„Die Bremer Stadtmusikanten“ und Migration. Oder überhaupt: Märchen und Migration. Wie passt das zusammen? Eine Frage, mit der ich mich innerhalb meines dreimonatigen Praktikums im Deutschen Auswandererhaus intensiv beschäftigt habe. Anlass, sich überhaupt mit diesem Thema auseinanderzusetzen, ist der 200. Geburtstag der Bremer Stadtmusikanten in diesem Jahr. Erstmals wurden „Die Bremer Stadtmusikanten“ der Brüder Grimm 1819 in den Kinder- und Hausmärchen veröffentlicht. Das Märchen handelt von vier altersbedingt ausrangierten Tieren, die fortlaufen, um sich als Stadtmusikanten in Bremen zu versuchen. Allerdings kommen sie dort niemals an. Anhand dieser kleinen Zusammenfassung erkennt man bereits: Hier findet sich das Thema Migration! Ich stürzte mich nun also in meine Recherchearbeit, um mehr über die Bremer Stadtmusikanten, die Brüder Grimm und Märchen im Allgemeinen herauszufinden. All diese Informationen verarbeitete ich in einer Mindmap. Für mich begann damit selbst eine Reise in eine aufregende Märchenwelt, die mir einen ganz neuen Zugang zur Wirklichkeit eröffnete.
„Etwas Besseres als den Tod…“
Bevor ich allerdings richtig mit meiner Recherchearbeit loslegen konnte, musste ich mir „Die Bremer Stadtmusikanten“ zunächst wieder ins Gedächtnis rufen. Denn obwohl ich neben Geschichte Germanistik studiere, war mir das Märchen nicht mehr ganz präsent. Nachdem ich das Märchen also noch einmal Revue passieren ließ, erschien mir ein Satz besonders markant: „Etwas Besseres als den Tod findest du überall.“ Ein Ausspruch, der, wie ich finde, so auch auf die Situation vieler damaliger Auswanderer gepasst hätte. Im 19. Jahrhundert waren es für die meisten deutschen Auswanderer oftmals wirtschaftliche Gründe, weshalb sie die Heimat verließen und in einem neuen Land ein neues Leben begannen. Später, im 20. Jahrhundert waren es dann nicht nur wirtschaftliche Gründe, sondern auch ethnische und politische Verfolgungen, die die Auswanderer dazu getrieben hatten, das eigene Land zu verlassen. Nach dieser Erkenntnis stellte sich mir nun die Frage, wie es bei den anderen Märchen der Brüder Grimm aussieht; kann man auch dort die Verbindung zu Migration und den Auswanderern ziehen?
„Märchenlieferanten“ zwischen Frankreich und Deutschland
Lange suchen musste ich nicht. Schnell fand ich heraus, dass die Märchen an sich schon einen langen Weg zu den Grimms zurückgelegt hatten. Denn nicht die Brüder sind in die Welt ausgezogen und haben die Märchen gesammelt, sondern sie wurden Jacob und Wilhelm Grimm von verschiedenen Zuträgern quasi in die Stube geliefert. Durch diese verschiedenen Zuträger hatte jedes Märchen seinen ganz eigenen Ursprung. Eine Zuträgerin war Dorothea Viehmann. Sie schöpfte bei ihren Geschichten aus dem hugenottischen Erzählrepertoire ihrer Vorfahren. Ihre Erzählungen enthielten also französische Wurzeln. Ebenso verhielt es sich bei der Familie Hassenpflug, deren Großmutter aus der französischen Schweiz nach Hanau eingewandert war. Sie kannten demnach nur französische Märchen. Ihre Überlieferungen stammten größtenteils von Charles Perrault, einem französischen Schriftsteller aus dem 17. Jahrhundert. Allerdings stimmten diese Märchen nicht mehr mit der Urfassung überein. Da damals hauptsächlich mündlich tradiert wurde, waren kleine Veränderungen bei den Überlieferungen unumgänglich.
