, ,

Auswanderung ist manchmal eine Glaubensfrage

Während meines Rundgangs durch das Deutsche Auswandererhaus habe ich festgestellt, dass der Oktober ein ganz besonderer Monat aus Sicht der deutschen Migrationsgeschichte ist – sowohl […]

Frau mit Häkelmütze blickt durch eine Kamera
7. Okt. 2021
7 min Lesezeit

Während meines Rundgangs durch das Deutsche Auswandererhaus habe ich festgestellt, dass der Oktober ein ganz besonderer Monat aus Sicht der deutschen Migrationsgeschichte ist – sowohl für die Auswanderung als auch für die Einwanderung. Wusstet Ihr das?

In dem Bremerhavener Erlebnismuseum, das Ende Juni 2021 einen Neubau eröffnete und gleichzeitig seine Dauerausstellung zur historischen Auswanderung auf den neuesten wissenschaftlichen Stand gebracht hat, verfolgen die Besucher*innen anhand von realen Biographien den teils beschwerlichen Weg, den deutsche und osteuropäische Emigrant*innen im 19./20. Jahrhundert in die Neue Welt nahmen. Gleichzeitig lernen die Besucher*innen anhand persönlicher Erinnerungsstücke die Biographien von Menschen kennen, die in den vergangenen 330 Jahren nach Deutschland kamen. Während ich mich mit unserer „neuen“ Dauerausstellung beschäftige, erfahre ich, dass Ende des 17. Jahrhunderts protestantische Minderheiten die deutsche Migrationsgeschichte prägten – und das in beide Richtungen.

Aufbruch in ein neues Leben – Detailansicht im Ausstellungsraum „Grand Central Terminal“ des Deutschen Auswandererhauses. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Ilka Seer

Reges Gehen und Kommen

1685 flohen Tausende Hugenott*innen aus Frankreich in deutsche Gebiete, um hier in Frieden zu leben. Der katholische Sonnenkönig Ludwig XIV. wollte alle reformierten Christ*innen in seinem Land mit Gewalt zum Konvertieren zwingen und löste dadurch eine massenhafte Flucht aus. Alleine bis zum Jahr 1700 fanden rund 30.000 Hugenott*innen Zuflucht in „Deutschland“, viele von ihnen in Brandenburg-Preußen.

Fast zeitgleich, nur zwei Jahre zuvor, hatten zahlreiche Pietist*innen, Mennonit*innen und Quäker*innen die damaligen deutschen Länder verlassen. Sie waren von Katholik*innen und Lutheraner*innen wegen ihrer Bibelauslegung verfolgt worden und flohen – und so kam es, dass vor 338 Jahren, am 6. Oktober 1683, die erste deutsche Siedlung in den Vereinigten Staaten gegründet wurde: Germantown.

Steiniger Weg ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Ilka Seer

Von Germantown hatte ich zwar schon einmal gehört – aber wo genau liegt dieser Ort eigentlich? Gibt es ihn heute noch?

Sehnsuchtsort Pennsylvania

In der „Galerie der 7 Millionen“ des Deutschen Auswandererhauses finde ich Hintergrundinformationen – und lerne: Germantown liegt in Pennsylvania. Plötzlich poppt altes Schulwissen auf: War Pennsylvania nicht von William Penn gegründet worden? In der Tat: Der Engländer war der Namensgeber dieser britischen Kolonie in Nordamerika, die nach der Idee Penns versprechen sollte, wonach sich in Deutschland Mennonit*innen und Pietist*innen sehnten: ein gottgefälliges, friedliches Leben in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter.

An Englishman in New York … naja, nicht ganz

Um die Schulden zu begleichen, die der englische König Karl II. bei William Penns Vater gehabt hatte, erhielt William Ländereien unterhalb des Erie-Sees. Penn jr., ein überzeugter Quäker, wollte dieses Gebiet zu einem Zufluchtsort für alle diejenigen machen, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt wurden. Denn das hatte er am eigenen Leib erfahren: Als junger Mann saß er mehrmals in Haft. Die Quäker*innen waren nach dem Englischen Bürgerkrieg (1642 – 1649) mit ihren neuen Glaubensgrundsätzen an die Öffentlichkeit gegangen und wurden von der Anglikanischen Kirche, die sie als „Staatskirche“ ablehnten, und der englischen Monarchie bekämpft.

Blick in den ersten Meilenstein der „Galerie der 7 Millionen“ im Deutschen Auswandererhaus. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Ilka Seer

Stärkung des Individuums

Ähnlich kritisch betrachtete man in deutschen Ländern Ende des 17. Jahrhunderts verschiedene kleine protestantische Bewegungen. Ebenso wie bei den Quäker*innen handelte es sich bei einigen um Glaubensgemeinschaften, denen die Reformation Martin Luthers nicht weit genug ging und die das Individuum noch mehr gestärkt sehen wollten als es Luthers Bibelauslegung deutete. Sie glaubten etwa an die selbstbestimmte Taufe im Erwachsenenalter.

