Nur gucken, nicht anfassen! Diese Regel gilt meist in Museen. Damit wird ein Museumsbesuch für Blinde und Sehbehinderte sinnlos. Dieses Erlebnis bleibt den Menschen mit solch einer Behinderung daher verwehrt. Nicht so im Deutschen Schifffahrtsmuseum (DSM) in Bremerhaven. Stetig werden die barrierearmen und barrierefreien Angebote erweitert. Im Rahmen des inklusiven Kultursommers gibt es jetzt auch Führungen für Blinde, Sehbehinderte, Hörgeschädigte, Gehörlose, Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer und damit mehr Barrierefreiheit im Museum.
Barrierefreiheit ist ein Gewinn für Alle
In der Kogge-Halle des Deutschen Schifffahrtsmuseums / Leibniz-Institut für Maritime Geschichte lässt sich der Schiffskörper der Hansekogge aus dem Mittelalter ertasten. Blinde und Sehgeschädigte erkunden die blauen, maßstabsgerechten Modelle mit ihren Händen. Vor ihrem geistigen Auge entsteht ein Bild von dem Großexponat. Was für diese Art von Behinderung notwendig ist, zieht aber auch alle anderen Museumsbesucherinnen und -besucher an. Und für Kinder ist es ein großer Spaß. Endlich darf etwas nach Herzenslust angefasst werden!

Es gibt viele Arten von Behinderung
Neben der „Lauschflut“ gibt es im Programm des DSMs eine weitere Führung für Blinde und Sehgeschädigte. Aleksander Solinkski aus der Abteilung Bildung und Vermittlung mit Schwerpunkt Inklusion hat die Führung zur Ausstellung SEH-STÜCKE entwickelt. Zwar selbst sehend, weiß er durch zahlreiche Studienkolleginnen und -kollegen worauf es ankommt. Sein Ziel ist es, Menschen unabhängig von ihrer Behinderung, Herkunft, Religion, Abstammung oder ihres Geschlechts das Deutsche Schifffahrtsmuseum zugänglich zu machen. Dies immer im Fokus, werden eventuell vorhandene Barrieren abgebaut und bei neuen Angeboten gleich vermieden.

Modernste Technik ermöglicht verborgene Einblicke
In Zusammenarbeit mit dem Leibniz-Institut für Wissensmedien und dem MAPEX Center gewährt das DSM mittels modernster Technik Einblicke in unterschiedlichste Objekte. Sieben davon gelangen im Rahmen der neuen Führung in die Hände der Teilnehmenden. Aleksander hat dafür Objekte aus den Bereichen Handel und Navigation gewählt.

Plötzlich blind
Ich bin sehr gespannt und setze eine der bunten Schlafmasken auf. Sofort bin ich um einen meiner Sinne beraubt. Obwohl ich die Repliken schon vor Beginn der Führung auf dem Tisch liegen sehe, fühle ich, als Aleksander mir sie in die Hand gibt, erst einmal nichts bzw. wenig. Beängstigend, wie ich mich offensichtlich auf meine Sehfähigkeit verlasse und wie wenig ausgeprägt mein Tastsinn ist. Ich drehe und wende das erste Objekt, einen Walzahn mit Motiv, in meinen Händen. Beim Ertasten hätte ich allerdings auf ein Horn mit einer nicht ebenen Oberfläche getippt. Die feine Darstellung darauf kann ich gar nicht erkennen.

Als Nächstes gibt mir Aleksander eine Sonnenuhr mit Kompass in die Hand. Wenn ich nicht wüsste, dass ich im Deutschen Schifffahrtsmuseum bin, hätte ich das nicht erraten. Aber es geht noch schwieriger (für mich). Das nächste Element ist ein Walzahn, in dessen Inneren eine christliche Darstellung geschnitzt ist. Ich fühle Spitzen und Ecken. Aber das ist auch schon alles. Der nächste Gegenstand ist zu allem Überfluss auch noch klein. Das macht das Ganze nicht einfacher. Es ist eine Trillerpfeife in Hundekopfform. Damit haben sich die Schiffsbesatzungen über das Wasser hinweg verständigt, und auch bei der Jagd kamen solche Pfeifen zum Einsatz. Ich bin völlig „blind“ und kann die Feinheiten nicht fühlen. Aber endlich gibt es für mich ein Erfolgserlebnis. Aleksander gibt mir einen Tontopf mit Deckel in die Hand. Diese schlichte Form erkenne ich dann doch.
Trotz Behinderung anderen überlegen
Die Führung zeigt mir wieder einmal, dass ein Mensch mit Behinderung in einigen Bereichen mehr Fähigkeiten besitzt als ein Mensch ohne Behinderung. Wie selbstverständlich nutze ich meine Hände und Finger Tag für Tag und Stunde für Stunde. Und trotzdem sind sie nicht geübt genug, um die einfachsten Dinge zu erkennen, geschweige denn Feinheiten zu erfühlen. Wie alles im Leben muss auch das trainiert und gelernt sein.