Insgesamt hatte diese Tatsache aber etwas sehr Ironisches an sich… Der Plan der Brüder Grimm bestand nämlich zunächst darin, das deutsche Kulturgut von der französischen „Überfremdung“ zu befreien. Mit der Aufnahme der ursprünglich französischen Märchen in ihre Sammlung trugen sie aber gerade dazu bei, dass diese Märchen nun mit ins deutsche Kulturgut einflossen. Denn wer kennt heute nicht die Geschichten von Rotkäppchen und dem Wolf oder Aschenputtel mit dem verlorenen Schuh? Bereits 1816/1817 wurden die Kinder- und Hausmärchen übersetzt und in der Welt verbreitet. Heute sind sie oft Schulunterrichtsstoff – und das nicht nur in Deutschland, sondern auch in Japan oder in den USA.
Gefährliche Überfahrt mit Strohhalm, Kohle und Bohne
Nach dieser interessanten Entdeckung las ich mich weiter in die Märchenwelt der Grimms ein. Dabei entdeckte ich Geschichten, die mir zuvor noch gar nicht bekannt gewesen waren. Unter anderem die kurze Erzählung „Strohhalm, Kohle und Bohne“. Auch hier entkommen die drei Protagonisten nur knapp dem Tod und wollen, wortwörtlich, auswandern. Leider kommen sie nicht besonders weit. An einer Bachüberquerung finden der Strohhalm und die Kohle schnell ihren Tod. Lediglich die Bohne kann sich durch ein wenig Glück retten.
Beim Lesen dieser Geschichte fühlte ich mich unwillkürlich in den Raum der Überfahrt im Deutschen Auswandererhaus versetzt. Insbesondere in den Raum des Segelschiffs „Bremen“ konnte man eine Deutung hineinlegen: Am Anfang des 19. Jahrhunderts waren weder die technischen Möglichkeiten noch die hygienischen Bedingungen so weit ausgereift, dass jeder die Überfahrt überlebte. Es herrschten Zustände, die wir uns heute kaum noch vorstellen können. Für die Menschen damals war es jedoch Realität. Mit der Überfahrt nahmen sie ein großes Risiko auf sich und hofften, in der Neuen Welt eine Heimat zu finden.
Märchen verbinden – weltweit
Im Laufe der Zeit studierte ich immer mehr Märchen und musste feststellen: Es wurden nicht nur Traumwelten dargestellt. Die Protagonisten schafften es oft nur durch viel Glück an ihr Ziel und selbst dann blieb die Frage offen, ob sie wirklich glücklich waren. Welche Lehre kann man schließlich daraus ziehen? Denn sicher ist, aus jedem Märchen kann man je auf seine Weise eine Lehre ziehen. Dies war von den Grimms zwar vorher nicht so gedacht gewesen – schließlich waren die Märchen anfangs nicht einmal für Kinder vorgesehen. Das erklärt auch den brutalen Inhalt vieler Märchen, die allerdings schon mit der zweiten Auflage der Kinder- und Hausmärchen abgemildert wurde. Allerdings vermitteln die Märchen damals wie heute gewisse Werte. Und diese Werte sind nicht nur auf Deutschland begrenzt, sondern sind weltweit wiederzufinden. Man kann also sagen, dass diese Geschichten, diese Märchen, grenzüberschreitend sind. Mit ihnen wurde ein verbindendes Element geschaffen, welches überall auf der Welt wiederzufinden ist. Dafür müssen wir nur an die zahlreichen Adaptionen denken. Für mich ist diese Feststellung sehr faszinierend. Allein die Vorstellung, überall auf der Welt, in der Fremde, ein Stück Heimat zu finden, hat etwas Beruhigendes.
Für mich ist klar: Dies war nicht mein letzter Ausflug in die Märchenwelt. Es gibt noch vieles zu entdecken, was man in unsere heutige Zeit übertragen kann. Inwiefern? Das gilt es herauszufinden.
Von Julia Pelke, Oldenburg
Anlässlich des 200. Geburtstags der Bremer Stadtmusikanten beteiligt sich das Deutsche Auswandererhaus am Bremer Stadtmusikantensommer, der vom 3. März bis zum 30. September stattfindet. Unter anderem können Familien bei den Märchenführungen Grimms Märchen als „Migrationsgeschichten“ neu entdecken. Und am Weltflüchtlingstag (20. Juni) erfahren die Besucher mehr darüber, welche Märchen die Familie Koto 2014 begleiteten, als sie von Syrien nach Deutschland flüchtete. Weitere Informationen unter https://dah-bremerhaven.de/stadtmusikanten.
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