1677 besuchte William Penn pietistische Gemeinden entlang des Rheins, um Siedler*innen für seine sich zu diesem Zeitpunkt noch in Planung befindliche Kolonie anzuwerben. Als er abgereist war, verfolgte vor allem die Gemeinde in Frankfurt/Main die Pläne weiter: Sie gründete die „Teutsche Landkompanie“ mit dem Ziel, eine Siedlung in Nordamerika aufzubauen. Doch nicht nur Pietist*innen sollten dort aufgenommen werden, sondern auch Quäker*innen und Mennonit*innen. Man beauftragte den Juristen Franz Daniel Pastorius, die Gruppe in die 1681 gegründete Kolonie im Nordwesten der heutigen USA zu führen.

Im Deutschen Auswandererhaus „begleiten“ die Besucher*innen eine*n Auswander*in auf ihrem*seinen Weg nach Übersee – hier höre ich mir gerade die Hörstation zu Franz Daniel Pastorius in der „Galerie der 7 Millionen“ an. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien

Am 20. August 1683 landete das Segelschiff „America“ in Philadelphia. Von Bord gingen als Vorhut auch Pastorius und eine kleine Gruppe Frankfurter Glaubensflüchtlinge. Knapp zwei Monate später, am 6. Oktober, stand Pastorius dann gemeinsam mit Willam Penn am Hafen, um 33 Mennonit*innen aus Krefeld zu begrüßen, die mit der „Concord“ angelegt hatten.

Enteignung der Natives

Die nun insgesamt 42 Deutschen erwarben in Pennsylvania 16.000 Morgen Land. Das Geld, das hauptsächlich von der Frankfurter „Teutsche Landkompanie“ stammte, bekamen allerdings nicht die Natives, die die Gegend seit Jahrhunderten bewohnt hatten, sondern es floss in die neue Staatskasse. Wie ungerecht – denke ich! Umso interessanter, dass Pastorius bereits wenige Jahre später, 1688, zusammen mit deutschen und niederländischen Quäker*innen in Germantown den ersten öffentlichen Protest gegen den Sklavenhandel in Nordamerika verfasste. Darin hieß es unter anderem:

Man sagt, dass alle Menschen gleich zu behandeln seien, keine Unterschiede bei Alter, Herkunft oder Farbe zu machen seien […] Es macht keinen guten Eindruck, wenn bekannt wird, dass die Quäker mit Menschen wie mit Vieh handeln.

Deutsch-Amerikanische Verbundenheit

Während ich mir weitere Gedanken über das Verhältnis der Deutschen zu den Natives und auch zu den heutigen Amerikaner*innen mache, frage ich mich, ob die protestantischen Siedler*innen Spuren in Germantown hinterließen.

Detail aus einem Stich von Alt-Germantown. © Sammlung Deutsches Auswandererhaus

Und tatsächlich: Mehr als 300 Jahre später zeugen noch immer die verschiedenen Kirchen und die ehemals als religiöse Versammlungsräume genutzten Häuser entlang der Hauptstraße von der historischen Vielfalt der Konfessionen in der einstigen deutschen Siedlung.

An die deutsche Einwanderung in die USA, unter anderem nach Pennsylvania, erinnert alljährlich der „German-American Day“. Diesen rief der damalige US-Präsident Ronald Reagan 1983 anlässlich des 300. Jahrestages der deutschen Immigration ins Leben. Gefeiert wird der Freundschaftstag in den USA – wie soll es anders sein – am 6. Oktober, dem Gründungstag Germantowns.

Französische Spuren in Deutschland …

Und nun frage ich mich anders herum, ob auch der Einfluss der Hugenott*innen in Deutschland noch heute sichtbar ist? Klar, sofort denke ich an den Gendarmenmarkt in Berlin. Von den rund 30.000 Hugenotten, die bis 1700 nach Deutschland flohen, hatten sich etwa 20.000 in Preußens Hauptstadt niedergelassen. Hier durften sie eine französische Kirchengemeinde gründen. Neben der einstigen Französischen Kirche befindet sich seit 1785 der Französische Dom, der heute wiederum das Hugenottenmuseum Berlin beherbergt.

Empfang von Hugenott*innen durch den Großen Kurfürsten von Brandenburg um 1685. © Sammlung Deutsches Auswandererhaus

Wie kam es, dass so viele französische Protestant*innen ausgerechnet nach Berlin zogen? Dafür hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg gesorgt. Er hatte am 29. Oktober 1685 das „Edikt von Potsdam“ erlassen und den oft gut ausgebildeten Glaubensflüchtlingen in Brandenburg-Preußen neben der Religions- auch Steuerfreiheit sowie freies Bauland und Baumaterialien geboten.

