Während meines Rundgangs durch das Deutsche Auswandererhaus habe ich festgestellt, dass der Oktober ein ganz besonderer Monat aus Sicht der deutschen Migrationsgeschichte ist – sowohl für die Auswanderung als auch für die Einwanderung. Wusstet Ihr das?
In dem Bremerhavener Erlebnismuseum, das Ende Juni 2021 einen Neubau eröffnete und gleichzeitig seine Dauerausstellung zur historischen Auswanderung auf den neuesten wissenschaftlichen Stand gebracht hat, verfolgen die Besucher*innen anhand von realen Biographien den teils beschwerlichen Weg, den deutsche und osteuropäische Emigrant*innen im 19./20. Jahrhundert in die Neue Welt nahmen. Gleichzeitig lernen die Besucher*innen anhand persönlicher Erinnerungsstücke die Biographien von Menschen kennen, die in den vergangenen 330 Jahren nach Deutschland kamen. Während ich mich mit unserer „neuen“ Dauerausstellung beschäftige, erfahre ich, dass Ende des 17. Jahrhunderts protestantische Minderheiten die deutsche Migrationsgeschichte prägten – und das in beide Richtungen.

Reges Gehen und Kommen
1685 flohen Tausende Hugenott*innen aus Frankreich in deutsche Gebiete, um hier in Frieden zu leben. Der katholische Sonnenkönig Ludwig XIV. wollte alle reformierten Christ*innen in seinem Land mit Gewalt zum Konvertieren zwingen und löste dadurch eine massenhafte Flucht aus. Alleine bis zum Jahr 1700 fanden rund 30.000 Hugenott*innen Zuflucht in „Deutschland“, viele von ihnen in Brandenburg-Preußen.
Fast zeitgleich, nur zwei Jahre zuvor, hatten zahlreiche Pietist*innen, Mennonit*innen und Quäker*innen die damaligen deutschen Länder verlassen. Sie waren von Katholik*innen und Lutheraner*innen wegen ihrer Bibelauslegung verfolgt worden und flohen – und so kam es, dass vor 338 Jahren, am 6. Oktober 1683, die erste deutsche Siedlung in den Vereinigten Staaten gegründet wurde: Germantown.

Von Germantown hatte ich zwar schon einmal gehört – aber wo genau liegt dieser Ort eigentlich? Gibt es ihn heute noch?
Sehnsuchtsort Pennsylvania
In der „Galerie der 7 Millionen“ des Deutschen Auswandererhauses finde ich Hintergrundinformationen – und lerne: Germantown liegt in Pennsylvania. Plötzlich poppt altes Schulwissen auf: War Pennsylvania nicht von William Penn gegründet worden? In der Tat: Der Engländer war der Namensgeber dieser britischen Kolonie in Nordamerika, die nach der Idee Penns versprechen sollte, wonach sich in Deutschland Mennonit*innen und Pietist*innen sehnten: ein gottgefälliges, friedliches Leben in einer Gemeinschaft Gleichgesinnter.
An Englishman in New York … naja, nicht ganz
Um die Schulden zu begleichen, die der englische König Karl II. bei William Penns Vater gehabt hatte, erhielt William Ländereien unterhalb des Erie-Sees. Penn jr., ein überzeugter Quäker, wollte dieses Gebiet zu einem Zufluchtsort für alle diejenigen machen, die aufgrund ihres Glaubens verfolgt wurden. Denn das hatte er am eigenen Leib erfahren: Als junger Mann saß er mehrmals in Haft. Die Quäker*innen waren nach dem Englischen Bürgerkrieg (1642 – 1649) mit ihren neuen Glaubensgrundsätzen an die Öffentlichkeit gegangen und wurden von der Anglikanischen Kirche, die sie als „Staatskirche“ ablehnten, und der englischen Monarchie bekämpft.

Stärkung des Individuums
Ähnlich kritisch betrachtete man in deutschen Ländern Ende des 17. Jahrhunderts verschiedene kleine protestantische Bewegungen. Ebenso wie bei den Quäker*innen handelte es sich bei einigen um Glaubensgemeinschaften, denen die Reformation Martin Luthers nicht weit genug ging und die das Individuum noch mehr gestärkt sehen wollten als es Luthers Bibelauslegung deutete. Sie glaubten etwa an die selbstbestimmte Taufe im Erwachsenenalter.
1677 besuchte William Penn pietistische Gemeinden entlang des Rheins, um Siedler*innen für seine sich zu diesem Zeitpunkt noch in Planung befindliche Kolonie anzuwerben. Als er abgereist war, verfolgte vor allem die Gemeinde in Frankfurt/Main die Pläne weiter: Sie gründete die „Teutsche Landkompanie“ mit dem Ziel, eine Siedlung in Nordamerika aufzubauen. Doch nicht nur Pietist*innen sollten dort aufgenommen werden, sondern auch Quäker*innen und Mennonit*innen. Man beauftragte den Juristen Franz Daniel Pastorius, die Gruppe in die 1681 gegründete Kolonie im Nordwesten der heutigen USA zu führen.

