschen fasziniert von einer systematischen, „ordentlichen“ Welt sind. Zum Beispiel der modernen Physik und dem Elemente-System der Chemie. Sie lenkt den Blick, sieht analytisch exakt was da ist und bekommt schnell die Rolle des Dokumentierens: Der amerikanische Bürgerkrieg (1861-65) existiert für uns heute auf belichteten Glas- und Silberplatten.
Mit dem Aufkommen der Daguerreotypie Mitte des 19. Jahrhunderts wird Fotografieren etwas günstiger und die abgebildete Wirklichkeit war fast magisch in ihrer Lebendigkeit: Verstarb ein Angehöriger, ließen manche noch ein Bild der*des Aufgebahrten anfertigen. Landschaftsmaler fürchteten um ihre Einnahmen, denn die ersten Tourist*innen in Italien sammelten lieber teure Panoramafotos statt Aquarelle. Das Foto wurde zu einer Methode, sich die Welt zu eigen zu machen und sie mitzunehmen. Genau so wie sie ist. Das Foto wurde ein Stück Wirklichkeit. Was nicht drauf ist, kann man im wahrsten Sinne des Wortes vergessen – und das bestimmte der*die Fotograf*in.
Der kleine Luxus Familienfoto
Wer konnte, gönnte sich nun den Luxus einer Familienfotografie beim Profi. Oft hieß es dort noch lange „Luft anhalten“. Man hatte aus Kostengründen nur eine Aufnahme zur Verfügung. Bilder „normaler Leute“, von denen sie selbst bestimmten wie sie darauf aussahen, sind auch noch im späten 19. Jahrhundert meist streng geplant, von Vaters Hand auf der Stuhllehne bis zum Sitz von Paulines Haarschleife. So ein Familienfoto wurde von Auswander*innen gern auf Postkarten gedruckt (auch eine brandneue Erfindung, die ab den 1880er Jahren zunehmend populär wird), um sie an die Lieben daheim zu senden. Ein offizielles Dokument, mit dem die Großeltern zumindest alle paar Jahre die Enkel zu sehen bekamen.
Fotomotiv: das Schönste, was einem einfällt
Doch kaum jemand besaß die teuren, schwer handhabbaren Fotoapparate. Mit der Jahrhundertwende ändert sich dies zusehends. Seit wenigen Jahren war die Kamera transportabel. Fotos wurden langsam günstiger, schneller – und damit spontaner und persönlicher. So ist das älteste Foto in der aktuellen Fensterausstellung des Deutschen Auswandererhauses von 1908. Der junge Mann hält zwar still aber ist entspannt und stütz sich auf die Lenker eines Rades. Zwar war ein eigenes Fahrrad in der damaligen Zeit etwas Besonderes, doch für ein Foto hätte es einige Jahre zuvor noch nicht gereicht. Eine viel zu teure Sache, einfach mal so ins Fotostudio gehen – und dann auch noch mit einem „Velo“. Aber diese Aufnahme hier ist wichtig für den jungen Josef, der aus Lalić/Liliomoso in Serbien mit 16 in die USA ging. Er hat ein eigenes Fahrrad. Luxus, Modernität, einfach etwas, worauf man stolz sein kann. Und dank dieses Fotos kann er es in der Welt verbreiten, festhalten, seine Geschichte machen.
Der wichtige Augenblick auf Film
Das ist, was die Bilder im Fenster des Deutschen Auswandererhauses ganz wesentlich verbindet. „Das hier ist wichtig.“ Im Laufe des 20. Jahrhunderts können immer mehr Menschen Bilder anfertigen, dokumentieren, ihre Sicht der Dinge teilen. Geschichtsbücher schreiben sie meist nicht. Kameras aber werden langsam Massenware, auch wenn der Film und seine Entwicklung noch lange kostspielig sind. Doch mit Fotos machen sie sich ihre Geschichte zu eigen, mit und gegen die große. Denn sie gestalten das Bild, das sie denen auf der anderen Seite des Ozeans schicken, inszenieren es oder lassen inszenieren. Und umso günstiger Fotografieren wird, desto eher können sie das Bild zwischen verschiedenen Ergebnissen auswählen. Sie können selbst entscheiden, was sie für wichtig halten. Was wahr bleiben soll, für sie und andere.
Ein Bild, das bleibt
Private Fotografie seit dem 20. Jahrhundert interessiert sich zugleich für die Ewigkeit und oft doch nur für den Augenblick. Sie interessiert sich oft für das, was den*die Fotograf*in oder die Fotografierten genau jetzt berührt. Für das schöne Licht, für den lustigen Gesichtsausdruck oder den schönen Hintergrund, der einem so viel bedeutet, weil man so lange an den Tomatenpflanzen gewerkelt hat. Sie interessieren sich oft nur für die Mannschaft (auch ohne Pokalsieg), die Freunde in der Kneipe, dass man endlich in New York ist (auch ohne glamourösen Job), oder für den Baufortschritt des Einfamilienhauses am Rande des australischen Outback. Die „große“ Historie würde oft dazu sagen „Wenn interessiert das? Für wen ist sowas denn wichtig?“.
Und eine Einwanderin, die endlich ihre Familie in Bremerhaven versammelt hat und ein Foto von allen lächelnd auf einer „typischen“ Gangway in die Türkei schicken kann, wird immer dazu sagen können: „Mir.“ Und das Team des Deutsche Auswandererhaus nickt zustimmend: „Uns auch.“
Von Magdalena Gerwien, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
„Geschafft! Ausgewanderte fotografieren ihr neues Leben“
finden Sie den Fenstern des Museums: kostenfrei und draußen
zwischen 9.00 und 21.00 Uhr sind die Foyerfenster beleuchtet
Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
Mehr zur Ausstellung, dem Museum, Öffnungszeiten und mehr:
www.dah-bremerhaven.de
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