Das Regal fällt mir als erstes ins Auge. Es ist vollgepackt mit alten Büchern, Dokumentenstapeln, Fläschchen mit Medizin und ausgestopften Tieren. Ich stehe in einem bürgerlichen Wohnzimmer, wie es vor etwa hundert Jahren ausgesehen haben könnte. Vielleicht hat ja August Schlicht einmal in einem ähnlichen Wohnzimmer gelebt? Über ihn und seine Zeit der Kriegsgefangenschaft möchte ich im Ausstellungsexperiment „KRIEGsgefangen. OHNMACHT. SEHNSUCHT. 1914-1921“ des Deutschen Auswandererhauses mehr herausfinden. Mit Hilfe von Fotos, Ausstellungstexten, Originalbriefen – und Virtual Reality. Doch dazu später mehr.
Jetzt fällt mein Blick erst einmal auf ein Foto von August Schlicht mit seiner Familie. Das war im Hamburg des Jahres 1911. Er arbeitete damals als Zahnarzt, seine Frau Tony hatte er vier Jahre zuvor geheiratet, und seine Tochter Hildegard Anne-Marie war 1908 geboren worden. Niemand weiß, wie ihre Wohnung damals aussah. Aber vielleicht, so sehe ich es vor meinem inneren Auge, saß er damals auf einem ähnlichen grünen Sofa wie dem, das gerade vor mir steht, hörte dabei etwas Musik aus dem Grammophon und sah seiner Tochter beim Spielen auf dem Schaukelpferd zu. Der Krieg war jedenfalls noch weit weg – und selbst bei Kriegsbeginn im Sommer 1914 ahnten wahrscheinlich nur wenige, welche verheerenden Folgen die nächsten vier Jahre für ganz Europa haben würden. August Schlicht jedenfalls geriet schon kurz nach Kriegsbeginn in russische Kriegsgefangenschaft – und das stellte das Leben der gesamten Familie auf den Kopf.
Zwischen Krieg und Wohnstube
Seine Frau war jetzt auf sich allein gestellt. Vieles, was August Schlicht vorher selbstverständlich erledigt hatte, fiel nun ihr zu, zum Beispiel Bankgeschäfte. Neben dem grünen Sofa schauen mir auf Fotos Kriegsgefangene in Sibirien entgegen. Schlichts Frau hatte damals noch nicht einmal Fotos, um sich ein Bild davon zu machen, wie es ihrem Mann in der Ferne erging. Und die Feldpost, so lese ich, brauchte Wochen, wenn nicht sogar Monate, um ihre Empfänger zu erreichen. Vielleicht saß sie ja nun mit ihrer Tochter auf dem Sofa, hörte die Musik, die er gehört hatte, blätterte durch die Bücher, die er gelesen hatte. Der Krieg und damit die Sorge nach ihrem Mann hielten in der bürgerlichen Wohnstube Einzug – und auch ich erfahre dort mehr über das Schicksal der Kriegsgefangenen und das Leben der Bevölkerung in Deutschland. Aber wie erging es August Schlicht? Ohnmacht und Sehnsucht sprechen aus seinen Briefen in der Kriegsgefangenschaft. Einige von ihnen werden in kleineren Räumen der Ausstellung präsentiert. In anderen Räumen werden die gleichen Erfahrungen durch Virtual Reality-Anwendungen vermittelt. So soll das Ausstellungsexperiment darüber Auskunft geben, inwiefern Besucher die gleichen Inhalte mit Virtual Reality anders erleben als mit Originalobjekten.
Sehnsucht in Sibirien
Ich bin neugierig auf die Virtual Reality-Anwendungen und begebe ich mich in einen fast schon futuristisch anmutenden Raum. Neben zwei gelben Stühlen stehen Bildschirme, über ihnen hängen Virtual Reality-Brillen. Ich setze eine auf – und finde mich in einer kargen sibirischen Landschaft wieder. Der Kontrast zum bürgerlichen Wohnzimmer, angefüllt mit wertvollen Gegenständen, könnte kaum größer sein. Für August Schlicht geht es jetzt um das Allernötigste, und sei es nur eine Mütze. Er fragt, wie es wohl seiner Tochter geht? Sie verbringt schließlich den größten Teil ihrer Kindheit ohne ihren Vater. Er bittet um Fotos, weil die Erinnerungen an seine Familie verblassen. Wahrscheinlich, denke ich, verbrachten August und Tony Schlicht damals beide viel Zeit mit sehnsüchtigem Warten. Warten auf Briefe, um sich zumindest ein rudimentäres Bild vom Leben des anderen zu machen…
Erst im Jahr 1921 kehrte August Schlicht wieder zurück. Zurück in der Wohnstube erfahre ich mehr über seine Aufzeichnungen aus der Kriegsgefangenschaft, die er nach dem Ersten Weltkrieg publizierte. In der Ausstellung kam ich ihm nah und blieb ihm doch auch fern. Vielleicht wie seine Frau Tony, im mit Erinnerungen angefüllten Wohnzimmer in Hamburg.
Martina Wenk
Sehr schönes Experiment, es gibt nun auch ein gutes Making-of Video der Ausstellung https://www.youtube.com/watch?v=U3Ahsb76_ww
Iria Sorge-Röder
Schön, dass Ihnen das Ausstellungsexperiment gefällt! Auf dem Youtube-Kanal des Deutschen Auswandererhauses findet sich außerdem auch eine Videoserie, in der die Ausstellungsmacher mehr über das Konzept von „KRIEGsgefangen. OHNMACHT. SEHNSUCHT. 1914-1921“ verraten.