Das Deutsche Schifffahrtsmuseum ist auf unterschiedliche Arten erlebbar. Es gib Geschriebenes, Fühlbares und Sichtbares. Und da jeder von uns einzigartig ist, können wir das Museum auf unsere persönlich bevorzugte Art erkunden. Während manche gern die Beschreibungen lesen, mag ein Anderer lieber alles ausgiebig anschauen und ein Dritter muss es im wahrsten Sinne des Wortes „begreifen“.
Eine andere Art der Behinderung erfordert andere Lösungen
Annette Fischer, ebenfalls aus dem Bereich Bildung und Vermittlung, nimmt Rollstuhlfahrerinnen und -fahrer mit zur Erkundung durch das Museum. Manch einer denkt vielleicht, dass es genügt, wenn ein Fahrstuhl oder eine Rampe vorhanden sind. Das allein ist aber nicht ausreichend. Neben großen Bewegungsflächen sind unterfahrbare Exponate notwendig. Ihr habt vielleicht auch schon einmal festgestellt, dass es nicht möglich ist, vernünftig an einem Tisch sitzen, wenn ein Tischbein im Weg ist. Damit ein Mensch im Rollstuhl sitzend gerade und ohne sich zu verbiegen etwas betrachten kann, muss der Tisch unterfahrbar sein.

Ebene und spiegelnde Bereiche sind außerdem hinderlich. Gut ist es, wenn die Fläche etwas geneigt ist. Das hat das DSM im Außenbereich am Museumshafen toll umgesetzt. Die Tafeln sind kontrastreich gestaltet und schräg angebracht, sodass auch kleine Menschen und Rollstuhlfahrende den weiter oben stehenden Text lesen können. Ergänzend gibt es bildliche Darstellungen, taktile und Braille-Schrift. Vervollständigt wird das inklusive Angebot durch eine Sitzbank, auf der gern Rast gemacht und der Blick auf das Hafenbecken genossen werden kann.

Wenn Ihr das Deutsche Schifffahrtsmuseum auch auf eine ganz andere Art erkunden möchtet, besucht eine der tollen Führungen.
Führung für Menschen mit Sehbehinderung und Blinde
„Schiffswelten – Der Ozean und wir“, einstündige Tastführung am
3. August um 16:00 Uhr, 5. Oktober um 16:30 Uhr und 1. Dezember um 11:00 Uhr.
Führung, geeignet für Rollstuhl und Rollator
„Schiffswelten – Der Ozean und wir“, zweistündige Führung:
30. Juli, 21. September und 22. November jeweils um 17:00 Uhr.
Führung für Gehörlose und Hörgeschädigte
„Schiffswelten – Der Ozean und wir“, einstündige Führung mit Gebärdendolmetscher*in mit freundlicher Unterstützung vom „Inklusives Netzwerk Bremerhaven„:
4. August um 11:00 Uhr, 4. Oktober um 16:00 Uhr und 21. Dezember um 15:00 Uhr.
Führung für Menschen, die nicht ins Museum kommen können
„Lauschflut“ – Die einstündige Telefon-Führung mit freundlicher Unterstützung von Aktion Mensch macht die Schifffahrtsgeschichte damit für alle Menschen Zuhause erlebbar. Bei jeder Telefonführung steht ein besonderer Themenbereich der neuen Dauerausstellung im Mittelpunkt.
26. September „Schiffbau“, 10. Oktober „Immer weiter“ und 21. November „Forschungsschifffahrt“ jeweils um 17:45 Uhr.
Stilles Museum
Das „Stille Museum“ wendet sich gezielt an Menschen mit neurologischen Einschränkungen, Epilepsie, ADHS etc.. In dieser Zeit werden in der Ausstellung „Schiffswelten – Der Ozean und wir“ alle Geräuschquellen, Lichteffekte oder Medienstationen und Displays für zwei Stunden deaktiviert und eine reizarme Umgebung erzeugt.
9. August, 11. Oktober und 6. Dezember um 16:00 Uhr.
Familien-Führung
Bei der zweistündigen Familien-Expedition durch die Welt der Schiffe werden Museumskisten ausgepackt. Gemeinsam entdecken Kinder und (Groß-)Eltern spielerisch und interaktiv das Thema Mensch und Meer.
19. Juli um 11:00 Uhr, 20. Juli um 13:00 Uhr, 21. Juli um 11:00 Uhr, 22. Juli um 15:00 Uhr, 23. Juli um 13:00 Uhr, 11. August um 14:00 Uhr und 8. September um 14:00 Uhr.