Nach Brandenburg-Preußen war übrigens Hessen-Kassel der zweitgrößte Zufluchtsort für Hugenott*innen gewesen. Und auch im heutigen Bremen, Hamburg, in Süddeutschland sowie in Niedersachsen fanden hugenottische Flüchtlinge eine neue Heimat. Kurfürstin Sophie von Hannover soll damals festgestellt haben:

Der Celler Hof ist ganz verfranzt.

… und eine Spur mitten im Museum

Im Deutschen Auswandererhaus entdecke ich im neuen „Salon der Biographien II“ unter den persönlichen Erinnerungsstücken von Eingewanderten auch ein Objekt, das an eine hugenottische Familie erinnert: Es ist das filigrane Taufgeschenk, das Jeanette Connor 1890 von ihrem Taufpaten erhielt. Sie ist in sechster Generation Nachfahrin des Kammmachers Philippé Connor, der 1710 im Alter von 50 Jahren nach Berlin geflohen war. Auch heute noch lebt seine Familie in der Hauptstadt und ist in der Französischen Gemeinde aktiv. Schon erstaunlich, wie viel Geschichte sich hinter einem solch „unscheinbaren“ Objekt verbergen kann – und dass ein Erinnerungsstück wie dieses innerhalb einer Familie von unglaublichem Wert ist: steht es doch für ein Leben in Freiheit.

links: Im „Salon der Biographien II“ bewundere ich das Taufgeschenk von Jeanette Connor aus dem Jahr 1890. © Deutsches Auswandererhaus / Foto: Magdalena Gerwien
rechts: Detail des Taufgeschenkes. © Sammlung Deutsches Auswandererhaus / Foto: Stefan Volk

[bre_box title=“Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven“ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ title_color=“#FFFFFF“ radius=“5″]Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
www.dah-bremerhaven.de

März bis Oktober: Freitag-Mittwoch: 10 bis 18 Uhr, bis 31. Oktober: Donnerstag: 10-21 Uhr
November bis Februar: täglich 10-17 Uhr

Informationen zum Titelbild: Das Bild zeigt Ansichten der Stadt Germantown, die 1683 von dem Deutschen Franz Daniel Pastorius gegründet wurde. Mit ihm kam die erste Gruppe deutscher Siedler*innen, die aus 13 Quäker*innen- und Mennonit*innenfamilien aus dem Krefelder Raum bestand, nach Nordamerika. Die ursprünglich unabhängige Stadt wurde 1854 in die Stadt Philadelphia eingemeindet. © Sammlung Deutsches Auswandererhaus[/bre_box]

Frau mit Häkelmütze blickt durch eine Kamera
Ilka Seer

Pressesprecherin Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven.

In der Fremde neu anzufangen – ich kenne das Gefühl. Beruflich berichte ich von den Erfahrungen anderer. Denn Migration kann bewegende Geschichten erzählen.

Bremerhaven im Blick

Mehr aus und über Bremerhaven und Umzu …

A mehr
Detail: Sebastian Dannenberg, "EASY" edition in der Kunsthalle Bremerhaven (c) Cecilia Uckert

4 min Lesezeit21. März 2019

„Art from the Block“ – Dannenberg in der Kunsthalle Bremerhaven

Der Künstler: Sebastian Dannenberg. Seine Ausstellung 2019 in Bremerhaven: „EASY as far as we can see“: minimalistische, architekturbezogene Kunst.

M mehr
Ein cremefarbener Kinderwagen aus den 1930er oder 1940er Jahren in einer Ausstellungsvitrine

7 min Lesezeit20. Juni 2022

„Maikäfer flieg“

Man spürt es sofort: Im Deutschen Auswandererhaus erwartet die Besucher:innen etwas Besonderes. Die Räume des Museums sind in eine atmosphärische Dunkelheit getaucht, aber die Ausstellungsobjekte […]

M mehr
Moin in Bremerhaven

6 min Lesezeit6. Feb. 2020

„Moin“ sagt man in Bremerhaven

Moin! Ihr wollt zu uns an die Küste in den hohen Norden kommen, habt aber Sorgen wegen der Sprachbarriere, Sitten und Gebräuche? Heute bekommt Ihr einen Schnellkurs

N mehr
Titelbild Blogbeitrag "neue Normalität" im Zoo am Meer

7 min Lesezeit1. Juni 2020

„Neue Normalität“ im Zoo am Meer

Eine neue Normalität herrscht seit dem 8. Mai bei uns im Zoo. Nach über siebenwöchiger Schließung haben wir alle die Eröffnung herbeigesehnt. Ein Stück Normalität […]