Am 20. August 1683 landete das Segelschiff „America“ in Philadelphia. Von Bord gingen als Vorhut auch Pastorius und eine kleine Gruppe Frankfurter Glaubensflüchtlinge. Knapp zwei Monate später, am 6. Oktober, stand Pastorius dann gemeinsam mit Willam Penn am Hafen, um 33 Mennonit*innen aus Krefeld zu begrüßen, die mit der „Concord“ angelegt hatten.
Enteignung der Natives
Die nun insgesamt 42 Deutschen erwarben in Pennsylvania 16.000 Morgen Land. Das Geld, das hauptsächlich von der Frankfurter „Teutsche Landkompanie“ stammte, bekamen allerdings nicht die Natives, die die Gegend seit Jahrhunderten bewohnt hatten, sondern es floss in die neue Staatskasse. Wie ungerecht – denke ich! Umso interessanter, dass Pastorius bereits wenige Jahre später, 1688, zusammen mit deutschen und niederländischen Quäker*innen in Germantown den ersten öffentlichen Protest gegen den Sklavenhandel in Nordamerika verfasste. Darin hieß es unter anderem:
Man sagt, dass alle Menschen gleich zu behandeln seien, keine Unterschiede bei Alter, Herkunft oder Farbe zu machen seien […] Es macht keinen guten Eindruck, wenn bekannt wird, dass die Quäker mit Menschen wie mit Vieh handeln.
Deutsch-Amerikanische Verbundenheit
Während ich mir weitere Gedanken über das Verhältnis der Deutschen zu den Natives und auch zu den heutigen Amerikaner*innen mache, frage ich mich, ob die protestantischen Siedler*innen Spuren in Germantown hinterließen.

Und tatsächlich: Mehr als 300 Jahre später zeugen noch immer die verschiedenen Kirchen und die ehemals als religiöse Versammlungsräume genutzten Häuser entlang der Hauptstraße von der historischen Vielfalt der Konfessionen in der einstigen deutschen Siedlung.
An die deutsche Einwanderung in die USA, unter anderem nach Pennsylvania, erinnert alljährlich der „German-American Day“. Diesen rief der damalige US-Präsident Ronald Reagan 1983 anlässlich des 300. Jahrestages der deutschen Immigration ins Leben. Gefeiert wird der Freundschaftstag in den USA – wie soll es anders sein – am 6. Oktober, dem Gründungstag Germantowns.
Französische Spuren in Deutschland …
Und nun frage ich mich anders herum, ob auch der Einfluss der Hugenott*innen in Deutschland noch heute sichtbar ist? Klar, sofort denke ich an den Gendarmenmarkt in Berlin. Von den rund 30.000 Hugenotten, die bis 1700 nach Deutschland flohen, hatten sich etwa 20.000 in Preußens Hauptstadt niedergelassen. Hier durften sie eine französische Kirchengemeinde gründen. Neben der einstigen Französischen Kirche befindet sich seit 1785 der Französische Dom, der heute wiederum das Hugenottenmuseum Berlin beherbergt.

Wie kam es, dass so viele französische Protestant*innen ausgerechnet nach Berlin zogen? Dafür hatte Kurfürst Friedrich Wilhelm von Brandenburg gesorgt. Er hatte am 29. Oktober 1685 das „Edikt von Potsdam“ erlassen und den oft gut ausgebildeten Glaubensflüchtlingen in Brandenburg-Preußen neben der Religions- auch Steuerfreiheit sowie freies Bauland und Baumaterialien geboten.
Nach Brandenburg-Preußen war übrigens Hessen-Kassel der zweitgrößte Zufluchtsort für Hugenott*innen gewesen. Und auch im heutigen Bremen, Hamburg, in Süddeutschland sowie in Niedersachsen fanden hugenottische Flüchtlinge eine neue Heimat. Kurfürstin Sophie von Hannover soll damals festgestellt haben:
Der Celler Hof ist ganz verfranzt.
… und eine Spur mitten im Museum
Im Deutschen Auswandererhaus entdecke ich im neuen „Salon der Biographien II“ unter den persönlichen Erinnerungsstücken von Eingewanderten auch ein Objekt, das an eine hugenottische Familie erinnert: Es ist das filigrane Taufgeschenk, das Jeanette Connor 1890 von ihrem Taufpaten erhielt. Sie ist in sechster Generation Nachfahrin des Kammmachers Philippé Connor, der 1710 im Alter von 50 Jahren nach Berlin geflohen war. Auch heute noch lebt seine Familie in der Hauptstadt und ist in der Französischen Gemeinde aktiv. Schon erstaunlich, wie viel Geschichte sich hinter einem solch „unscheinbaren“ Objekt verbergen kann – und dass ein Erinnerungsstück wie dieses innerhalb einer Familie von unglaublichem Wert ist: steht es doch für ein Leben in Freiheit.

rechts: Detail des Taufgeschenkes. © Sammlung Deutsches Auswandererhaus / Foto: Stefan Volk
[bre_box title=“Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven“ style=“soft“ box_color=“#002c4c“ title_color=“#FFFFFF“ radius=“5″]Columbusstraße 65, 27568 Bremerhaven
Tel.: 0471 / 90 22 0 – 0, E-Mail: info@dah-bremerhaven.de
www.dah-bremerhaven.de
März bis Oktober: Freitag-Mittwoch: 10 bis 18 Uhr, bis 31. Oktober: Donnerstag: 10-21 Uhr
November bis Februar: täglich 10-17 Uhr
Informationen zum Titelbild: Das Bild zeigt Ansichten der Stadt Germantown, die 1683 von dem Deutschen Franz Daniel Pastorius gegründet wurde. Mit ihm kam die erste Gruppe deutscher Siedler*innen, die aus 13 Quäker*innen- und Mennonit*innenfamilien aus dem Krefelder Raum bestand, nach Nordamerika. Die ursprünglich unabhängige Stadt wurde 1854 in die Stadt Philadelphia eingemeindet. © Sammlung Deutsches Auswandererhaus[/bre_box]